Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos - Lucia Bihler inszeniert Werner Schwabs Radikalkomödie am Schauspiel Hannover
Alle vergiften!
von Frank Kurzhals
Hannover, 12. November 2018. Die Sprache des Österreichers Werner Schwab ist äußerst akrobatisch und verschwurbelt, sie ist sinnlich, lyrisch und Soziolekt gewordene Banalität, wunderbar metapherngesättigt und also hochassoziativ. Damit steht sie regelmäßig in Konkurrenz zu ihrer bühnenhaften Inszenierung. Die Bilder des Theaters reichen selten an Schwabs bildreiche Sprache heran, oft sind sie lediglich deren Illustration. Am Schauspiel Hannover ist Regisseurin Lucia Bihler nun mit "Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos" ein Coup gelungen.
Im Cumberland versetzt sie das Geschehen auf einen Wohnwagen-Parkplatz. Die einzelnen Stockwerke der Wohnungen markierten bei Schwab das Oben und Unten der Gesellschaft, in Hannover sieht man ein bewegtes Nebeneinander der Wohn- beziehungsweise Zirkuswagen. Das mittlere fensterlose Gefährt gehört Frau Grollfeuer (brillant besetzt mit Beatrice Frey). Sie ist bei Bihler der unangefochtene Star der Manege. Gekleidet, als wäre sie Teil des Pariser Folies-Ensembles, schwingt sie hoch oben über dem Bühnenboden auf einem Schaukelbrett. Dabei ist sie doch die verhärmte, alles verabscheuende und mit ihren Worten zersetzende Witwe eines Gynäkologen, Psychoanalytikers und Erkenntnistheoretikers, der sie zu einer Spötterin über die Welt werden ließ. Auf der Schaukel aber wird sie trotz ihrer Ekelhaftigkeit bewundert; von der Schaukel aus kann sie alle, die ihr zusehen, mit Peitschenhieben züchtigen. Sie lässt flitterndes Konfetti auf die da unten rieseln, und die unten sind begierig, etwas von dem Talmi zu erhaschen.
Nicht schön genug für dieses Bild
Zusammengekommen sind sie, weil Grollfeuer zu ihrem vermeintlichen Geburtstag eingeladen hat. Ihr tatsächliches Ziel: alle vergiften.
Frau Wurm, von Katja Gaudard hinreißend gespielt, immer auf dem Grat zwischen gelangweilt und exaltiert, ist eine Pensionistin, die ihre besten Jahre schon immer hinter sich hatte. Sie wird von ihrem klumpfußigen Sohn Herrmann zum Geburtstag begleitet, mit dem sie in einem wechselnden Verhältnis von falscher Freundlichkeit, Hass und versuchter körperlicher Liebe lebt.
Damit beginnt auch das Stück. Nicht direkt, sondern über eine Videoprojektion: Der große, massige Sohn malt in der Badewanne gerade kleine Bilder. Herrmann, Schwabs alter ego, möchte ein berühmter Künstler werden. Als sich seine Mutter einmal auf ein grünes Sofa im selben Raum lasziv und exaltiert wie in einem Balthus-Bild in Postition bringt, steigt der große Sohn nackt aus der Wanne, als wäre er aus einem der Bilder Jaques Louis Davids abgehauen, weil er nicht schön genug ist. Mit dem Hand-Staubsauger beginnt er das Sofa zu reinigen, sein Geschlecht baumelt über dem Kopf der Mutter, bis er erwartbar dicht mit dem Staubsauger an sie herankommt, ihr wie zufällig direkt unter den Rock fährt. Ende der Szene, Ende der Bild-Zitate aus der Welt von Hoch- und Populärkultur, bis die nächsten Anspielungen übereinanderpurzeln. Nicht enden wollende Assoziationsketten sind Bihlers Antwort auf Schwabs Sprache.
Im anderen Zirkuswagen haust die Familie Kovacic. Die püppchenhaft Ehefrau (Susana Genebra), Vermittlerin in ihrer Horrorfamilie, trinkt zum Verdrängen Schnaps. Verdrängen möchte sie ihren Mann, und auch sein Verhalten, denn es gelüstet ihm immer wieder nach seinen zwei großen Töchtern, die von Hannah Müller und Monika Oschek mit erstickender Komik auf die Bühne gebracht werden. Alle Kovacics träumen davon, endlich die Wohnung der Grollfeuer zu bekommen. In ihren Vorstellungen geht das am einfachsten, wenn sie sie abmurksen. Zum Beispiel auf dem Geburtstagsfest. Dann wollen sie, das würde alles noch schöner machen, am besten auch gleich die Wohnung der Familie Wurm annektieren. Diese Familie weiß, was sie will.
Komm auf die Schaukel, Frau Grollfeuer!
Beide, die Kovacics und die Wurms, sind mit ihren hellblonden Haaren und ihren überlangen Wimpern endlich auf der Geburtstagsfeier angekommen. Der Ort ist eine Manege, in der werden sie alle vorgeführt. Selten verliert Grollfeuer ihre Balance auf der Schaukel und wenn, dann wird ihr von Hermann Wurm rührend geholfen, um wieder ins Lot zukommen, Er, herrlich durchtrieben-naiv ins Leben geholt von Dennis Pörtner, rollt zwischendurch auch eine schwer gewordene Himmelskugel à la Chaplin durch die Manege, vorbei an der über allem schwebenden Schaukel. Seit Fragonards liebreizenden Schaukeln, seit dem 18. Jahrhundert, sind sie Bildsymbol der plakativen Leichtigkeit, des Entziehens und Annäherns, und so elegant eindeutig setzt Bihler hier das Motiv der Schaukel auch ein. Dass Liebe und Geld, Neid und Lust als Pole dazugehören, macht Grollfeuer zwischendurch immer wieder deutlich.
Die Bewegungen aller Manegeninsassen, angesiedelt zwischen Michael Jackson und einer Aufziehpuppe, verraten schnell: Ein freier Wille leitet keine der Figuren. Deswegen muß Grollfeuer auch all die so verhassten Geburtstagsgäste, ihre Mitbewohner, zwingend vergiften, ursprünglich mit Kuchen, hier ist es Konfetti, um so endlich zur alles verbessernden Volksvernichtung zu kommen. Als alle tot auf dem Boden liegen und Grollfeuer in den Schaukel-Seilen hängt, ausgespielt und ausgelebt, geht die Komödie auf Reset, wieder auf Los, und die Stehaufmännchen und -weibchengesellschaft beginnt den altbekannten Reigen erneut, jetzt aber versteht sie sich geradezu perfekt, wie geläutert, spricht aber nur noch im fast lippensynchronen Playback. Im Abglanz haben wir die Welt, auch die der Manege.
Schwab meinte "Theater ist so eine Art metaphysisches Bodenturnen". Lucia Bihler hat die Schwerkraft der Bodenturner aufgehoben, und die Volksvernichtung intelligent und anspielungsreich zum Schweben gebracht.
Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos
von Werner Schwab
Regie: Lucia Bihler, Bühne: Jana Wassong, Kostüme: Leonie Falke, Sounddesign: Jacob Suske, Dramaturgie: Rania Mleihi, Künstlerische Beratung: Sonja Laaser, Live-Video: Marie Falke.
Mit: Susana Fernandes Genebra, Rainer Frank, Beatrice Frey, Katja Gaudard, Hannah Müller, Monika Oschek, Dennis Pörtner.
Premiere am 11. November 2018
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielhannover.de
Aus Sicht von Ronald Meyer-Arlt von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (12.11.2018) überwindet Regisseurin Lucia Bihler den Volksstück-Realismus, der immer noch in dem Stück steckt und versetzt die Komödie vom Mietshaus in einen Zirkus. "Oje. Zirkus," denkt Meyer-Arlt dabei zuerst noch. "Wenn es in der Intendanz von Lars-Ole Walburg am Schauspiel Hannover etwas im Überfluss gab, dann sind es Clowns. Clowns und Nebel. Man hätte seit zwei Spielzeiten schon beides verbieten sollen." Dann aber entwickelt der Abend für ihn jenseits aller Theaterüblichkeiten "etwas sehr Eigenes. Etwas sehr Feines. Etwas gemeines Feines." Durch die Nahaufnahmen und durch elektronische Verstärkung bestimmter Geräusche komme das böse Geschehen ganz nah. "Alle Darsteller sind leise Zombies, sie zeigen Feinnervigkeit im Gröbsten, unangestrengte Überdeutlichkeit und Kloakengrandezza. Das ist manchmal schwer auszuhalten, aber es lohnt sich. Allein schon wegen der Sprache."
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