Schöner untergehen

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 13. April 2017. Die Abreise kommt vor der Ankunft. Denn dieser "Kirschgarten" beginnt mit dem letzten Akt: Lethargische Stimmung herrscht auf der Bühne. Die Entourage der Gutsbesitzerin Ranjewskaja döst vor sich hin, auf blankem Boden liegend, barfuß, die Körper ineinander verräkelt. Links eine leere Sektpulle, rechts ein Grammophon. Die einen küssen sich, schmusen, ein anderer ist mit seinem Mobiltelefon beschäftigt. Derweil balanciert die Ranjewskaja in blutrotem Hosenanzug den Rampenrand entlang, wo auch der alte Diener Firs sitzt und schweigt. Der Gitarrist Philipp Weber zupft sachte Klänge zu glockigem Sampling, und jemand summt leise eine kleine Melodie (meditative Zwei-Akkordmusik wird den ganzen Abend unterlegen).

Ein schönes, melancholisches Bild, mit dem Robert Borgmann den Abend im Stuttgarter Schauspielhaus eröffnet. Die Gutsherrin Ranjewskaja bleibt fremd unter all den Fremden, die nur jetzt, kurz vor der endgültigen Abreise und nach durchfeierter Nacht, die Nähe zu anderen suchen – einsam und liebesbedürftig. Später, wenn alle das Gut für immer verlassen haben, wird der Diener Firs allein an der Rampe zurückbleiben als Relikt aus alter Zeit, dem niemand mehr Beachtung schenkt. Ein Leibeigener, der sich nicht befreien lassen wollte. Finsternis. Die alte Welt des russischen Adels ist am Untergehen, der üppig blühende, aber ertraglose Kirschgarten, der nun mit Ranjewskajas Gut verkauft und abgeholzt wird, ein Bild dafür.

Platz da für Stimmungsschwankungen

Die Kirschbäume existieren wohl noch zu Beginn des Abends. Die zentralperspektivisch ausgerichteten weißen Wände der kargen Bühne sind in knallrote Farbe getaucht und münden in einen dunklen Samtvorhang. Nach dem vorweggenommenen Finale werden die ersten drei Akte im Rückblick gezeigt, die ganze Familientragödie ausgespielt, in deren Zentrum der Tod des siebenjährigen Sohnes der Ranjewskaja steht, der im nahegelegenen Fluss ertrank. Die Rolle der Gutsbesitzerin, die einst nach Paris in eine neue Zukunft flüchtete und jetzt, nach Jahren und hoffnungslos verschuldet, zurückgekommen ist, scheint Astrid Meyerfeldt auf den Leib geschrieben: Sie spielt die Ranjewskaja als Traumatisierte, die nicht nur die eigene tote Mutter, sondern auch den verunglückten Sohn durch den Garten wandeln sieht.

Kirschgarten1 560 JU uAstrid Meyerfeldt ist die Ranjewskaja © JU

Meyerfeldts Spielstil lässt krasseste Stimmungswandel fast körperlich spürbar werden: Nach aufgedrehtem "Ich überlebe diese Freude nicht!" folgt gleich die Trauerlähmung beim Anblick des traumsymbolisch positionierten Dreirades ihres ertrunkenen Sohnes. Derweil improvisiert Peter René Lüdicke als Ranjewskajas Bruder Gajew genau in diese Trauer hinein, wer alles in den letzten Jahren so gestorben ist in der Nachbarschaft: "Zwei der Drillinge. Und die Oblomows, die auf schnurgerader Strecke mit dem Auto plötzlich nach rechts abbiegen …". Gajew fühlt sich in der Rolle des faulen, selbstgenügsamen und wenig empathischen Adeligen sehr wohl. Alles Neue macht ihn nervös.

Planschen und Metzeln hilft gegen Langeweile

Wenn sich nach der Pause die Bühne öffnet, tut sich seitlich der Fluss auf. Wolfgang Michalek als Kontorist Jepichodow, der immer mal wieder mit der Pistole im Mund oder geschulterter Axt durchs Bild läuft, stapft und fällt gerne sehenden Auges ins angedeutete Nass. Sehr akrobatisch, sehr lustig. So auch Manolo Bertling als dauerdozierender, ewiger Student Trofimow, der sich zuweilen in hitziger Rage im Samtvorhang verwickelt und den Kampf beinahe verliert. Dass die Gouvernante Charlotta (Gina Henkel) ihren Monolog "Ich weiß nicht, wie alt ich bin" splitternackt ins Mikro sprechen muss, erscheint dagegen unnötig. Wie auch das Gemetzel Gajews, der mit den Worten "Ich habe heute noch nichts gegessen" einem großen Fisch das Messer in den Bauch rammt, dass die Gedärme auf den schneeweißen Bühnenboden spritzen. Schöner Ekeleffekt. Unfreiwillig komisch wirkt es, wenn die Meyerfeldt, unter blühendem Kirschbaum thronend, auf der Bühne vor- und zurückgefahren wird, und man wegen viel zu lauter Elektrosounds nicht versteht, was sie eigentlich sagt.

Kirschgarten3 560 JU uWo sollen wir denn hin? Manuel Harder, Wolfgang Michalek, Anna Gesa-Raija Lappe, Birgit
Unterweger, Julischka Eichel, Astrid Meyerfeldt, Christian Czeremnych © JU

Nicht alles überzeugt an diesem Abend. Aber die Stimmungen, die einmal in Gang gesetzt werden, entfalten und runden sich. Dieses albverträumte, dieses allgemeine träge Hineingleiten in die Katastrophe, von der am Ende nur einer profitiert: der Selfmade-Millionär Kaufmann Lopachin, von Manuel Harder vorsichtig bis aggressiv distanziert gespielt, nicht mit dem breitbrüstigen Stolz des Gewinners, sondern mit Rachegelüsten im Herzen. Sein finaler Triumph trägt Schmerz in sich.

All diese verletzten, verlorenen Seelen … Borgmann gibt ihnen Raum und lässt alles in ein weiteres melancholisches Bild münden: die Meyerfeldt, wie sie traurig und einsam auf der Bühne hockt und die weißen Wände zugewuchert werden von Laubmustern, bis kaum mehr ein Lichtstrahl durchdringt. Wie schön!

Der Kirschgarten
Komödie von Anton Tschechow
Deutsch von Andrea Clemen
Regie und Bühne: Robert Borgmann, Kostüme: Thea Hoffman-Axthelm, Licht und Video: Carsten Rüger, Musik: Philipp Weber, Dramaturgie: Jan Hein, Dramaturgische Mitarbeit: Katrin Spira.
Mit: Manolo Bertling, Christian Czeremnych, Julischka Eichel, Manuel Harder, Gina Henkel, Robert Kuchenbuch, Anna Gesa-Raija Lappe, Peter René Lüdicke, Astrid Meyerfeldt, Wolfgang Michalek, Elmar Roloff, Birgit Unterweger, Luca Harr/Nikolai Krafft, Philipp Weber.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Borgmann setze "alles daran, die Szenerie ins Somnambule zu tauchen", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (15.4.2017). Das folge jedoch "einem fatalen Hang zum Kunstgewerbe." Ins Visuelle sei die Regie "nämlich derart verliebt, dass sich zwischen Sein und Bewusstsein der verlorenen Figuren hier immer wieder das coole Design schiebt." Bei Borgmann stelle sich, "anders als bei Tschechow und Thalheimer, nirgends die wunderlich realitätsentrückte Atmosphäre des Landguts ein, die alle Insassen lähmend wie ein Gefängnis umgibt." Was in seiner Inszenierung bleibe, "sind also nichts als unverbunden nebeneinander stehende Auftritte, von denen manche freilich überzeugen".

Es sei ja "immer die Frage im 'Kirschgarten': Wer bekommt den kapitalistischen Schwarzen Peter zugeschoben?", meint Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (15.4.2017). Borgmann weise keine Schuld zu. "Es geht hier weniger um Kapitalismuskritik. Alles dreht sich um die Einsamkeit der Menschen und ihr Unvermögen, sich einer unangenehmen Wahrheit zu stellen." Der Regisseur bleibe angenehm "unaufgeregt in seiner genauen Figurenzeichnung", und auch "wenn nicht alle albtraumhaft leuchtenden Szenen so gut gelingen, ist die Psychostudie fein gearbeitet".

langweilig wird es einem in Borgmanns Tschechow-Garten diesmal nicht, aber warm auch nicht. Es ist kühles Überwältigungstheater, ein Reigen von Bildern, Einfällen, Assoziationen, der sich nicht zu etwas Ganzem runden will. Borgmann sieht vor lauter Bäumen und Kirschbäumchen-wechsel-dich-Szenen keinen „Kirschgarten“ mehr: Wo bei Tschechow melancholische Heiterkeit war, ist hier eine unausgegorene Mischung aus Depression und nervöser Unruhe, Apathie und Aktionismus, krudem Slapstick und schönen Stimmungen.

Der Abend hinterlasse ein zwiespältiges Gefühl, so Otto Paul Burkhardt in der Südwestpresse (15.4.2017). Das Aufzäumen vom Ende her bringe wenig. Doch Borgmann erzähle den Niedergang einer brüchigen Gesellschaft "präzise, abstrakt, ohne historische oder aktuelle Verweise und ohne flache Gags", eher "magisch-surreal, sanft komödiantisch". Sein Fazit: "Nicht umwerfend, aber auch nicht schlecht."

"Der Kirschgarten" als "Klimbim"-Show? Keine gute Idee, meint Barbara Miller in der Schwäbischen Zeitung (15.4.2017). Borgmann inszeniere nur die Farce. "Und die wird, da sie sich beständig wiederholt, vor allem eines: langweilig."

Langweilig werde es einem in Borgmanns "Kirschgarten" nicht, aber warm auch nicht, findet Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.4.2017). "Es ist kühles Überwältigungstheater, ein Reigen von Bildern, Einfällen, Assoziationen, der sich nicht zu etwas Ganzem runden will." Borgmann sehe vor lauter Bäumen und Kirschbäumchen-wechsel-dich-Szenen keinen "Kirschgarten" mehr: "Wo bei Tschechow melancholische Heiterkeit war, ist hier eine unausgegorene Mischung aus Depression und nervöser Unruhe, Apathie und Aktionismus, krudem Slapstick und schönen Stimmungen."

Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (19.4.2017) entdeckt in Borgmanns Inszenierung vor allem Langeweile. "Das fängt mit seiner Umstellung der Akte an. Zieht man das Ende vor, negiert man jede Entwicklung innerhalb der Figurenkonstellation. Borgmann erzählt keine Geschichte mehr, stattdessen forscht man erst einmal in der eigenen Kenntnis des Stückes, wer da wer ist unter denen, die sich vom Kirschgarten, vom alten Haus, voneinander verabschieden." Letztlich scheine dies egal zu sein. "Borgmann gelingt das Kunststück, ein ziemlich gutes Stück so auf die Bühne zu bringen, dass man sich für keine der Figuren auch nur im Geringsten interessiert, weil alle kaum etwas miteinander zu tun haben."

Kommentare  
Der Kirschgarten, Stuttgart: verstümmelt
Man kann den Schlusssatz von Beethovens Neunter an den Anfang stellen - aber was ist damit gewonnen? Selbst der gescheite Michael Gielen hat darauf verzichtet und stattdessen Schönbergs "Überlebenden aus Warschau" zwischen dem dritten und dem vierten Satz eingeschoben. Die Reihenfolge der Sätze hat er unangetastet gelassen. Es gibt nur wenige Dramatiker, deren Stücke so zwingend und zugleich unspektakulär auf den genialen Schluss zulaufen wie jene von Tschechow. Was also ist gewonnen, wenn man den letzten Akt, reichlich verstümmelt, an den Anfang stellt? Was ist gewonnen, wenn man Gajews lächerlich pathetische Rede an den Schrank streicht? Dieser "Kirschgarten" ist in vielen Details originell, aber "falsch" wie die Betonung von Dunjascha auf der ersten Silbe. Nein, es geht nicht um Texttreue, sondern um dramaturgische Logik. Wer die zerstört oder meinetwegen dekonstruiert, muss erkennbar machen, was dadurch gewonnen wird. Ansonsten bleibt es beim Effekt, bei der "Originalität" der Werbung - wie bei der Neunten mit dem Chor am Anfang.
Der Kirschgarten, Stuttgart: Aachen besser
Bei allem Respekt für die Stuttgarter Leistung, aber Elina Finkel's Übersetzung und Inszenierung am Theater Aachen mit der fesselnden Katja Zinsmeister als Ranjewskaja inmitten eines motivierten spielfreudigen Ensembles ist einfach besser! Aus Stuttgart kommend...
Der Kirschgarten, Stuttgart: Die Ode gehört ans Ende!
Sehr geehrter Herr Rothschild, Ihr Vergleich hinkt. Beethovens Neunte stellt einen ganz anderen Fall dar. Im Finale werden alle vorhergehenden Sätze noch einmal zitiert und dann verworfen ("Oh Freunde, nicht diese Töne!"). Dann erklingt das "Freude"-Lied als große Utopie. Was sollte man verwerfen, wenn es noch nicht erklungen ist? Von daher wäre die Positionierung des Finales an erster Stelle tatsächlich ziemlicher Humbug. Also: Nein, man kann den Schlusssatz von Beethovens Neunter NICHT an den Anfang stellen. Und nicht nur aus beschriebenem Grund.
Borgmann geht es um Bilder, es geht nicht um musikalische Themen, die erkennbar bleiben müssen. Und die Umstellung der Akte und die Folge der Bilder ergibt an diesem Abend Sinn: Er endet nicht mit dem einsamen Firs, sondern mit der einsamen Ranjewskaja. Allein wegen des Eröffnungs- und des Schlussbildes hat sich der Abend gelohnt.
Der Kirschgarten, Stuttgart: überholter Landadel
Sehr geehrte Beethovens Nichte! Dass sich der Abend wegen zweier Bilder für Sie gelohnt hat, freut mich für Sie. Darf ich dennoch folgende Lesart vorschlagen: Der vierte Akt besteht ja nicht allein aus dem im verlassenen Haus vergessenen Firs. Die Abholzung des Kirschgartes, der Auszug der Ranjewskaja mit ihrer Entourage, das Ende des feudalen Landadels wird bei Tschechow drei Akte hindurch vorbereitet durch die Charakterisierung von dessen, teils mit Wehmut, teils mit Einsicht in die historische Notwendigkeit erkannter, Überholtheit. An ihre Stelle tritt der von Lopachin personifizierte Kapitalismus. Zahllose Motive dieser drei Akte führen hin zu diesem Ende, in dem es in der Tat für eine einsame Ranjewskaja keinen Platz mehr gibt. In ihnen klingt die ambivalente Utopie des Endes bereits an wie die Ode an die Freude in den ersten drei Sätzen von Beethovens Neunter. Man muss das nicht unbedingt so zeigen, aber - ich wiederhole mich - was ist damit (dramatisch wie politisch-historisch) gewonnen? Mehr als zwei schöne Bilder?
Der Kirschgarten, Stuttgart: Nachtrag
Ein Nachtrag noch: Hinter der Umstellung der Akte steckt die Überzeugung, dass die Form der Kunst äußerlich sei. Aber ein "Citizen Kane", der die Geschichte des Magnaten chronologisch erzählt, wäre ebenso wenig der "Citizen Kane", der zu Recht als einer der bedeutendsten Filme aller Zeiten gilt, wie eine "Nora", bei der Nora gleich am Anfang das Haus verlässt, die Lösung also dem Rätsel voraus geht, Ibsens "Nora" wäre. Die Farben des Blauen Reiters sind nicht austauschbar, die Wiederholungen in einer Sonate nicht überflüssig, wenn man die Eigenart der jeweiligen Kunstwerke nicht zerstören will. Das unterscheidet die Nutzlosigkeit der Kunst, für die im "Kirschgarten" eben dieser, der Kirschgarten, steht von der Position Lopachins, die dem Nutzendenken folgt. Darin übrigens liegt die Aktualität Tschechows.
Der Kirschgarten, Stuttgart: nicht kongenial
Eine Nora, die gleich zu Anfang das Haus verlässt, ist keine Nora, die man mit der von Ibsen in Verbindung bringen könnte. Und wenn man sehen will, was geschah, NACHDEM Nora ihren Mann verlassen hatte, bemüht man auch als Regisseur*in eben Jelinek und stellt nicht einfach Ibsen um. Mich interessieren die Noras, die erst gar nicht zu den Helmers ziehen... Und die Ranjewskajas, die sich NACH dem Abholzen ihrer Kirschgärten irgendwie weiter durchs Leben schlagen müssen, wenn sie also nicht gestorben sind und heute noch leben - Und da kann ja nun Tschechow leider auch nicht mehr weiterhelfen - lebte er noch, er könnte es großartig! Es ist nur so: Tschechow konnte und könnte es schriftlich - und das Regietheater nicht. Weshalb auch alle diese dramaturgisch bemühten Um-, neusprachlichen Nach- und Neuzusammenstellungen für neuere Interpretationen nicht an die Kunst Tschechows heranreichen. Sie sind eben nicht kon-genial, auch wenn sie das selbst von sich annehmen oder ihnen das eingeredet wird. Weil sie eben reines Theater und keine Literatur Tschechow'scher Qualität auf der Höhe unserer Zeit sind. Ibsens Stücke sind da robuster, weil man nicht allein auf dessen Sprachkunst angewiesen ist, sondern eine größere Zahl dramatisch relevanter Situationen in den Stücken selbst vorfindet, die man jeweils zeitgenössischen Verhältnissen adäquat unterschiedlich wichten kann - bei Tschechow besteht die Kunst darin, eine einzige dramatische Grundsituation in allen Figuren bis zum äußersten auszuleuchten - Der Unterschied zwischen excellent gespieltem Fußball und Billard -Sportvergleiche gehen heutzutage in der Literaturbeurteilung wirklich eingängiger als genaue Analysen, für die ohnehin keiner mehr Geduld hat-
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