Erschüttere uns, Theater!

21. August 2014. Für die Berliner Zeitung (16./17.8.2014, in der Frankfurter Rundschau am26.8.2014) hat Arno Widmann mit dem Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann gesprochen – über Drama, Tragödie und die Institution Stadttheater. "Das Tragische ist keine Lebensrealität", sondern "eine Perspektive, unter der wir das Leben betrachten", so Lehmann. "Es ist eine künstlerische Form. Die Geschichte von König Lear können Sie auch ganz ohne Tragik erzählen, etwa als Groteske." Man nenne "Natur- und persönliche Katastrophen" im Alltag deshalb oft "tragisch", "weil es einen Echoraum tragischer Kunst gibt". "Zur tragischen Erfahrung" könnten Erfahrungen von Schmerz, Leid, Scheitern "erst durch eine pointierte, ästhetische Formulierung werden."

Lehmann kritisiert, dass die "Theorie der Tragödie" seit Jahrhunderten so geschrieben werde, "als habe es niemals ein Theater gegeben", obwohl die Tragödie ursprünglich doch "eine Theaterwirklichkeit" war. Die "spezifisch europäische Konstellation 'dramatisches Theater'" sei  in der Renaissance entstanden und gebunden "an spezifische Formen, den Menschen, sein Handeln, seine Identität zu denken. Ich bin davon überzeugt, dass das ein auslaufendes Modell ist."

Zentral am Theater sei das Wüten der Affekte, das die Zuschauer "in ihrem Vernunftglauben" erschüttere. Shakespeare etwa demontiere das elisabethanische Weltbild, indem er zeigt: "Die Könige funktionieren nie gut. Alles zerbricht." Für Lehmann ist "eine solche Erschütterung (...) auch heute die Aufgabe des Theaters." Nicht das solle auf die Bühne gebracht werden, "was wir ohnehin jeden Tag sehen". "Politisch ist das Theater, wenn es unsere Kategorien verunsichert." Es gehe um "Überschreitung" und "Exzess", um "Ausbrüche ins Unbekannte, ins Noch-Nicht-Ausprobierte", die notwendig "auf ein Desaster" hinauslaufen – eben "die Erfahrung des Tragischen". Es gebe "keine bedeutende Kunst ohne eine Transgression." Wenn es "nur um das ginge, was unser Verstand begreifen kann, dann könnten wir es bei den Begriffen belassen. Dann brauchten wir das Theater, seine Körperlichkeit, seine Gegenwart nicht."

Widmanns Frage, ob "eine Gesellschaft wirklich die Überschreitung ihrer Normen subventionieren" könne, stellt sich für Lehmann heute hinsichtlich des Stadttheaters. "Die Institution des Stadttheaters hat sich möglicherweise überlebt. Ich glaube allerdings nicht, dass sie von heute auf morgen verschwinden wird." Zum Theater gehöre, dass es sich "außerästhetischen Erfahrungen öffnet. Wo es nur Kunst ist, stirbt es." Diese "Unterbrechung des Ästhetischen" sei zentral für ein tragisches Theater, dürfe aber "nicht selbst bloß ein ästhetischer Effekt sein." Deshalb müsse sich die Institution Theater heute selbst infrage stellen, "der Rahmen, indem wir das Infragestellen bisher praktizieren."

(ape)

 

Alles zur aktuellen Stadttheaterdebatte finden Sie in unserem Dossier zum Thema.

Für das Festivalportal von nachtkritik.de zum Heidelberger Stückemarkt dachte Hans-Thies Lehmann im April 2014 in einem Essay darüber nach, wie sich die Stellung des Dramatikers im Zeitalter des Postdramatischen verändert hat.

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