Der Aff ist Soldat

von André Mumot

Berlin, 6. September 2014. Es können nicht nur die Erbsen schuld sein. Diesmal nicht. Auch dieser Woyzeck bekommt sie eingeflößt, in grüner Suppenform, und an seiner Unterhose kann man die blutigen Durchfallspuren sehen, die das nach sich zieht. Nein, das ist nicht schön, aber es gibt noch andere Gründe für seinen Amoklauf. Und man muss auch nicht sehr lange nach ihnen suchen auf der Bühne des Berliner Ensembles.

Denn während Franz Woyzeck, Füsilier im zweiten Regiment des zweiten Bataillons irgendeiner vierten Kompanie, noch einmal splitterfasernackt über seine untreue Marie herfällt, sie vergewaltigt und mit dem Messer absticht, wieder und wieder, erwacht die traute Mooslandschaft um ihn herum zum Leben. Was eben noch grüner Untergrund war, entpuppt sich als Ansammlung seiner perfekt getarnten Kameraden, und was eben noch die fatale Privatangelegenheit eines Einzelnen war, ist schon im nächsten Moment die zügellose Eskalation einer ganzen Truppe.

Gut bezahlte Verrohung

Was hier geschieht, wird man so schnell nicht vergessen: Wie alles ineinander greift, Drill und Mord, wie das "Subjekt Woyzeck" eintaucht ins Heer, in die Waffenübungen, dann zurückkehrt zur Marie und weiter auf sie einsticht, dann Liegestützte macht, dann wieder der längst Toten zu Leibe rückt, und wie sich schließlich die anderen um ihn herumstellen und ihn anfeuern, "Woyzeck!" rufen, immer wieder "Woyzeck" – zu jedem Stich.

Nichts ist leichter, nichts gedankenfauler, als Büchners "Hirnwütigen" heute noch zum simplen Opfer einer menschenverachtenden, ausbeuterischen Elite zu machen. Bei Leander Haußmann aber sind Hauptmann (Boris Jacoby) und Ärztin (Traute Hoess) keine knarzenden, bösartigen Autoritätsfiguren, sondern hilf- und planlose, traurig-komische Melancholiker. Nein, es sind nicht bloß die Erbsen, es ist die innere Logik des Soldatenberufs, die hier ihre ungewünschten Konsequenzen entfaltet – die kalkulierte, gut bezahlte Verrohung, die Notwendigkeit, nie ganz man selbst, immer Teil des größeren Ganzen sein zu müssen, die verordnete Gewaltbereitschaft.

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Um dies zu illustrieren, stehen dann auch tatsächlich rund dreißig Soldatinnen und Soldaten in authentischer Bundeswehrmontur auf der Bühne, marschieren mit donnernden Schritten, absolvieren ihre Übungen, umkreisen Johanna Griebels schluchzende, verzweiflungslüsterne Marie, treiben ihr den Tambourmajor (Luca Schaub) zu und nehmen immer wieder den Woyzeck in ihre schützende Mitte.

Lachen und Wegschauen, Weinen und Haareraufen

Subtil ist das nicht, ganz und gar nicht, aber es hat eine Wucht, die immer wieder den Atem raubt. Dass Leander Haußmann, bekanntlich arrivierter Filmerfolgsregisseur, nach längerer Abstinenz doch wieder beschloss, fürs Theater zu inszenieren, stellt sich nach einem unrühmlichen Ibsen-Desaster 2011 an der Volksbühne mehr und mehr als gute Idee heraus. Der kürzlich im Berliner Ensemble entstandene Hamlet hat bereits größere Hoffnungen geweckt, dieser Büchner-Abend aber ist nun endgültig zur triumphalen Vitalitäts- und Ideenexplosion geworden. Kein grüblerisches, schon gar kein ironisch distanziertes Gedankentheater ist die Folge, stattdessen eine furios aufregende Verlebendigung, ein ungebremstes Zeigen-, Fühlen-, Auskosten-Wollen von Figuren, Szenen, von Musik und Nebel und Tricks, von sich selbst aufblasenden Zelten, die Taschenlampen-Augen haben, von Körpern, Tränen, Schüssen, von allem, was sich selbst erklärt, weil es einfach da ist. Und wie es da ist!

Keinen kleinen Anteil daran hat Peter Miklusz, dessen Woyzeck jung und staunend in den Untergang stolpert, ein verlorener Schütze Arsch, der panisch, aber aufmerksam auf die Stimmen seiner Schizophrenie lauscht und sich schließlich mit fliegenden Fahnen in den eigene Wahnsinn stürzt. Dann umtänzelt er zu Rossinis obligatorischer "Figaro"-Arie seinen Hauptmann, rasiert ihn nicht bloß, sondern macht ihn, wo er schon mal dabei ist, gleich noch einen Kopf kürzer, erwürgt und zerhackt ihn, was er aber achselzuckend überlebt, sodass auch der Zuschauer nicht mehr weiß, wo ihm in dieser grotesken Alptraumvision der Kopf steht, weil alles gleichzeitig zum Lachen und zum Wegschauen, zum Weinen und zum Haareraufen ist.

Wiedergänger im Affenkostüm

Haußmann hat das unbarmherzige, gänzlich illusionslose Büchner-Fragment aufmerksam studiert und stets beim Wort genommen. Deshalb gehen in den stärksten Momenten auch Militär und Jahrmarkt fließend ineinander über. Deshalb saufen und lottern und prügeln sich die Soldaten, deren Seelen "nach Branndewein" stinken, und lassen sich zu den Peitschenschlägen von Marktschreierin Traute Hoess auf der schwarz-schlichten Bühne wie dressierte Pferde im Kreis herumführen. Um noch eins draufzusetzen, hat sie den kleinwüchsigen Schauspieler Peter Luppa dabei, der in einem täuschend echten Affenkostüm steckt – ein hinreißend unbeeindruckter Wiedergänger Woyzecks, der gleichmütig aus seiner Bierdose trinkt, seine Banane isst, später auch in Uniform steckt und stolz sein Gewehr präsentiert, vor allem aber das Glück hat, sich nicht zu viele Gedanken machen zu müssen: "Geht aufrecht, hat Rock und Hosen, hat ein' Säbel! Der Aff ist Soldat."

Grob und vordergründig kann das sein – aber auch das hat seine guten Gründe, da uns die Kriegseinsätze immer näher kommen und zwar in recht grober und vordergründiger Weise. Doch es geht auch anders, immer wieder: Dann steckt in diesem Abend eine Zärtlichkeit, die tiefer gar nicht gehen könnte. Ein ewiges, schmalzdickes "Blue Bayou" fällt über die Welt, und die Soldaten besteigen bunte Ballontiere zu einer Karussellfahrt in Slow Motion – eine derart perfekt choreografierte Slow Motion hat das Theater selten, vielleicht noch nie gesehen. Die Marie jedenfalls lässt sich mit dem Tambourmajor davontreiben, und Woyzeck bleibt zurück. Und während ihm die Windmaschine seine zwei Portionen Zuckerwatte erbarmungslos zerfetzt, dreht sich im Berliner Ensemble die Bühne weiter, dreht sich auf die Katastrophe zu und macht großes, ja, wirklich großes Theater.

 

Woyzeck
von Georg Büchner
Regie und Bühne: Leander Haußmann, Kostüme: Janina Brinkmann, Dramaturgie: Steffen Sünkel, Ausbilder der Soldaten: Rainer Clemens.
Mit: Peter Miklusz, Johanna Griebel, Luca Schwab, Raphael Dwinger, Antonia Bill, Traute Hoess, Peter Luppa, Boris Jacoby, Marko Schmidt, Matthias Mosbach, Marvin Schulze, Felix Lüke, Hannes Lindenblatt; und den Soldatinnen und Soldaten: Sharon Joy Liedke, Carmen Romero Velasco, Heidrun Schug; Rainer Clemens, Riccardo Drews, Mario Erbherr, Oliver Gabbert, Thomas Göhing, Marcus Hahn, Raik Hampel, Bjoern Jarkowski, Franz Jarkowski, Carsten Kaltner, Robert Landschek, Marc Lippert, Paul Marwitz, Detlef Matthes, Haiko Neumann, Valentin Olbrich, David Pino Moraga, Alexander Petau, Michel Podwojski, Nils Rech, Benjamin Schwarweit, Thomas Schenk, Mathias Schlicht, Ralf Tempel, Christian Tiedge, Dietmar Lukas Treiber, Jan Wirdeier.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Mehr Theater-Inszenierungen von Leander Haußmann: Die Möwe (2014), Hamlet (2013), Rosmersholm (2011), Der kleine Bruder (2009)

 

Kritikenrundschau

In der Berliner Morgenpost (7.9.2014) schreibt Georg Kasch: "Starke, oft eigenwillige Setzungen sind das, die merkwürdig mit Woyzecks Liebesdrama kontrastieren, in denen der Aus-Versehen-Philosoph zum braven GI und freundlichen Idioten schrumpft." Die Schauspieler würden mit Büchners "dialektgefärbter, expressionistischer Sprache" eher fremdeln: "Offensichtlich will Haußmann den Ton runterkühlen ins Heute. Aber das geht schief." Der Brecht'sche Schluss sei dann wieder toll, "nach einigen Durststrecken in den zwei pausenlosen Stunden, weil sich Büchner mit tollen Bildern allein nicht erzählen lässt".

"Leider nicht so richtig gelungen" findet Ulrich Seidler Haußmanns Woyzeck in der Berliner Zeitung (8.9.2014). Es gebe schon "rührende und kraftvoll-pathetische Momente", aber im großen und ganzen würden sie überdeckt von cooler Verhaltenheit, lockerer Ausinszenierung von Um-die-Ecke-Denkereien, Ironie. "Je weniger Haußmann dem Kitsch und dem Pathos ausweicht, desto näher rückt er der Verzweiflung über die menschengemachte Barbarei, die aus den Woyzeck-Fragmenten Büchners schreit, aus den Abgründen der Sprachlosigkeit", so Seidler. "Wie schnell sind sie zugeplappert, verdrängt und vergessen!"

Haußmann deute das Drama "ziemlich plausibel" aus dem militärischen Stückaspekt heraus und finde Woyzecks Aktualität im zeitlos-gegenwärtigen Kriegszustand, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (8.9.2014). Die Inszenierung sei "deutlich und plakativ", stehe aber sympathischerweise auch völlig dazu und entwickele tatsächlich eine emotionale Kraft, "die bessere Hollywood-Assoziationen weckt".

Haußmann liefere "das Psychogramm des gedrillten Soldaten", schreibt Michael Laages in der Welt (8.9.2014), der die Arbeit über weite Strecken "sehr ansehenswert" findet; "gröber und frecher und rabiater als übliche BE-Kost ist sie in jedem Fall". Haußmann tue sich zwar schwer mit Büchners Material in der, nach Ansicht des Kritikers bei der Premiere, "noch ziemlich unfertigen" Aufführung. Doch die Grundidee sei "komplex und überzeugend". Die Inszenierung "kommt einigen der ewigen Rätsel in Büchners sperrigem Klassiker ernstlich auf die Spur".

"Leander Haußmann, der wahrlich auch anders kann, setzt sich diesmal sehr sanft mit allen Figuren, vor allem aber verständnisvoll mit dem Dichter auseinander", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.9.2014). Heraus komme eine Inszenierung, "so komisch wie virtuos und trotz der famosen Verrücktheit eng am Drama entwickelt". "Trotz ein paar Popsongs und Details wie Mickymaus-Ballons auf dem Jahrmarkt dürfen Büchners 'arme Leu' fern bei sich in ihrem Schmerz bleiben – und kommen uns doch auf erstaunlich heutige Weise nahe."

"Eindrucksvoll" findet Ute Büsing vom Inforadio des rbb (7.9.2014) Haußmanns martialische Bilder für Woyzecks Psychogramm. "Haußmann folgt dem Woyzeck-Fragment, in dem er die einfachen Leute gelegentlich Dialekt sprechen lässt und er teilt durchaus deutlich Büchners Sympathie für die geschundene Kreatur und schafft ihr hier in einem zweistündigen Bilderbogen eine poetische Gegenwelt."

"Militärgetue", das kaum mehr als "aufgesetzter Effekt" sei, hat Peter Hans Göpfert vom Kulturradio des rbb (8.9.2014) im BE erlebt. "Die Manöver dieses Bataillonsballetts sind zwar wuchtig und effektvoll. Aber sie lehren niemanden das Fürchten. Leander Haußmann ist nun mal nicht der Mann für Gesellschaftskritik und existentielle Verzweiflung." Die Inszenierung versuche, "auf poetische oder obsessive Traumbilder zu setzen", aber sie lasse "die einzelnen Rollen nicht prägnant hervortreten", wobei der Kritiker hinzufügt: "Ohnehin stand der Aufführung keine, auch sprachlich, starke Besetzung zur Verfügung."

Als "Anti-Kriegsdrama" habe Haußmann den "Woyzeck" inszeniert, schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (9.9.2014). Er "pathologisiert nicht den Protagonisten, sondern die Gesellschaft". Der Ansatz sei im Kontext jüngster Bundeswehrskandale zwar nicht subtil, aber doch "eindrucksvoll". Haußmann entwerfe "poetische, manchmal auch trashige Bilder", arrangiere die Fragment-Folge um und choreographiere "wunderschöne Slow-Motion-Szenen". Auch "wenn nicht jeder Regieeinfall zündet", entstehe so "eine packende Lesart des Stoffes".

Kommentare  
Woyzeck, Berlin: zwei Vergleiche
Interessante Parallelen zu zwei ebenfalls epochalen Woyzeck-Aufführungen. Die eine von Dezember 2000 am Schauspiel Köln, damals ebenfalls mit Traute Hoess:

http://www.genios.de/presse-archiv/artikel/FAZ/20001213/zack-zack-woyzeck-militaerisch-bera/FD120001213706283.html

Und die andere am Bochumer Schauspielhaus aus dem Jahr 1980:

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14331339.html

Schön, dass bestimmte Aufführungstraditionen nicht aussterben.
Woyzeck, Berlin: erfolgreich eingedampft
Ich sah die öffentliche Probe, der erste Teil dauerte noch über zwei Stunden. Eines war klar, etweder scheitert Haußmann an den Längen oder er kann es eindampfen. Letzteres scheint gelungen zu sein. Denn auch etwas anderes war klar, die Ideen stimmen, damit auch das Konzept und die Schauspieler sind toll. Ich bin nun gespannt, weil gerade diese Inszenierung es ermöglicht hat, einen Blick in die Probearbeiten, eine Woche vor der Premiere zu werfen und sich dann auf das Ergebnis zu freuen.
Als weiteres Spannungsfeld kommt hinzu, Hartmann inszeniert das gleiche Stück am DT mit zwei Schauspielern und einem Musiker.
Woyzeck, Berlin: Freude
Da freuen wir uns für Leander.
Woyzeck, Berlin: 2008 am DT
@Ruhronkel: Da war einer 2008 auch im DT: http://www.zitty.de/sozialdrama-woyzeck.html
Woyzeck, Berlin: Preuss in Leipzig
@4
Herr Preuss wird Hausregisseur in Leipzig. Das hätte Berlin auch haben können, Lübbe war schneller.
Woyzeck, Berlin: Frage nach dem ersten Song
Kann mir jemand sagen, wie der erste Song heisst, zu dem die Soldaten zum ersten Mal aus dem Dunkel nach vorne an die Rampe treten??
Woyzeck, Berlin: Haußmann gibt Auskunft
der song ist von Neil Young, eine Platte die irgendwie unterging. Living with War der Song heisst: Flags of freedom
Woyzeck, Berlin: Nachfrage + Antwort
Hallo !
Wie "prüfen " Sie das denn ?
Gruß
Peter

(Werter Peter,
wir prüfen das, indem wir beim Berliner Ensemble um Authentifizierung des Kommentars bitten, also nachfragen, ob er tatsächlich von Haußmann stammt. So verfahren wir mit allen Kommentaren, die mit bekannten Namen gekennzeichnet sind, damit kein Namensmissbrauch betrieben wird.
MfG, Anne Peter / Redaktion)

(P.S.: Mittlerweile – 13:35h – hat sich das BE gemeldet. Der Kommentar stammt tatsächlich von Haußmann. Wir haben den betreffenden Hinweis im obigen Posting also wieder gelöscht.)
Woyzeck, Berlin: Strafarbeit
Alle Achtung vor der Genauigkeit Ihrer Redaktionsarbeit. Da müssten sie ja froh sein, wenn Ihnen Kommentatoren zwar mit echtem Namen schreiben,die aber dennoch nicht bekannt sind! Entweder brauchen Sie sich dann um Authentifizierung gar nicht kümmern oder die ist so anstrengend wie Strafarbeit im Steinbruch- kommt halt auf die Qualität des Kommentars an.
MfG
Woyzeck, Berlin: Song passt perfekt
Danke!
das hier ist der Song - passt perfekt:
http://www.youtube.com/watch?v=vjM-lElnJ74
Woyzeck, Berliner Ensemble: großes Theater
Leander Haußmann setzt, wie so oft, die ganz große Theatermaschinerie in Gang. Sein Woyzeck ist in erster Linie perfektes, ja großes Theater, mit Riesenensemble, Choreografien, opulenter Lichtregie, vollem Musik- und Körpereinsatz, Nebel und was die Requisite noch so alles hergibt. Und gerade das tut diesem Werk, das so oft auf den Kampf des Individuums reduziert wird, ungemein gut. Denn dieser Woyzeck steht nicht allein, er ist Teil wie Produkt einer Welt, die ihn nicht leben lassen will, nicht leben lassen kann. Eine Welt, von der die menschen in Afghanistan ebenso Zeugnis ablegen können wie die traumatisierten Kriegsheimkehrer der Bundeswehr. Eine Welt, die besoffen auf die selbstgemachte Katastrophe zuwankt, wie dieser Abend über seinem eigenen Abgrund taumelt und schwankt und sich doch lustvoll herabstürzt. Da zerbirst die Zuckerwatte und ein Mord wird zum teambildenden Entertainment der Maschinenmenschen. Er strengt an, dieser Abend, er macht benommen, der zuschauer fühlt sich, als wäre er teil dieses Strudels gewesen. Was er wohl auch war. Wenn Woyzeck am Ende auf einer postapokalyptische Spielwiese mit all den anderen verlorenen Seelen steht und, ins Publikum gerichtet, sagt: “Was gafft ihr? Guckt euch selbst an!”, dann ist das eine Augabe, der wir uns stellen sollten.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/09/24/wie-zuckerwatte-im-wind/
Woyzeck, Berlin: überzeugend
Das war durchaus eine überzeugende Vorstellung, die ich da gestern gesehen habe.

Komplette Kritik: http://popshot.over-blog.de/article-george-buchner-woyzeck-theaterinszenierung-von-leander-hau-mann-am-berliner-ensemble-124673450.html
Woyzeck, BE Berlin: These boots are made for walking
Leander Haußmanns Woyzeck am Berliner Ensemble hat mit Sebastian Hartmanns Inszenierung, die gleich um die Ecke am Deutschen Theater gezeigt wird, außer dem Titel und der Spieldauer von knapp zwei Stunden wenig gemeinsam.

Während Hartmann das Textfragment radikal auf das existentielle Ringen zweier Körper reduziert, lässt Haußmann 30 Soldaten in voller Montur aufmarschieren. Das laute Stampfen der Stiefel und die schrillen Befehle des ehemaligen Offiziers, der die Statisten vor der Premiere gedrillt hat und die Truppe auch diesmal für ihren Auftritt heiß macht, ist bis ins Obere Foyer zu hören, als der Dramaturg vor den herangekarrten Schulklassen eine launige Einführung hält. These boots are made for walking, dröhnt es aus den voll aufgedrehten Lautsprechern, als die Soldaten aufmarschieren und Franz Woyzeck in die Mitte nehmen.

Eine der Stärken dieses Abends ist der Soundtrack. Wie der Dramaturg berichtete, erschien Haußmann mit einer beeindrucken Sammlung von Audiodateien, aus denen er zielsicher die textlich und musikalisch passende Pop-Untermalung zu Georg Büchners Original-Dialogen aus dem 19. Jahrhundert auswählte.

Überzeugend ist auch Haußmanns politische Herangehensweise an den bekannten Stoff: wie schon in seinen Kinokomödien Sonnenallee und NVA vor mehr als einem Jahrzehnt angedeutet, sieht er das Militär als eine männerbündische Institution, die für den Einzelnen zur Tretmühle wird. Franz Woyzeck (Peter Miklusz) wird zunächst von der Ärztin (Traute Hoess) bei der Musterung und den medizinischen Tests zum Objekt degradiert. Den letzten Rest seiner Würde verliert Woyzeck, als die anderen Soldaten ihn festhalten, ihm die Erbsensuppe mit der Kelle einflößen, ihn anpinkeln und vergewaltigen.

Woyzeck ist in Haußmanns Deutung ein Gedemütigter, der in die Verzweiflung getrieben wird, bis er sich – eine Parallele zu Benjamin Lillies Performance am DT – nackt auszieht und unter lautem Stampfen und Anfeuern der Kumpels mit dem Messer auf seine geliebte Marie einsticht. Dies ist eine in sich schlüssige Deutung der Vorlage, die zwar nicht allzu tief unter der poppigen Oberfläche schürft, aber doch zu einer gelungenen Inszenierung werden könnte.

Könnte… Wenn da nicht die Brüche und Albernheiten gewesen wären, die trotz starker Kürzungen – die Voraufführung dauerte Anfang September noch 3,5 Stunden – geblieben sind. Die Karussel-Szene der Soldaten kippt in den Kitsch. Die Liebesszene zwischen Marie und dem Tambourmajor schreckt nicht mal vor der plattesten Peinlichkeit zurück, die Zigarette an diesem verqualmten Abend als erotisches Symbol aufzuladen.

So bleibt ein zwiespältiger Eindruck, als der immer noch nackte Woyzeck Peter Miklusz dem Publikum zuruft: “Was glotzt ihr so?”

http://e-politik.de/kulturblog/archives/984-leander-haussmann-bringt-mit-buechners-woyzeck-das-berliner-ensemble-zum-beben.html
Woyzeck, BE Berlin: in den Früh90ern zurückgeblieben
Ich war gestern auch drin. Hab mich nicht so sehr am von Nr. 13 beschriebenen Kitsch oder den Peinlichkeiten gestört als vielmehr an anderen Dingen:

1. Ich finde Büchner Sprache (Freimaurer, Kamisolchen, Maries Sprache etc.) in diesem Milieu völlig unglaubwürdig. Woyzecks Visionen beim Steckenschneiden etwa, hier auf Patrouille mit angelegter MG geäußert, kommen mir völlig verblasen vor, obwohl ich Peter Miklusz für bewundernswert halte. So spricht kein heutiger Woyzeck. Es entsteht aber auch keine Kontrastspannung zwischen Bild und Sprache. Es wirkt einfach nur wie ein altmodischer Soundtrack zu einem neumodischen Film.

2. Das Fragmentarische der Büchnertexte wurde mit Hilfe von Musik und Massen-Statisterie zur Oper aufgemotzt und zugekleistert. Das wirkte auf mich etwas peinlich. Als würde hier das Leid armer Leute für gut betuchtes Publikum teuer schmackhaft gemacht, um ein paar Mitleidstränen zu zerdrücken.

3. Das Ganze wirkte ästhetisch ein bißchen wie in den Spät80ern, Früh90ern zurückgeblieben: Sonnenallee, NVA, Tellkamps Turm und so.

4. Daraus folgt: Mich hat es nicht erreicht. Ich will niemandem seine eigene Meinung streitig machen, sollte er/sie es anders erlebt haben. Aber ich hatte doch das starke Gefühl: Wir haben heute andere Probleme. Da hat mich das Stück über Bundeswehr-Soldaten in Afghanistan vor ein paar Jahren in Potsdam oder die Militärstücke von Hans-Werner Kroesinger doch mehr erreicht.

5. Büchners Sprache und Sprachbilder gehören für mich zum Größten, was es in der deutschen Dichtung gibt. Woyzecks Testament war auch gestern noch tief berührend. Aber insgesamt schien mir die Inszenierung dieser Sprache ausgewichen zu sein. Haußmann hat bestenfalls den Stoff inszeniert.

Dies nur als kleiner Zwischenruf für die, die meine Meinung interessiert.
Woyzeck, Berlin: Link weitere Kritik
In der Wochenzeitung Jungle World erschien ebenfalls eine Kritik, die sehr lesenswert wirkt:

"Was eigentlich die Stärke des Stückes ausmacht, begründet zugleich die Tücken seiner Rezeption. Es bietet einen weiten Interpretationsrahmen, den Haußmann aber so weit überspannt, dass ihm das Stück schließlich entgleitet. Selten lässt sich so deutlich sehen, dass eine schlechte Inszenierung immer auch eine falsche und unwahre ist. [...] Die Stummheit ist es, die Haußmann nicht erträgt und durch puren Lärm ersetzt. Er personalisiert genau das, was Büchner bewusst entpersonalisierte. Der Regisseur dreht den Akt der künstlerischen Produktion dermaßen um, dass die Inszenierung dem realen Gerichtsprozess gleicht, welchen Büchner zwar als Vorlage seines Stückes wählte, von dem sich der Autor jedoch dezidiert zu entfernen versuchte, um die Verhältnisse zu verurteilen. Hier zeigt sich die fehlende Distanz des Regisseurs; [...] Der von Woyzeck ausgeübte Mord wird somit durch das Konkrete gerechtfertigt, wo er doch bei Büchner aus dem Allgemeinen erwächst. Wo Büchner die Gesellschaft auf die Anklagebank führt, ersetzt Haußmann sie durch das individuelle Fehlverhalten Einzelner, die durch ihre gezielten Taten Woyzeck zur reinen Kreatürlichkeit verurteilen. Dadurch suggeriert die Aufführung eine direkte Kausalität und Konsequenz, die der Radikalität des Werks entgegensteht."

http://jungle-world.com/artikel/2015/20/51968.html
Woyzeck, Berliner Ensemble: Schauspieler allein gelassen
Was mich an dieser Inszenierung am meisten gestört hat, ist, dass große Bilder und Musik anscheinend wichtiger sind als gute Schauspielführung. Teilweise wirkten die Schauspieler allein gelassen, leere Worthüllen redend und überhaupt kein Anliegen habend. Genau deswegen ist die ganze Inszenierung äußerlich. Tiefe sollte scheinbar durch das Drumherum erzugt werden, statt von denen, die eigentlich die Geschichte erzählen.
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