Oratorium - Im HAU Berlin gehen She She Pop mit Bertolt Brecht aufs private Wohneigentum los
Wo das schlechte Gewissen einzieht
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 9. Februar 2018. Womit könnte das Theater als moralisierende Anstalt sich besser bloßstellen – als mit einem Brechtschen Lehrstück? Aber, so fragen She She Pop in ihrer neuen Arbeit "Oratorium" weiter, könnte diese Blamage nicht zu neuen Erkenntnissen führen, die Wir! Gemeinsam! Live! weiterverarbeiten können?
Mütter ohne Absicherung versus Erb*innen
Privateigentum ist das brisante Thema dieser "kollektiven Andacht", für die She She Pop bei den "Theaterformen" in Hannover im Sommer 2017 begannen Material zu sammeln und mit der sie über weitere internationale Festivals gereist sind, um nun im HAU Berlin die offizielle Premiere zu präsentieren. In strenger epischer Form wird das Publikum per Teleprompter gebeten, den Anfang zu machen, d.h. den vorgegebenen Text abzulesen. Es spricht zunächst im großen Chor und wird dann in Einzelgruppen aufgespalten, wenn zum Beispiel nur die "Mütter ohne Absicherung" oder nur die "Erb*innen" zum Verlautbaren der Textzeilen aufgefordert werden – diese beiden Parteien kommen als Antagonisten am häufigsten zu Wort.
Auf die im Halbdunkeln daliegende Bühne tritt nach etwa zehn Minuten als fahnenschwenkende Prozession ein "Chor der Delegierten" aus She-She-Pop-Performerinnen Lisa Lucassen, Mieke Matzke und Berit Stumpf und sieben weiteren für die Berliner Vorstellungen gecasteten Performer*innen (unter ihnen Brigitte Cuvelier und Jean Chaize aus dem Castorf-Volksbühnen-Kosmos), außerdem Richard Koch und Karl Ivar Refseth, die dem "Oratorium" an Trompete und Vibraphon Rhythmus und dezente musikalische Untermalung geben.
Die Delegierten sagen, für wen sie sprechen. Ihre Positionen haben ein Schwergewicht im (künstlerischen) Prekariat, das dem HAU-Publikum ja entsprechen dürfte – aber eigentlich sollen natürlich möglichst viele Perspektiven einer diversen Gesellschaft repräsentiert werden. Während sie sich also in identitätspolitischem Furor immer weiter spezialisieren (Cuvelier: "Ich spreche für die Französischsprachigen in Brüssel"), mischen sich die Einzelstimmen zu einer unverständlichen Kakophonie, und klar ist irgendwann nur noch, dass sie mit ihren schönen großen, aus bunten, glitzernden Stoffen genähten Fahnen, die später auch als Kostüme dienen, allesamt Materialisten sind. Ob sie es aus ihrem Bewusstsein ausblenden oder nicht.
Die Fabel von der Entmietung
Ihr Thema umkreisen sie nun in einzeln und chorisch vorgetragenen Fabeln und Parabeln, wobei peinlich darauf geachtet wird, dass es nicht authentisch wird – notfalls vom Publikum, das die "Schriftstellerin" (Mieke Matzke), die die "Fabel von der Entmietung" beginnt, unterbricht: "Das ist eine Anekdote! Das sind Nebensachen. Worum geht es hier?" Über die Wohnungsnot, die es ja gerade sogar in den Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD geschafft hat, funktioniert dieser Enttabuisierungs-Versuch hauptsächlich – und funktioniert ziemlich gut.
Der Schriftstellerin also, die seit Menschengedenken in ihrer Wohnung im Prenzlauer Berg wohnt, wird ihre Wohnung unter den Hausschuhen wegspekuliert, und am Ende steht sie vor der Entscheidung, ob sie auszieht oder ihr Vorkaufsrecht nutzt, einen fetten Kredit aufnimmt und selber dazu beiträgt, dass die Mieten in ihrem Kiez weiter ansteigen.
Natürlich trifft sie keine Entscheidung. Genauso wenig wie der Chor der Erb*innen, der spontan aus dem Publikum auf die Bühne gebeten wird und einer Hochrechnung zufolge immerhin sechseinhalb Millionen Euro schwer ist, eine klare Handlungsanweisung enthält. Nein, so heilig ernst She She Pop das Brecht'sche Lehrstück formal durch den Kakao ziehen, Lieder von moralischer Überforderung und zynischer Empathie anstimmen und im "Unterhaltungsprogramm" das schlechte Gewissen auftreten und vom Publikum wegbuhen lassen – so aufrichtig ernst nehmen sie seinen auffordernden Charakter dann doch. Sie lassen das aufgeklärte Publikum in der Luft hängen und am Ende ein Summen anstimmen, das variiert wird von Einstimmigkeit zu Kakophonie zu harmonischer Mehrstimmigkeit. Skeptisches Summen mischt sich unter versöhnliches Summen. Welches Summen Ihr am liebsten mitsummt, müsst Ihr einzeln entscheiden, wenn Ihr mündig sein wollt!, lautet der Schluss. So wie Ihr die Eigentumsverhältnisse überprüfen müsst, für Euch und/oder für die Allgemeinheit.
Keine Solidarität ohne Öffentlichkeit
Egal wie Ihr euch entscheidet, Ihr handelt politisch, das ist auch deutlich geworden über die interaktiven anderthalb Stunden im HAU 2. Auch wenn es sich nicht so existentiell zuspitzte wie in der vielgefeierten "Lear"-Überschreibung "Testament", als She She Pop mit ihren Vätern in den Nahkampf um Generationengerechtigkeit gingen. Dafür sind andere Fragen auf den Plan getreten, am wichtigsten die nach der Funktion von Öffentlichkeit. "Wir sagen immer das, was hier steht" sagen wir, das Publikum, vom Telepromter gesteuert. Und der Chor der Delegierten stampft wütend mit den Füßen, denn Öffentlichkeit kann nicht ferngesteuert sein. Und sie kann auch nicht nur vorgespielt sein. Aber wie soll ohne Öffentlichkeit ernsthaft über Solidarität verhandelt werden?
Andererseits kann Verantwortung nur übernehmen, wer anerkennt, dass er sich in einem System befindet – und diese Erkenntnis ist hier gründlich eingeübt worden, "als Probe, für später", wie die vom Übertitel adressierten "Theaterwissenschaftler*innen" im Publikum kurz vor Schluss chorisch erklären. Man kann nur hoffen, dass sie Recht hatten und nicht doch die zynische Empathie den Sieg davonträgt. Da müsste sich – nicht nur – Brecht im Grabe umdrehen.
Oratorium – kollektive Andacht zu einem wohlgehüteten Geheimnis
von She She Pop
basierend auf Interviews mit Alleinerziehenden, Eingewanderten, Entmieteten, Erbinnen, freischaffenden Lohnarbeitern, Hausbesitzerinnen, Mietern, Wohnungseigentümern und Vermieterinnen aus Berlin, darunter: Marwan Abu Khalil, Knut Berger, Lamma Eli, Annett Gröschner, Elena Polzer, Tobias Richtsteig, Bettina Scheuritzel, Danica Lukici, Aenne Quinones, Thomas Eich, Dorothee Felger und Mitgliedern des Chors der Delegierten
Bühne: Sandra Fox, Kostüme: Lea Søvsø, Musik: Max Knoth, Trompete: Richard Koch, Vibraphon: Karl Ivar Refseth, Künstlerische Mitarbeit: Ruschka Steininger, Dramaturgische Mitarbeit: Peggy Maedler, Annett Gröschner, Technische Leitung & Lichtdesign: Sven Nichterlein, Produktionsleitung: Anne Brammen.
Von und mit: Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou, Berit Stumpf sowie dem Chor der lokalen Delegierten, in Berlin: Susanne Scholl, Saioa Alvarez Ruiz, Brigitte Cuvelier, Jean Chaize, Wenke Seemann, Antonio Cerezo, Jan Sobolewski.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.sheshepop.de
www.hebbel-am-ufer.de
"Obwohl das Thema eigentlich spannend ist, ermüdet die angestrengte Performance", findet Ulrike Borowczyk von der Berliner Morgenpost (11.2.2018). Die "chorischen Rituale" würde sich rasch "erschöpfen"; die Inhalte seien "sattsam bekannt". Der Abend verstehe sich "wohl auch als Anregung, über kapitalistische Missstände nachzudenken. Echte Anstöße finden sich aber nicht."
Ute Büsing berichtet im Inforadio des rbb (10.2.2018): "Muss das erwartete Erbe, die Doppelhaushälfte irgendwo auf dem Land, etwa mit dem Asylanten geteilt werden, den der Vater adoptieren will? Wie weit geht die Empathie, wenn Geld im Spiel ist? Es sind solche Fragen, die den zweistündigen Abend immerhin zum Gedankenexperiment machen. Besonders sinnlich oder spannend ist dieses 'Oratorium' aber nicht."
"Der Erkenntnisgewinn ist dann doch ziemlich dürftig", findet Barbara Behrendt im Kulturradio des rbb (10.2.2018). Trotz der vielen Recherche-Interviews im Vorfeld kratze der Abend doch "an der Oberfläche". She She Pop hätten eine "leichte ironische Art", die Kritik am kapitalistischen System zu inszenieren, "aber es bleibt ziemlich kuschelig und harmlos und natürlich auch schwer moralisierend".
Eine "wissend um die eigene Mittelschichtswohlstandsblase kreiselnde Inszenierung" hat Eva Behrendt gesehen und schreibt in der taz (12.2.2018): "Umverteilungsideen und Revolutionspläne werden keine geschmiedet." Das Gentrifizierungsdrama verliere zwar trotz formal ironischer Leitplanken nicht an individueller Tragik, kriege aber an keiner Stelle die Schlagkraft eines Schlüsselereignisses, das das System infrage stellt. "Denn She She Pop interessieren sich lieber für die spaltenden Emotionen, die sich auf beiden Seiten einstellen: ohnmächtige Wut und Neid bei den Mieter*innen, bestenfalls schlechtes Gewissen oder zynische Empathie bei den Eigentümer*innen."
Stimmen zu den Aufführungen der Produktion beim Berliner Theatertreffen 2019:
"Hamlet-Sujets, keine Ophelia-Themen" – als mögliche "Ikone eines neuen Bühnen-Feminismus" sieht Christine Wahl im Tagesspiegel (20.5.2019) die Inszenierung beim Theatertreffen: Formal angelehnt an Brechts Lehrstück-Methode, beschäftige sie sich "mit Eigentum, dem zusehends komplizierter werdenden Verhältnis zwischen ökonomischem und symbolischem Kapital und der Schwierigkeit demokratischer Aushandlungsprozesse". Daran arbeite das Frauenperformance-Kollektiv seit jeher, so Wahl: "jene Diskurse, die in der traditionellen Bühnen-Welt männlichen Protagonisten vorbehalten sind, in aller Selbstverständlichkeit mit eigenen Perspektiven zu besetzen".
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She She Pop und ihre Gäste haben diese brennenden Themen, die Berliner Bezirke grundlegend verändert haben, mit feiner Selbstironie und hübschem Unterhaltungswert verpackt. Annett Gröschners Mahnung, dass Oma Anni, die manche Wahlkampfplakate der Linken zierte, „bei einer weitblickenden linken Politik, für die die rot-rote Regierung neun Jahre Zeit hatte, gar nicht in diese Situation gekommen“ wäre, fehlte an diesem Abend jedoch. „Statt Genossenschaften zu fördern, wurden Abrissgenehmigungen für Plattenbauwohnungen erteilt und kommunaler Wohnungsbestand an Heuschrecken verkauft“, kritisierte Gröschner 2015 in ihrem Artikel. Kultursenator Klaus Lederer blieben diese unbequemen Wahrheiten erspart. Er durfte mit dem Rest des Publikums einen unterhaltsamen Theaterbesuch genießen, der zwar bekannte Missstände ansprach, dabei aber so harmlos blieb, dass er auch von amtierenden Senatsmitgliedern lächelnd konsumiert werden konnte.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/02/09/oratorium-she-she-pop-erzaehlen-im-hau-von-gentrifizierung-auf-dem-prenzlauer-berg-und-der-erbengeneration/
" ... einen unterhaltsamen Theaterbesuch genießen, der zwar bekannte Missstände ansprach, dabei aber so harmlos blieb, dass er auch von amtierenden Senatsmitgliedern lächelnd konsumiert werden konnte."
danke, damit haben sie den inhaltlich schwachen - oder sogar das ganze stück konterkarierenden?? - punkt genau getroffen. genauso verschenkt das theater völlig grundlos seine möglichkeiten von "kunst als waffe" in der AKTUELLEN auseinandersetzung. ganz bösartige gedanken erlauben sogar die interpretation einer gefälligkeitsdarbietung an die aktuellen brotgeber ...
Es gehört zu den Stärken des Abends, sich, sein Dilemma, sein Scheitern mitzureflektieren. Das auch darin besteht, dass er sich nicht zutraut, die dialogische Struktur eines scheinöffentlichen Pseudo-Diskurs, der die Zuschauer*innen zur Selbstbefragung drängt und zugleich die Anonymität des Sich-Versteckens zulässt, nicht traut. Also kommen bald die „Delegierten“ auf die Bühne, die Fahnen schwenken, aus denen später Kostüme werden sollen. Sie sprechen für gesellschaftliche Gruppen – und definieren erst einmal, für wen sie nicht sprechen. Bei Gast Brigitte Cuvelier etwa reduziert sich die von ihr akzeptierte Repräsentativität auf die „Französischspechenden in Brüssel“. Der kleinstmögliche Nenner regiert, am Ende bleibt man sich selbst der oder die Nächste. Brechtisch geht es weiter: mit der „Fabel von der Entmietung“, dem „Lied von der zynischen Empathie“ oder dem „von der moralischen Überforderung“. Die Möglichkeit von Solidarität wird diskutiert, ihre Unmöglichkeit thematisiert, etwa, wenn die gesellschaftliche Position die vermeintlich Solidarischen zu Gegnern macht. Die Entmietungsgeschichte – auf einem Text der Schriftstellerin Annett Gröschner basierend – lässt man immer wieder durchs Publikum als „Anekdote“ kritisieren, wärend Gröschners Worte die Geschichte einer Entfremdung vom Mitmenschen erzählen, der sich plötzlich nur noch als das wahrnehmen lässt, was er vermeintlich repräsentiert. Da wird das „schlechte Gewissen“ zum Unterhaltungsintermezzo, das vom Publikum von der Bühne gejagt werden.
Perspektiven kippen, spalten sich auf, Positionen werden hinterfragt, Gewissheiten verunsichert. Doch geschieht das alles mit einem Augenzwinkern, einem milden Lächeln und einem Gestus der Harmlosigkeit. Alles nur Spiel, sagt der Abend, eine Probe sei es, heißt es am Ende. Da darf man noch einmal gemeinsam summen, zusammen einen Ton finden, die Einheit zerstören und vielstimmig zusammensetzen. Da ist sie, die Gemeinschaft, fragil, temporär, nie greifbar, aber vielleicht zumindest für einen Moment denkbar. Antworten gibt der Abend keine, auch die Fragen packt er ein wenig zu sehr in Pappe, drückt zuweilen selbst ein wenig zynisch auf die Empathietube. Aber vielleicht hat er auch genau den Ort entdeckt, an dem sich genau solche Fragen verhandeln lassen, an dem es möglich erscheint, zumindest ein wenig aus der eigenen Zuordnung herauszutreten und sich ein anderes Augenpaar zu leihen. Womöglich ist das Spiel dieser Ort und die Probe der ernst. Last uns summen.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/02/11/lasst-uns-summen/