Der Spiegel im Spiegel - In Halle inszeniert Jo Fabian einen Abend nach Michael Endes surrealen Erzählungsband
Blutspenden für blutleere Figuren
von Ute Grundmann
Halle, 15. November 2014. Ein Gerichtsverfahren läuft rückwärts. Aussagen, schon gemacht, werden widerrufen. Zeugen, die nichts gesehen haben und den Angeklagten nicht wiedererkennen, finden sich plötzlich in dessen Fesseln wieder. Und über allem schweben zwei riesige, graue Findlinge, die vom Gerichtsdiener wie das Pendel einer Uhr aufgezogen werden. Alles kann wahr sein oder alles ein Traum in Jo Fabians Inszenierung "Der Spiegel im Spiegel" nach Michael Endes gleichnamigem Erzählungsband.
Gerichts-Theater
Wenn die Zuschauer den Saal im Neuen Theater Halle betreten, wehen Nebel und leise Geigentöne durch den Raum. Auf der Bühne eine archaische Szenerie: Steine und Seile am Boden, ein mehrstufiges Gerüst, von roten Lampions spärlich beleuchtet, in dem Menschen kauern. Darüber eine altmodisch aufgespannte Leinwand. Flankiert wird die Szenerie von einem weißen und einem schwarzen Engel. In diese Szene raunt eine Off-Stimme von der dunkelsten Episode der Menschheit, von einer Falle, in die einer geraten sei, von Verdacht und Gefangensein – und empfiehlt, sich einen Vers drauf zu machen. Solche Verweise, ob es eine Botschaft gebe und wenn ja, welche oder ob alles nur ein (Alb-)Traum sei, wird es im Verlauf des Abends immer wieder geben.
Den hat Jo Fabian nach einem schmalen Band surrealistischer Erzählungen von Michael Ende, teils inspiriert von seinem Vater, dem Maler Edgar Ende, erarbeitet, choreografiert, gestaltet. Hauptmotiv ist "Der marmorne Engel", der denn auch doppelt die Szene dominiert. In der beginnt alles auf den Pfiff des Gerichtsdieners hin: Aufstehen, mit Roben und Perücken ankleiden – die deutlich als Theaterspiel angezeigte Gerichtsverhandlung nimmt ihren Lauf.
Sackköpfe tanzen Schuhplattler
Was nun folgt, ist kein stringentes Drama, sondern eine Fülle, ein Strom von Assoziationen, Bildern, Anspielungen. Die zarten Geigen werden von brutaler Rockmusik abgelöst, später hämmern Rammstein ihr Mutter in den Saal. Der mit Seilen gefesselte Angeklagte weiß nicht, ob er träumt oder wacht. Plötzlich findet sich an seiner Stelle ein verhinderter Tänzer wieder, der nur Zeuge war. Die Schöffen, ebenso in rote Roben gehüllt wie der nölig-joviale Richter, tanzen in Zeitlupe oder nehmen den Angeklagten in ihre Mitte wie in die Zange. Sie werden "Sackköpfe" genannt, sehen auch so aus und legen schon mal einen Schuhplattler hin. Immer mal wieder gibt es, in Wort, Gesten, Video, Anspielungen an die Kreuzigung; aber auch an das Theater, das hier "nur" gespielt wird: Eine strenge Krankenschwester bittet um Blutspenden für blutleere Theaterfiguren. So kann immer alles so sein, aber auch ganz anders, muss der Zuschauer entscheiden, welche der erzählten Geschichten er an- und mitnimmt.
Und die Botschaft?
Inmitten all dieser Bilder und ritualisierten Gesten wird aber weiter Gericht gespielt. Und da ufern die Spitzfindigkeiten von Staatsanwalt, Verteidiger und Richter doch sehr aus, wirken dröge, langatmig und immer absurder, weil keine Dinge geklärt, sondern immer verwickelter, unwahrscheinlicher werden. Natürlich lassen der Angeklagte (bzw. die Angeklagten), der seine Anklage nicht kennt und sie um so verzweifelter zu verstehen sucht, an Kafka denken. Aber Jo Fabian lässt sich, in seiner nach Die Weber und Das Leben des Galilei dritten Theaterarbeit in Halle, Raum für alle möglichen Assoziationen, Einfälle, Anklänge.
Zu denen bewegen sich der schwarze und der weiße Engel nur kaum merklich, scheinen aber die Verhandlung genau zu verfolgen. Bis sie schließlich von ihren Podesten steigen – da aber ist schon der Richter selbst der Angeklagte, mit dem Strick um den Hals. Hat er, hat das Stück eine Botschaft oder ist das, wie in Michael Endes Geschichte vom Schlittschuhläufer, gar nicht so wichtig? Die Frage bleibt unbeantwortet wie vieles an diesem kurzen, manchmal langen Abend, der mit dem Anfang endet. Nach dem Applaus fordert die Krankenschwester die Zuschauer auf, den Saal zu verlassen, die Schauspieler bleiben als Standbild zurück – alles kann von vorn beginnen.
Der Spiegel im Spiegel
nach Michael Ende
Regie, Bühne und Choreografie: Jo Fabian, Kostüme: Pascale Arndtz, Dramaturgie: Alexander Suckel.
Mit: Hilmar Eichhorn, Danne Suckel, Till Schmidt, Alexander Gamnitzer, Matthias Horn, Alexander Pensel, Sonja Isemer, Philipp Noack, Kerstin König, Max Radestock, Maria Radomski, Anne Thiemann, Matthias Walter.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.buehnen-halle.de
Als "schrecklich-schönes Welttheater" hat Andreas Montag von der Mitteldeutschen Zeitung (18.11.2014) diesen Abend in Halle wahrgenommen. Die Geschichte "mutet kafkaesk an, surreal und grotesk auch, legt aber zugleich die wuchtigen Sinnfragen des Existenzialismus nahe." Das Rollenspiel und die durchgängige Thematisierung der Theatralität beeindrucken den Kritiker ebenso wie die Traumbildhaftigkeit. "Man kann sich diesen Reigen auch als Bericht aus der geschlossenen Station eines psychiatrischen Krankenhauses vorstellen, der in aller Verrücktheit so viel Realitätsbezug hat, dass einem angst und bange werden möchte."
Von einem "anrührenden Bühnenbild" und einer spannenden Ende-Umsetzung berichtet Gisela Tanner auf dem Portal Saale Reporter (17.11.2014). Wie von Jo Fabian "gewohnt, entwickelte er für seine Inszenierung eine eigene Choreografie, liefert ein Werk ab, das durch Bühnenbild, Sprache, Musik und Bewegung eine Einheit bildet, verlangt aber gleichzeitig dem Zuschauer einiges ab und ließ viele Fragen offen."
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