Die Verlobung in St. Domingo - In München verschneidet Robert Borgmann Heinrich von Kleists Novelle mit (Post-)Kolonialismus-Exkursen und dem Selbstmord des Autors
Wie ein Zootier
von Petra Hallmayer
München, 29. September 2018. Schon die Besetzungsliste macht klar, dass wir hier keine einfache Übertragung von Kleists Novelle auf die Bühne sehen werden. Nicht Gustav und Toni sind im Programmheft verzeichnet, sondern Heinrich und Henriette. Robert Borgmanns Inszenierung von "Die Verlobung in St. Domingo" überblendet den Doppelselbstmord von Kleist und Henriette Vogel am Kleinen Wannsee 1811 mit der im selben Jahr erschienen Erzählung. Darin sucht der Schweizer Gustav in den Wirren des Sklavenaufstandes im heutigen Haiti Zuflucht im Haus eines Schwarzen. Congo Hoango, "ein fürchterlicher alter Neger", wie Kleist schreibt, benutzt seine Ziehtochter, die "Mestize" Toni, als Lockvogel, um Weiße zu massakrieren. Gustav und Toni verlieben sich ineinander, doch weil er eine List von ihr missdeutet, unfähig ist, ihr vorbehaltlos zu vertrauen, endet die Beziehung tödlich.
Zwischen Rassismus-Kritik und Comedy
Kaum eine andere Kleist-Novelle wurde in jüngerer Zeit emsiger neu gelesen. Zahllose Arbeiten haben "Die Verlobung in St. Domingo" aus dem Blickwinkel des Kolonialismus-, Rassen- und Genderdiskurses untersucht. Daran wollte Borgmann im Cuvilliéstheater sichtlich anknüpfen. Er verschränkt nicht nur die Biografie des Dichters mit der Novelle, sondern versucht diese zugleich in einen aktuellen politischen Theaterabend zu überführen.
In einer Art Vorspiel steht in einem Rondell aus sich hebenden Lichtröhren eine schwarze Frau (Marie-Christiane Nishimwe). Drei bizarre Riesenbabys tapsen zeitlupenhaft auf sie zu, streicheln und füttern sie wie ein Zootier, ehe sie Bachs Kantate "Ich habe genug" anstimmt. In einer Videoeinspielung protestiert ein Mädchen in einem Flugzeug empört gegen die Abschiebung eines Afghanen. Danach hüpft Heinrich comedyhaft wild mit einem Degen fuchtelnd herein.
In beständig wechselnden Rollen führen uns die skurril kostümierten Schauspieler die dramatischen Geschehnisse in der ehemaligen französischen Kolonie St. Domingue vor. Reihum verschwinden ihre Gesichter unter einem von einem Totenkopf gekrönten Trichterhut. Mathilde Bundschuh steckt in einem durchsichtigen Zeltgewand mit rosa Schleife, Marcel Heuperman turnt in einem Glitzerfummel durch den Zuschauerraum. Auf T-Shirt-Kleidern mit bodenlangen Ärmeln prangen die Fotos von Anführern der Haitianischen Revolution und Opfern rassistischer Gewalt in den USA. Zwischendurch hören wir einen Ausschnitt aus Heiner Müllers Stück "Der Auftrag", dem Borgmann den berühmten Satz über die Untrennbarkeit von Revolution und Tod als immer wiederkehrendes Zitat entlehnt.
Überfülle der Einfälle
Allein er reißt zu viele Reflexionsstränge an, ohne jedoch einen davon stringent zu verfolgen. Nichts gewinnt wirklich Gewicht, weder der Verweis auf den Blutzoll von Befreiungskämpfen, noch das irgendwann in Leuchtschrift aufblinkende Wort "Hunger".
Dabei gelingen der von eindringlicher Live-Musik untermalten Inszenierung einige suggestive Bilder und überzeugende Szenen, wenn etwa Toni, die Gustav in eine "weiße Braut" verwandelt, eine blonde Perücke aufgesetzt bekommt und mit märchenhaften Versprechungen vom Paradies Europa überschüttet wird. Letztlich aber verzettelt sich Borgmann in einer Überfülle von durcheinander purzelnden Einfällen und wird so weder den großen Themen Kleists noch dem eigenen politischen Anspruch gerecht. Gerade dort, wo eine politische Lesart des Textes nahe liegen würde, greift er zu albernen Gags: Nirgends zeigt sich der kolonialistisch gefärbte Blick Gustavs deutlicher als in der finsteren Beschreibung Congo Hoangos, wenngleich er erkennt, wodurch dieser so mörderisch grausam wurde. Bei Borgmann mutiert die Figur des Rebellen Hoango unsinnigerweise zu einem Seehofer-Porträt auf einem Luftballon, das bloß ein paar Lacher auslöst.
Am Seehofer-Ballon entschweben
Nach über einer Stunde erwacht auf einer Art gläsernem Sarg Michael Jackson (Thomas Schmauser) und trägt uns Kleists Geschichte noch einmal von Anfang an vor. Warum er dies tut, wird wie so vieles in dieser Inszenierung nicht recht klar. Im Anschluss tollen Heinrich und Henriette lachend in historischen Kostümen herein und erzählen und spielen die tragische Schlusszene, in der Gustav Toni ermordet und sich selbst erschießt.
Der Tod der Beiden aber tangiert einen ebenso wenig wie ihre Liebe, die an dem mit assoziativen Regieideen überfrachteten Abend kaum einmal spürbar wird. Erst am Ende berührt er einen kurz emotional, wenn Marie-Christiane Nishimwe The First Time Ever I Saw Your Face singt. Gleich darauf jedoch kriegt sie den Seehofer-Ballon in die Hand gedrückt und muss an Seilen aufgehängt in den Bühnenhimmel entschwinden.
Die Verlobung in St. Domingo
von Heinrich von Kleist
Regie und Musik: Robert Borgmann, Bühne: Rocco Peuker, Kostüme: Bettina Werner und Rabea Stadthaus, Licht: Georgij Belaga, Dramaturgie: Götz Leineweber.
Mit: Mathilde Bundschuh, Marcel Heupermann, Marie-Christiane Nishimwe, Thomas Schmauser, Vito Brown, Samuel Wilson O`Bryant, Cyril Philipp, Mimo Saine.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de
"Als Etüde über das Blackfacing-Problem wirkt der Abend gelungen, doch der politisch-psychologischen Dimension Kleists scheint er kaum gewachsen, weil der Regisseur zu sehr seinen allerersten Assoziationen vertraute", schreibt Robert Braunmüller in der Abendzeitung (1.10.2018). "Anspielungen auf den Voodoo-Kult bleiben eine exotische Oberfläche. Und man tut Horst Seehofer und seiner Asylpolitik zu viel Ehre an, wenn man ihn auch nur als Luftballon auf die Bühne bringt. Das bleibt ein Gag ohne echten politischen Standpunkt." Für Kleists Unbedingtheit der Liebe samt ihrer Dialektik von Versehen und Erkennen interessiere sich Borgmann leider zu wenig. Und dass die Inszenierung zum Schluss ins Kleist-Biografische springt, empfindet Braunmüller als "sehr deutsches Geraune".
"Einen geräumigen Assoziationsteppich flickt Regisseur Robert Borgmann da zusammen: Kleist als kritisches Diskursmaterial", schreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.10.2018).
"Geglückte Bilder dafür, wie relativ Macht und wie umkämpft geschichtliche Deutungshoheit ist" erzeugt die Inszenierung für Christiane Lutz, die in der Süddeutschen Zeitung (1.10.2018) schreibt: "Einzig mit der Fülle der Anknüpfungsangebote verzettelt sich Borgmann stellenweise. Da schweben Heiner-Müller-Zitate neben Bach-Kantaten, da müssen unbedingt noch aktuelle Fälle von rassistischer Gewalt (...) thematisiert und das Handyvideo einer Schwedin gezeigt werden, die auf einem Abschiebeflug landet und sich weigert, sich zu setzen, ehe die Abzuschiebenden nicht wieder von Bord gehen können. Und dass das N-Wort mehrfach auf der Bühne fallen muss, (...) ist absolut überflüssig."
"Borgmann und der für die famose Bühne verantwortliche Rocco Pauker setzen aufs Ganze", schreibt K. Erik Franzen in der Frankfurter Rundschau (2.10.2018). "Angetrieben durch Borgmanns zuckende, beatlose Elektro-Live-Musik wird ordentlich Verwirrung gestiftet: Wer spielt hier wen, wer ist schwarz, wer weiß, wer Mann oder Frau? Die Spieler agieren gerne im Zuschauerraum, in Kostümen, die bedruckt sind mit Abbildungen von historischen Revolutionären und schwarzen Opfern rassistischer Gewalttaten aus unseren Zeiten. Horst Seehofer (als Konterfei für den schwarzen Anführer Congo Hoango auf einem Helium-Luftballon) darf auch mitmachen." Trotzdem ist aus Sicht dieses Kritikers ästhetisch noch Luft nach oben.
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Aber dann: So was Bescheuertes haben wir uns schon lange nicht mehr angetan.