Medea - Simon Stones Überschreibung des Stoffes von Euripides am Burgtheater Wien
Prinzessin Borderline
von Reinhard Kriechbaum
Wien, 20. Dezember 2018. Was für eine Frau steht da ihrem Noch-Ehemann gegenüber! Unmöglich, sich diesem Charakter zu entziehen. Sie zieht alle Register, gibt Schuld in homöopathischen Dosen zu, um gleich einer Seelen-Krake die Tentakel der Emotion auszufahren. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, ist sie zutiefst davon überzeugt, dass ein Neubeginn möglich sei. Nach einem Mordversuch an ihrem Mann hat Anna lange Zeit in der Psychiatrie verbracht. Nun die erste Begegnung mit ihm, mit den Kindern. "Nur nichts falsch machen", mögen die Ärzte und die Sozialarbeiter Lucas geraten haben. Er steht da wie die Allegorie des Biedermanns, hoffnungslos überfordert, ausgeliefert dieser leidenschaftlich fordernden Wiedereinsteigerin in einen längst nicht mehr existenten Familienverband. Lucas lebt unterdessen mit Clara zusammen, "die fünf war, als wir uns lieben lernten", wie Anna ihm später an den Kopf werfen wird.
Caroline Peters ist diese heutige Medea, die Simon Stone einem tatsächlichen Kriminalfall in den USA nachempfunden hat. Selbst mit dem Zucken eines Mundwinkels blitzt ihr schier unbändiges Temperament auf. Stone hat sich von Bob Cousins eine gleißend weiße, völlig leergeräumte Bühne bauen lassen, in der die Handelnden umgehen wie in einer psychotherapeutischen Familienaufstellung. Macht nichts, wenn eine Figur am Rand (oder gar im Zentrum) stehen bleibt in einer Szene, wo sie eigentlich gar nicht mehr hin gehört. Die Bindungen oder die zerrissenen Fäden werden so nur sichtbarer, krasser, bedrohlicher.
Sie: Psychiatrie-Patientin, er: Mitarbeiter einer Pharma-Firma
Simon Stone ist mit seiner "Medea"-Überschreibung ganz nah an Euripides, an der "Hexe großen Stils", wie es Peter von Matt in seinem Essay "Mythos Medea" im Programmheft formuliert. Stone lässt auch die Pharmaindustrie mitmischen: Kreons Königshof ist eine Firma von Potenzmittelforschern, in der Lucas/Jason Karriere macht. Wie (heutiger) Alltag und der starke Sog des absolut nicht "antik" sich gerierenden Mythos ineinander greifen, birgt nicht selten das Zeug auch zur Komödie. Kaum in einer "Medea" so oft gelacht! Aber kein Lachen ohne unmittelbaren Kickpass ins Bodenlose. Stets lauert die existenzielle Verzweiflung.
Wie umgehen mit einem Menschen, der Tatsachen und schon gar nicht Grenzen zu akzeptieren vermag? Lukas macht – natürlich – alles grundfalsch, indem er wider besseres Gewissen da und dort einlenkt. Es kann gar nicht ausbleiben, dass er mit der Ex, von der er noch gar nicht geschieden ist, wieder im Bett landet.
Die Inszenierung kam, in niederländischer Sprache, schon 2014 in Amsterdam heraus, war jüngst auch in London zu sehen. Sie firmiert im Burgtheater folgerichtig als deutschsprachige Erstaufführung. Alleinstellungsmerkmal in Wien ist gewiss die Besetzung. Caroline Peters gelingt fulminant der Wandel von der Wiederkehrerin neben der Spur zur großen Tragödin und Realitätsverweigerin. An dieser Entwicklung hat aber auch das Umfeld entscheidenden Anteil. Steven Scharf ist Lucas, ein weicher Lavierer, für den man rasch das Wort Waschlappen parat hält. Mit seiner wesentlich jüngeren neuen Gefährtin (Mavie Hörbiger), drei Köpfe kleiner als er, lebt er in einem Ungleichgewicht, nach dem sein Ego sich möglicherweise schon immer gesehnt hat. Aber auch sie ist nicht "schwach". Christoph Luser spielt ihren Bruder, der Lucas einmal hart an die Kandare nimmt und an die Verpflichtung Clara gegenüber erinnert. Das ist der Knackpunkt, ab dem sich das Fatum unerbittlich gegen Anna wendet.
"Du hättest etwas tun können"
Die Dialoge sind pointiert-lebensnah, und doch steht die Aufführung für einen Stil, der sich abhebt von der Konvention des Alltäglichen. Die beiden Kinder (in der Premiere Quentin Retzl und Wenzel Witura) sind fast immer auf der Bühne, filmen die fatalen Szenen einer elterlichen Ehe. Das wird groß übertragen, und aus diesen Nahaufnahmen bekommt man so recht die brillante mimische und gestische Feinmotorik des Ensembles mit. Das Premierenpublikum zollte ausgiebigen Jubel.
Und das letale Ende? Auch da: Familienaufstellung – für Medea so etwas wie die ultimative Selbst-Therapie. Mord und Selbstmord (durch das Anzünden des Hauses) ist zu dem Zeitpunkt die einzig denkbare Lösung für sie, der jetzt erst die Ausweglosigkeit ihrer Lage endgültig bewusst geworden ist. Der Ton beruhigt sich. Anna/Medea ist eine starke Argumentiererin geworden, die auch die Mitschuld ihres Gegenübers einklagt.
Das Ende wird uns von der Fürsorgerin Anne-Marie-Lou (Irina Sulaver) kolportagehaft geschildert: Schwarzer Brandregen fing irgendwann an von oben in den weißen Bühnenraum zu rieseln, als ob der Regisseur uns anzeigen wollte, dass hier ein Entschluss längere Zeit schon feststeht. Anna wird die schlafenden Kinder dann mit dieser Asche bedecken und ein letztes imaginäres Telefonat mit Lucas führen: "Du wirst nach Hause kommen und sehen, dass dein Leben unwiederbringlich anders geworden ist" und "Du hättest etwas tun können ...".
Im entscheidenden Moment also dreht Simon Stone nicht weiter an der Emotionsschraube, sondern lässt das Ungeheuerliche, das Ausweglose einer Situation ganz ruhig für sich sprechen. Dadurch ein doppelt starker Moment.
Der Medea-Stoff lässt Stone auch in naher Zukunft nicht los: Bei den Salzburger Festspielen wird er Luigi Cherubinis gleichnamige Oper inszenieren.
Medea
Simon Stone nach Euripides, Übersetzung von Martin Thomas Pesl
Regie: Simon Stone, Bühne: Bob Cousins, Kostüme: An D'Huys, Fauve Ryckebusch, Musik: Stefan Gregory, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Caroline Peters, Steven Scharf, Mavie Hörbiger, Christoph Luser, Irina Sulaver, Falk Rockstroh, Quentin Retzl, Wenzel Witura.
Deutschsprachige Erstaufführung: 20. Dezember 2018
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.burgtheater.at
"Ein Melodram (...), ein Serienstoff mit mythischen Geschmacks- und Aromabeigaben", so beschreibt Ronald Pohl den Abend in Der Standard (22.12.2018). "Es ist kein Wunder, dass Simon Stones Theater das frenetisch bejubelte Muster für eine zeitgemäße Abwicklung von Tragödien bildet. Wo sich Geschichten voller Unheil am ehesten als Farcen auf Twitter wiederholen, da kommt einem dieses tadellose geschnäuzte Netflix-Theater bereits wie der Ausdruck des Weltgeists vor."
"Der Abend funktioniert. Das liegt nicht zuletzt an der fulminanten Besetzung: Christoph Luser, Irina Sulaver, Falk Rockstroh und Steven Scharf als Lucas machen das Bühnengeschehen auf eindringliche Weise plausibel. Caroline Peters in der Rolle der Anna-Medea spielt überhaupt eine der Rollen ihres Lebens", sagt Günter Kaindlstorfer im Deutschlandfunk (21.12.2018). "Man sagt, Simon Stone mache Theater für die Netflix-Generation. Dagegen ist nicht das Geringste einzuwenden, schon gar nicht, wenn ein Theaterabend so unter die Haut geht wie diese 'Medea' am Burgtheater."
"Irgendwo zwischen Kolchis und Kansas" sei das Wesentliche auf der Strecke geblieben, "weshalb sich der Abend so schal anfühlt wie ein seit 2000 Jahren offener Rotwein", schreibt Jan Küveler in der Welt (22.12.2018). "Man reibt sich die ganze Zeit die Augen und denkt, krass, war Medea denn nie mehr als Marienhof? Eben bis man nach Hause kommt und bei Euripides oder Müller nachschlägt." Euripides' "irrer Stoff" werde verharmlost und trivialisiert, "begeistert beklatscht von Leuten, die genauso gut ein x-beliebiges ZDF-Fernsehspiel hätten einschalten können". "Wenn dann noch die erste Feministin Medea, magiebegabte Hexe, Nichte der Kirke und der Pasiphae und also Cousine des Minotaurus, vor Wut rasend im Feuerwagen ihres Opas Helios, Repräsentantin einer tiefen, dunklen Weiblichkeit, Gegenpol einer unterdrückerischen männlichen Rationalität, zur hysterischen Sauftrine gestaucht wird, die schließlich nicht stolz-erschüttert triumphiert, sondern sich feige mitverbrennt, dann ist es wohl die Regie, die ganz weit zurückwill hinter die Möglichkeiten der Gegenwart, die sie so läppisch behauptet."
Unter der Überschrift "Medea" präsentiere Simon Stone "die läppische Psychonummer einer durchgedrehten Pharmazeutin (...), die sich nicht mit der neuen Beziehung ihres Ex-Mannes abfindet und aus Rache alles wegmordet, was gerade in ihrer Küche steht", und es wirke "wie eine schlechte Parodie auf die 'moderne' Klassiker-Adaption", ätzt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.12.2018). "Weder als Autor noch als Regisseur kann Stone seinem Ensemble etwas bieten, alles bleibt blass und bieder." Stones "Medea" sei "keine Fassung, denn sie fasst nichts ein", so Strauss. "Kein bisschen vom Unvermeidlichen des Medea-Stoffes überträgt diese Produktion."
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