Amir - Berliner Ensemble
Clan ohne Autor
von Frauke Adrians
Berlin, 27. April 2019. Hier rennst du ständig gegen die Wand, auch wenn du dich gar nicht bewegst. Die Bühne – auf der du nie vom Fleck kommst, egal, wie schnell du joggst, boxt oder liegestützt – ist eine Drehbühne der perfiden Art, denn sie dreht sich nicht mit dir, sie lässt nur diese Wand um sich selber kreisen, und wenn du nicht aufpasst, erwischt die dich. So als würdest du aus der rotierenden Zentrifuge geschleudert: geprüft und für zu leicht befunden. Herr Winter vom BAMF prüft schon gar nicht mehr, der verlängert alle halbe Jahre deine Duldung, automatisch, unerbittlich, in Endlosrotation.
Ein Lebenslauf voll Gewalt
Ein gutes Bühnenbild sagt viel, Franziska Bornkamms Bühnenbild spricht Bände. Die Wand gehört zu einer finsteren Workout-Bude, in der Amir und seine Geschwister sich erbarmungslos in Hochform trainieren, ohne zu wissen, wozu. Arbeiten darf Amir als staatenloser Geduldeter nicht, sein Neuköllner Lebenslauf, aus dem Off leidenschaftslos aufgelistet von Herrn Winter (Owen Peter Read), besteht seit seinem elften Lebensjahr aus Diebstahl und Gewalttaten.
Mario Salazar hat den vier Geschwistern aus der palästinensischen Flüchtlingsfamilie Rahman ein wortreiches und hochartifizielles Drama gewidmet, ein Stück, eigens verfasst im Rahmen des Autorenprogramms des Berliner Ensembles. Nur: Dieses Werk wurde hier nicht aufgeführt. Vom Originaltext des Autors sind sechs Personen und ein paar Handlungsbruchstücke geblieben; von den Dialogen ist so gut wie nichts übrig in dem "Amir nach Motiven von", der im Kleinen Haus des BE auf die Bühne kam.
Leben in der Duldung: Burak Yigit als Amir und Owen Peter Read (in der Projektion) als Mann vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge © JR Berliner Ensemble
Man kann sagen, dass Regisseurin Nicole Oder und das Ensemble Salazars Stück sehr wirkungsvoll auf den glühenden Kern der Wut reduzieren und konzentrieren, den der Autor in langen Dia- und Monologen umschreibt und gelegentlich auch überschreibt. Das Sextett um den furiosen Burak Yigit in der Titelrolle bietet einen mitreißenden Theaterabend, der mit neuköllnischen Clan-Klischees spielt, ohne das Leiden seiner Protagonisten an der eigenen Perspektivlosigkeit zu belächeln.
Selbsthass und Zerstörungswut, Larmoyanz und Verzweiflung, jeder der drei Rahman-Brüder lebt sie auf seine Weise aus: der älteste (Tamer Arslan) als prahlerischer Clanchef, der jüngste (Elwin Chalabianlou) in wutschnaubendem Rap. Für den verzweifelten Amir scheint sich ein Ausweg zu eröffnen, als er die Deutsche Hannah (Nora Quest) kennenlernt. Doch nur seine Schwester Leila (Laura Balzer), unberührt von der letztlich hohlen Brüderbündelei, boxt sich eigenständig ins Freie.
Förderprogramm in der Krise
Das ist intensiv gespielt und überdies poetisch illustriert von Bente Theuvsen, die die traumatischen Erinnerungen, die kleinen Fluchten und die alles auslöschende Hoffnungslosigkeit der Akteure live auf die Folie eines Overhead-Projektors tuscht. Doch all das überdeckt nicht die Frage, wozu das Berliner Ensemble ein Förderprogramm für Autoren und ihre vorzugsweise zeitaktuellen Stoffe auflegt, wenn es die darin entstandenen Stücke dann nicht spielt.
Begegnungen in der Mucki-Bude: Tamer Arslan, Laura Balzer und Elwin Chalabianlou © JR Berliner Ensemble
Den am BE verworfenen Originaltext Salazars bekam jeder Premierenbesucher als formschönes Büchlein in die Hand gedrückt; ob das dem Autor ein Trost ist, sei dahingestellt. Sein Stück – Raubüberfälle, Geldautomat, Nachtclub, Huren, Liebesschwüre, Schwangerschaft und Pathos inklusive – hat Längen und Unwuchten, und auch wenn man Nichtgelesenes und Nichtaufgeführtes schwerlich miteinander vergleichen kann, ergibt die Oder'sche "Amir"-Aneignung vermutlich den stärkeren Theaterabend.
Dennoch bleibt nicht nur ein seltsamer Nachgeschmack, es bleiben auch Fragen: Wessen Werk wird hier eigentlich gespielt? Und wie soll es mit dem Autorenprogramm weitergehen? "Amir" war nach Martin Behnkes und Burhan Qurbanis "Kriegsbeute" erst das zweite Stück aus dieser Reihe. Sollte sie nicht eigentlich auch die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Autoren und Regisseuren fördern? Zumindest im Fall "Amir" ist da etwas gründlich schiefgelaufen.
Amir
nach Motiven des Dramas von Mario Salazar
Bearbeitung von Nicole Oder und Ensemble
Regie: Nicole Oder, Bühne: Franziska Bornkamm, Künstlerische Beratung: Clara Topic-Matutin, Live-Zeichnungen: Bente Theuvsen, Kostüme: Vera Schindler, Licht: Benjamin Schwigon.
Mit: Tamer Arslan, Laura Balzer, Elwin Chalabianlou, Nora Quest, Owen Peter Read, Burak Yigit.
Premiere am 27. April 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.berliner-ensemble.de
Kritikenrundschau
Mario Salazars Stück sei in seiner "in seiner biedermeierlichen Klischeeverliebtheit deutlich daneben gegangen", urteilt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (29.4.2019). Nicole Oder und ihr Team hätten der Grundkonstellation des Stücks um Arbeitsverbot und Abdriften in die Kriminalität "die nötige Schärfe verpasst und ein Spiel daraus gemacht, das nicht viel von Salazars Text übrig lässt, dafür aber die beste Arbeit ist, die bis jetzt aus dem 'Autoren-Programm' des BE hervor ging". Am BE werde aus "Amir" ein "düsteres, wichtiges Aufrüttlungsstück, das der menschenfeindlichen Seite dieses Wohlstandsystems Gestalt gibt".
"Nicole Oder und ihrem Ensemble" sei "ein starker Text über migrantische Erfahrungen in Berlin gelungen", schreibt Miriam Lenz im Tagesspiegel (29.4.2019). "Eindrücklich zeigen sie die Ausweglosigkeit des Lebens als Geduldete – zermürbenden Behördengänge, die Angst vor Abschiebung, die Zerrissenheit zwischen dem Wunsch dazuzugehören und der gleichzeitigen Wut auf 'die Deutschen'". Im Ganzen: "ein Theaterabend, der mit seiner schroffen Intensität im Gedächtnis bleibt".
Mario Salazar habe "eine Art Neuköllner Gangster-Ballade" verfasst, "eine migrantische Hauptmann-von-Köpenick-Variante, effektvoll, klischeefreudig, immer am Rand von Überzeichnung und deftiger Milieu-Seligkeit", berichtet André Mumot in "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (27.4.2019). Auf der Bühne sei "Amir" völlig anders: "eine schmerzhafte Familiengeschichte, in der alle Figuren ihre Authentizität nicht nur behaupten, sondern auf der Bühne voll entfalten. Es ist ein starker, physisch mitreißender Abend geworden, mit auf die rotierende Wand projizierten Live-Zeichnungen von Bente Theuvsen, markigem Hip-Hop (performt von Elwin Chalabianlou) und einer Dramatik, die keine Genre-Konzessionen machen muss, um zu funktionieren". Dennoch bemängelt der Kritiker den "Affront" gegen den Autor und den "Selbstwiderspruch" im Autorenprogramm des Berliner Ensembles.
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Nicole Oder hat als Hausregisseurin am Heimathafen Neukölln z.B. mit „Peng Peng Boateng“ unter Beweis gestellt, dass sie starke Abende zu gesellschaftlich relevanten Themen, vor allem zur Migrationspolitik, gestalten kann. Deshalb lag es nahe, dass Oliver Reese und das Berliner Ensemble ihr angeboten haben, den Text „Amir“, der im Rahmen des Autorenprogramms am BE entstanden ist, uraufzuführen.
Während der Proben wurden die unterschiedlichen Auffassungen aber offensichtlich so gravierend, dass sie sich sukzessive vom Text entfernte, den André Mumot auf Deutschlandfunk Kultur als „Räuberpistole“ einstufte. Anstatt das Projekt ganz zu beenden und etwa völlig Neues in Angriff zu nahmen, kam ein lauer Kompromiss heraus: nichts Halbes und nichts Ganzes. Die Figuren-Konstellation blieb zwar erhalten, vom Dramentext sind aber noch nur Spuren-Elemente übrig geblieben. „Amir“ ist eine Stückentwicklung, die im Probenprozess noch nicht über das Versuchsstadium hinauskam und mit thematisch vergleichbaren Arbeiten am postmigrantischen Gorki Theater nicht mithalten kann.
Mit diesem Ergebnis ist niemand gedient: Weder der Regisseurin noch dem Autor noch dem Theater. Das mit großem Anspruch gestartete und schon durch das Zerwürfnis mit Moritz Rinke ins Schlingern geratene Autorenprogramm wird so zur Blamage.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2019/04/27/amir-berliner-ensemble-theater-kritik/
Der kurze Augenblick, in dem anderes möglich scheint als das Vorgegebene verfliegt. Er bleibt zurückt mit sich, seinen Dämonen, dem Nichts. Da verschwindet das Spiel aus Licht und Dunkelheit, verstummen die anrennenden Rhythmen der Musik, der Raps, der flöiegenden Fäuste und rennenden Füße. In gleißend gleichgültigem Licht erstrahlt die Leere, die weiße Wand, das Nirgendwo und das Nirgendwohin. Stille, Erschöpfung nach 90 hochintensiven Minuten im Herz der Finsternis, das unsere Gesellschaft so gerne verbirgt. Scheint das Licht, zeigt es, was wir erwarten: die Nicht-Integrierten, die fremd Bleibenden. Warum? Das zeigt sich im Zwielicht dieser Nicht-Uraufführung. Die zu sich findet, indem sie sich selbst genügt, die Geschichten in sich und den Darsteller*innen findet, Autorschaft anders denkt, kollektiv, gegenwärtig, ungefiltert, unmittelbar. Wie dieser ganze aufwühlende, durchschüttelnde, augenöffnende Abend.
Komplette Rezension: stagescreen.wordpress.com/2019/04/28/eine-endlosschleife-namens-leben/
Jetzt wiederholt sich an Reeses Berliner Ensemble die gleiche Geschichte. Das im Autorenprogramm entwickelte Stück AMIR landet auf dem Müll und etwas anderes wird auf die Bühne gestellt.
Die Autoren stehen als Deppen da. Ob zu Recht, will ich gar nicht fragen. Nur unnötig ist es. Denn warum setzen Khuon und Reese nicht gleich konsequent auf Remix-Autorentage und Zweitverwertungs-Autorenprogramme?
Sprich: Warum wird nicht konsequent nach bereits andernorts gefloppten Theaterstücken Ausschau gehalten, die sich hervorragend zum nachträglichen Ausschlachten sowie zum Andocken nachgereichter Texteinfälle aus fremder Hand eignen? Statt Enttäuschungen gäbe es späte Genugtuung an die Autoren zu verteilen. Nach dem Motto: Du warst auf halbem Wege, und wir vom Theater habens jetzt komplett gemacht. Also: Recycling statt Neuschöpfung! Ausnutzen der Ressourcen! Nicht Talentschmiede sondern Schnäppchenjäger. Da könnten Reese und Khuon eventuell noch mal zu der "großen Form" auflaufen, die beiden bislang so schmerzlich fehlt.
Das neue Berliner Ensemble ist groß gestartet mit der DEVISE, dass hier ein Ort entsteht, an dem zeitgenössische Dramatik und die dazu gehörenden Autoren und Autorinnen im besten Sinne der Tradition des Hauses einen neuen Ort finden. Brechttheater - Autorentheater. Auf dem Spielplan ist davon nichts zu finden. Das Autorenprogramm dümpelt ohne Leitung und Haltung vor sich hin. Das DT hat tatsächlich ein klares Profil, was Uraufführungen, Autorentheater, etc... betrifft. Das BE dagegen ist profilmässig was?
Ein Stadttheater. Das ist doch schade und unter den Möglichkeiten. Und eine junge Regisseurin aus Berlin vom Heimathafen ans BE zu holen ist politisch gesehen auch nur halb überzeugend, wenn nicht ebenfalls unter den Möglichkeiten.