3. 31.93 – Moritz Sostmanns deutschsprachige Erstaufführung von Lars Noréns Großstadtreigen am Schauspiel Köln
Im Miniaturenkarussell
von Dorothea Marcus
Köln, 12. November 2015. Über der dunklen, breiten Halle leuchtet rot und riesig die digitale Zahlenanzeige und zählt manchmal die Szenen mit. Denn der kryptische Titel "3.31.93" ist, wie so oft bei Lars Norén, ein schlichtes Ordnungsprinzip: in drei Teilen à 31 Szenen blitzen hier insgesamt 93 Situationen in Schlaglichtern auf, als könne man mit numerischer Kontrolle dem Weltchaos begegnen. Ein Kaleidoskop mitteleuropäischer Großstadtschicksale, an einem beliebigen Ort, in dem sich Zeitebenen, Gesellschaftsschichten und Erzählstränge verwirren und in Fragmente zerfallen – wie man das in einer Großstadt eben erlebt: Parallelwelten, die im Kosmos der Gleichzeitigkeit vorbeisausen.
Aufpoppende Alltagstragödien
Mal kommt da eine Frau (sehr schön sehnsüchtig-aggressiv: Katharina Schmalenberg) mit ihrem Mann (Nikolaus Benda) auf die Bühne, der früher Cellist war und auf einmal gelähmt, stöhnend und sabbernd im Rollstuhl sitzt. Mal verliert eine Frau (Magda Lena Schlott) ihr Kind kurz nach der Geburt und versinkt in Wahn und Depression, auch wenn sie längst ein Neues erwartet – und es dann nicht lieben kann. Dann wieder verlässt eine Frau ihren Mann, obwohl sie hochschwanger ist, und er zieht sich plärrend in sein einstiges Kinderzimmer zurück. Wieder ein anderes Mal trinkt sich eine Frau allein zu Tode, nachdem die Kinder aus dem Haus sind.
Lars Noréns Kunst ist es, unter lakonisch schlichten Alltagssätzen zwischenmenschliche Dramen aufpoppen zu lassen. Wenn der Mann seine Frau fragt "Hast du heute ein schönes Frühstück gehabt?", muss man sich fragen, warum sie nicht gemeinsam gefrühstückt haben. Wenn eine Frau einem Mann sagt "Wir hatten gesagt, dass du nicht mehr hierher kommst", hatten sie vielleicht ein Verhältnis – oder Schlimmeres ist passiert.
Unaufhörlich ist das Gehirn des Zuschauers in diesem Miniaturenkarussell damit beschäftigt, Zusammenhänge zu ergründen, auch dort, wo es keine gibt, weil manches nur ein Prototyp ist für größere Schicksalsdinge, die mehr oder weniger wohlhabenden Europäern, nicht bedroht von Hunger, Krieg oder Armut, zustoßen können, wenn die Zeit fortschreitet: Trennungen. Depressionen. Demenz. Schlaganfälle. Alkoholismus. Sterbende Eltern und sterbende Kinder.
Neun Schauspieler, zehn Puppen
Schon einige Jahre hat Schwedens bekanntester Gegenwartsdramatiker kein Stück mehr herausgebracht. Hier nun tauchen viele Figuren und Motive aus früheren Dramen des heute 71-jährigen Norén wieder auf. Doch "3.31.93" ist umfassender gedacht: ein Universum aus Parallelwelten, in denen sich Gesellschaftsschichten und Chronologie streifen und vermischen. Zeiten und Orte sind egal, alles kehrt irgendwann wieder. "3.31.93" ist ein sehr langer Text, im schwedischen Original 300 Seiten, in der deutschen Übersetzung für das Schauspiel Köln immer noch 140 Seiten lang. Es inszeniert Hausregisseur Moritz Sostmann diesen "Großstadtreigen", wie es im Untertitel heißt, mit neun Schauspielern und zehn Puppen.
Auf der schwarzen Breitbandbühne des Depot 1 sieht man einen weiß gedeckten, langgestreckten Tisch, der auch Tafel oder Laufsteg sein könnte. Dahinter hängen im Schatten die Puppen an den Haken, halten sich die Darsteller wartend auf. Schön ist, wie man ihnen beim stummen Umarrangieren der wenigen Requisiten – Kaffeetassen, Stühle oder der Rollstuhl – zusehen kann. Eine elegante Choreografie, zu der aufmunternder, aber auch recht beliebiger Elektrosound klackert (Nis Søgaard) – wie um zu sagen: Kommt Leute, alles nicht so schlimm, geht ja doch immer weiter.
Langsamer Weg in den Abgrund
Selten hat man auf der Bühne so sehr vergessen, welche Szene von Puppen und welche von Menschen oder von beiden gespielt werden. Und dennoch verliert sich die Intensität mit der Dauer. Zu gleichförmig ist der melancholisch-düstere Grundton, die stille Geschäftigkeit zwischen den Szenen, der austauschbare Sound – auch von der Regie wird das nicht aufgefangen. Über drei Stunden lang sieht man hier dem allzumenschlichen Vergehen der Zeit zu, den Schicksalsschlägen des Alltags.
Das greift zuweilen wohl jeden an, aber ermüdet auf die Dauer auch jeden. Nur das Schlussbild spitzt Sostmann zu: Da steht der gelähmte Cellist vom Beginn als junger, kräftiger Mann, voller Zukunft musizierend auf der Bühne und spielt, umringt von tollenden Baby-Darstellern mit vollen Windeln und Schnullern im Mund, im gleißenden Licht. Das Leben an sich ist eine Tragödie, auch wenn es in behüteten westeuropäischen Gefilden geschieht: ein langsamer Weg in den Abgrund, in dem sich die Wege schließen und Tod und Selbstzerstörung immer näher kommen.
3. 31.93
Ein Großstadtreigen
von Lars Norén
Deutsch von Maja Zade
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Moritz Sostmann. Bühne: Christian Beck. Kostüme: Elke von Sivers. Puppenbau: Hagen Tilp. Musik: Nis Søgaard, Licht: Hartmut Litzinger, Dramaturgie: Nina Rühmeier.
Mit: Mohamed Achour, Nikolaus Benda, Johannes Benecke, Steffi König, Thomas Müller, Christian Pfütze, Philipp Pleßmann, Magda Lena Schlott, Katharina Schmalenberg, Nis Søgaard.
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause
www.schauspielkoeln.de
Kritikenrundschau
Christian Bos ruft auf der Website des Kölner Stadt-Anzeigers (13.11.2015) aus: "Dass man so einen Elends-Reigen überhaupt drei Stunden und zwanzig Minuten lang aushält! Es sei mühsam genug, "sich langsam die Geschichten hinter und zwischen den kurzen Szenen zusammenzureimen". Doch verstehe es Moritz Sostmann, "inmitten der nordischen Finsternis hinreißende Irrlichter zu setzen". Wie immer arbeite Sostmann mit der Konfrontation zwischen großen Schauspielern und kleinen Puppen-Figuren mit erstarrten Gesichtern. Das Zusammenspiel erreiche eine "neue Selbstverständlichkeit". "Die Spieler hauchten den Puppen so viel Persönlichkeit ein, dass man manchmal schon nach wenigen Minuten nicht mehr sicher sagen kann, ob Mensch oder Puppe die letzte Szene gespielt haben." Auch die Schauspieler schienen in ihren Szenen durch die "Norén’schen Zwangslagen" beflügelt.
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.11.2015) schreibt Andreas Rossmann, das 300 Seiten umfassende Stück, sei mehr "das Inventar für ein Drama als schon dieses selbst". Wie allerdings die Regie von Moritz Sostmann die Figuren "mit- und gegeneinander führt, sie sich ablösen und ergänzen, sich auch selbst gegenübertreten und gegenseitig bespiegeln lässt", schaffe ein Spiel der "Inkongruenz und des Maßstabsprungs". Der Zuschauer verfolge es mit "gleichsam gespaltenem Blick, der die Figuren als Subjekte und Objekte" wahrnehme. "Einfühlung und Ausstellung kreuzen sich": Auch wenn die Spannung nicht über die ganze Strecke gehalten werden könne, bleibe das Ergebnis bemerkenswert: "Eine ähnlich kunstfertige und ernsthafte Inszenierung gab es am Schauspiel Köln lange nicht mehr".
"Regisseur Sostmann lässt die Puppen tanzen", schreibt Christof Ernst im Kölner Express (14.11.2015). Seine Spezialität sei es, Menschen in verkleinerter Form als Puppen auftreten zu lassen, die von Schauspielern geführt werden. Das klappe so gut, dass man manchmal vergesse, dass die Figuren kein Eigenleben haben. "Es gibt lebenfrohere Stücke. Dennoch ist das oft zum Lachen, weil die Dialoge absurd und die Schauspieler excellentes Training haben."
"Wenn Regisseur Moritz Sostmann Mensch oder Puppe auf die Bühne schickt, verschwimmen die Unterschiede, und es können traumhaft schöne Momente entstehen, wie jetzt bei Lars Noréns Stück", so Erich Huppertz in den Köln Nachrichten (15.11.2015). Zum Ende werde der Abend nach 200 Minuten etwas eintönig, aber wer früher gehe, verpasse am Ende doch noch einige schöne Knalleffekte.
Der Beifall am Schluss glich dem Abend: "Er war lang und stark." Das schreibt Hartmut Wilms in der Kölnischen Rundschau (14.11.2015). "Schlaglichtartig“ blitzen in dem Drama "Minitragödien auf", so der Kritiker. "Kraft, Poesie und Grazie" des Zusammenwirkens der Akteure "tragen über gewisse Durststrecken hinweg", denn "Noréns Fragmentdramaturgie" wirke "selbst in Sostmanns straffer Regie gelegentlich ermüdend".
Regisseur Moritz Sostmann "hat schon Brecht, Kafka, Molière inszeniert, aber ausgerechnet hier, bei dem scheinbar am wenigsten poetischen der Autoren, kommt sein besonderes Theater zur vollen Blüte", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (17.11.2015). "Dieses Theater hat keinen neckischen oder gar lieblichen Zug, aber die Puppen geben den Figuren eine Zartheit und Schutzbedürftigkeit, die hier so etwas Unerwartetes wie Humor ermöglicht." Lob, insbesondere "angesichts der Kompliziertheit der technischen Abläufe", hat der Kritiker auch für die "erstaunliche Spiellust der Akteure".
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