Caligula - In Darmstadt inszeniert Christoph Mehler Albert Camus' Stück als "Oratorium für einen Despoten"
Der Irre und seine Treuen
von Shirin Sojitrawalla
Darmstadt, 25. August 2017. Sehr lässig dieser Caligula: schmal geschnitten, in der Hüfte flexibel und mit gleichgültigem Überdruss im Blick steht er auf der Schaukel, von wo er sein Volk erzieht, unterwirft und quält. Christoph Bornmüller spielt ihn als gelangweiltes großes Kind, das sich den Mond vom Himmel befiehlt und auch sonst macht, was es will. Sinnigerweise hängt seine Schaukel an einem Galgen, und es dauert nicht lange, bis einer dort baumelt. 1938 geschrieben und 1944 uraufgeführt, steht Camus' "Caligula" wieder allenthalben auf der Bühne. Absurde Gewaltherrscher der Wirklichkeit befeuern das – in Darmstadt entsagt Regisseur Christoph Mehler jetzt aber jedweden Kurzschlüssen in die Gegenwart.
Grausamkeit und Schalk des Despoten
Aus dem vorbildlichen Tyrannen und römischen Kurzzeit-Kaiser machte der erst 25 Jahre alte Albert Camus in seinem Drama einen wahnsinnig absurden Herrscher, der sich schon mal als Fußnägel lackierende Venus inszeniert. Ein Schauspieler par excellence. Bei Mehler begibt sich dieser Caligula einmal ins Publikum und bittet eine Zuschauerin auf der gegenüberliegenden Seite jemanden auszuwählen, der hingerichtet werden soll, worauf die Frau sofort den Zeigefinger zückt. Ein irritierender Moment, der Grausamkeit und Schalk der Theaterfigur Caligula einfängt. Ein leider kurzer Moment, der von zähem Witzeaufsagen, langwierigem Hin und Her, strapaziösem Gezeter und Gezicke wieder verdrängt wird.
Caligula auf der Schaukel © Robert Schittko
Jennifer Hörr, von der man spektakulärere Bühnenbilder gewohnt ist, arrangiert die Zuschauer auf zwei gegenüberliegenden Tribünen und die Bühne als schwarze Spielfläche dazwischen; rechts und links strahlen Neonröhren kaltes Licht aus. Caligulas Schaukel bildet das Zentrum der Bühnenmacht. Einmal quetschen sich Caligula und seine Gefährtin Caesonia (Gabriele Drechsel) auf der kleinen Sitzfläche aneinander vorbei. Ein unheimliches Paar, in dem sich Macbeth und Lady Macbeth ebenso spiegeln wie Frank und Claire Underwood. Dabei gelingen dem Abend im Zusammenspiel des Schurken-Paares rührende Momente.
Caligula kommt davon
Doch mehr als für die Figuren scheint sich Mehler für die Stimmlagen und Stimmungen des Stücks zu interessieren. Er lässt seine Schauspieler ausgiebig und mikroportverstärkt winseln, quietschen, brüllen, wehklagen, jammern. Dazu gibt es Geisterklänge, Wagner, Sirr-Geräusche. Von einem "Oratorium für einen Despoten" spricht das Programmheftchen, und Mehler arrangiert die Stimmen des Stücks immer wieder zum Chor. Auf sechs Figuren reduziert er dafür das Personal, wobei der Dichter Scipio bei ihm von drei Frauen verkörpert wird, die – warum auch immer – gekleidet sind wie Charlotte Rampling in "Der Nachtportier": blanke Brüste unter Hosenträgern, dazu schwarze Hosen und Militär-Mützen. Nacktheit dient dem Abend später auch als Bild für die Unterwerfung der Patrizier, denen Caligula befiehlt, sich auszuziehen, was im Fall der eh schon halbnackten Frauen komisch wirkt.
Das Stimmengewirr indes, das in Caligulas Kopf herrschen mag, fängt das Bühnengeschehen immer wieder gut ein. Kurz denkt man, das Ganze hätte als Solo womöglich besser funktioniert. Wer weiß. Während bei Camus dann am Schluss Caligula wahlweise umgebracht wird oder sich selbst richtet, schlendert er in Darmstadt davon. Sein Volk geht bereitwillig auf die Knie, formiert sich zu einer kleinen Herde Schafe und schreit "Mäh, Mäh, Mäh". Ein paar Zuschauer haben da schon den Saal verlassen. Schlussendlich spricht von irgendwoher und warum auch immer Ophelia aus Heiner Müllers Hamletmaschine: "Es lebe der Hass (…) Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen." Mehr war nicht. Zu fragen wäre, wieso.
Caligula
von Albert Camus
Deutsch von Uli Aumüller
Regie: Christoph Mehler, Ausstattung:Jennifer Hörr, Musik: David Rimsky-Korsakow, Dramaturgie: Oliver Brunner.
Mit: Christoph Bornmüller, Gabriele Drechsel, Jörg Zirnstein, Katharina Hintzen, Alisa Kunina, Yana Robin la Baume, Stefan Schuster, Robert Lang.
Dauer: 1 Stunde und 30 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-darmstadt.de
Kritikenrundschau
Stefan Benz schreibt auf der Internet-Plattform der Allgemeinen Zeitung aus Mainz (28.8.2017), Uli Aumüllers Übersetzung von Camus‘ Drama lese sich als "Polit- und Psychothriller" so "packend", dass einem die "Maßlosigkeit des Diktators erschreckend aktuell vorkommen" müsse. Das Darmstädter Staatstheater reagiere damit also auf die Krise der Demokratien und den Vormarsch der Autokraten. "Und das Bemerkenswerteste an Christoph Mehlers Inszenierung in den Kammerspielen ist, dass sie dieses Angebot konsequent ignoriert." Für Mehler sei offenbar nicht der Diktator schuld an der Diktatur, sondern die Eliten, "ohne Mumm zur eigenen Meinung". Nur bleibe völlig unklar, was diese Menschenmarionetten denn unterwerfe. Christoph Bornmüller jedenfalls spiele alles andere als grausam, wechsele zwischen "laut und leise, Terror und Kinderspiel". Und weil sich seine Untertanen wegducken, sei er mit seiner "konsequenten Wahnsinnslogik" der einzig Normale.
"Trotz einiger peinigender Wiederholungsschleifen mit Witzeleien und unisono gebrüllten Fortissimo-Passagen springt kein Erkenntnis- oder wenigstens Schreckfunke über," so Matthias Bischoff in der Rhein-Main-Ausgabe der FAZ (29.8.2017). "Die Provokation bleibt im gepflegten Arragement stecken. Man wird nur lau gequält."
"Weh tut das nicht", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (29.8.2017). "Der Eindruck von Unverbindlichkeit entsteht vielleicht auch, weil die Umgebung chorisch, choreografisch und trotz erheblichen Engagements der Spieler unindividuell bleibt. Das ist natürlich Konzept, aber zu vielseitig verwendbar."
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Mir fiel es gar nicht so schwer den Abgesang auf eine gedemütigte, zum Widerstand leider unfähige Menschheit im Bild der Schafe zu erkennen. Dumme, unmündige Schafe, das sind und waren diese Leute, die alles über sich haben ergehen lassen und den Tyrannenmord nicht hinbekommen haben. Wenn da der sicher drastische Müllertext davon spricht, dass eine Frau die Welt zurücknimmt, die sie geboren hat, dann denk ich: ja, warum denn eigentlich nicht. Diese reduzierten Menschlein, die es jahrelang nicht gegen diesen schmächtigen Caligula geschafft haben, die sind irgendwie auch zurecht hinweggefegt worden. Das ist nicht liebevoll humanistisch, aber in einem Theaterstück für mich interessanter, als diese ganzen Karikaturen von Trump, bei denen wir Nicht-Trumps immer beruhigt lachen dürfen.
Warum ist es eigentlich eine offenbar zum Selbstverständnis gewordene Kritiker-Erwartung, von einer Theaterinszenierung gefälligst "gequält" zu werden oder dass sie einem wenigstens richtig "wehtun" müsse?
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