Verlorene Kämpfer - Staatstheater Wiesbaden
Die Terroristen aus der Nachbarschaft
von Alexander Jürgs
Wiesbaden, 28. April 2019. Etwa zur Halbzeit des Stückes beginnen die Spekulationen, die Gedankenspiele, die Fragen. Es geht um die Ermordung von Edward Pimental in der Nacht zum 8. August 1985. Eine Frau aus der RAF hat den Soldaten der US-Armee in einem Wiesbadener Nachtclub, dem "Western Saloon", angesprochen und den Club auch gemeinsam mit ihm verlassen. Kurz darauf wurde der junge GI getötet. Der Grund: Die Terroristen wollten an seinen Dienstausweis kommen.
Ein Kommando aus RAF- und Action-Directe-Terroristen setzte ihn später ein, um einen Sprengstoffanschlag auf die Rhein-Main Air Base, einen Stützpunkt der amerikanischen Luftwaffe am Frankfurter Flughafen, zu verüben. Die brutale Ermordung von Pimental, deren einziger Zweck es war, an seinen Ausweis zu gelangen, stellte eine Zäsur in der Geschichte der Roten Armee Fraktion dar. Selbst in der sonst so treuen, linksradikalen Unterstützerszene wurde sie harsch kritisiert.
Die kalte Sprache der RAF
Zwischen hohen, weißen Stellwänden auf der ebenso weißen Bühne versuchen sich die Darsteller in einer Art Reenactment dieser Nacht. Welche Musik spielte damals im "Western Saloon", als sich die Fallenstellerin ihrem Opfer näherte? War es Disco oder abgeschmackter Rock? Warum haben die Terroristen gerade Pimental ausgewählt? War es wirklich das RAF-Mitglied Birgit Hogefeld, das von Zeugen in der Bar gesehen wurde und für die Tat auch verurteilt wurde, das den GI anmachte? Tat er ihr leid? Was hat sie gespürt, als sie ihn umarmte? War ihr Freund, Wolfgang Grams, dabei? Hat er vielleicht den Soldaten getötet?
Slapstickhaft hecheln die Schauspieler durch die Möglichkeiten, jede Eventualität wird einmal atemlos durchgerattert. Dann hört man – im Kommandoton vorgetragen, in der kalten, technokratischen Sprache der RAF – die Rechtfertigung für den Mord. Und gleich danach: irgendetwas anderes.
Deutsche Geschichte im Negativ: Paul Simon als RAF-Mann Wolfgang Grams © Karl und Monika Forster
"Verlorene Kämpfer", geschrieben von Maxi Obexer, inszeniert von Clemens Bechtel in der Wartburg, einer Nebenspielstätte des Wiesbadener Staatstheaters, erzählt die Geschichte der RAF-Terroristen Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld. Beide stammten aus Wiesbaden. Grams spielte als Jugendlicher als Statist am Staatstheater, Hogefeld wollte Orgelbauerin werden, nahm Unterricht in der Herz-Jesu-Kirche im Stadtteil Biebrich. Radikalisiert haben die beiden sich in linksradikalen WGs und in der Roten Hilfe, die als Rekrutierungsstätte der RAF galt und es in vielen Fällen auch war. Hogefeld und Grams gehören zu den wenigen, von denen man heute überhaupt weiß, dass sie Teil der dritten Generation der RAF waren – ein Großteil der damaligen Mitglieder blieb dagegen unentdeckt.
Geschichtsstunde im Schnelldurchlauf
Mit viel Tempo und auch ein paar Lachern wird die Entwicklung des Terrorpaars durchgespielt: die Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt, der fanatische Furor, der Schritt in die Illegalität, die Zweifel, die Verhaftung Hogefelds und Tötung Grams' auf dem ostdeutschen Provinzbahnhof Bad Kleinen. Manches wirkt grotesk, oft wird gebrüllt. Viel mehr als eine Geschichtsstunde im Schnelldurchlauf, leicht verdauliches Edutainment, kommt dabei nicht heraus. Denn mit ihrem Stück stellen Obexer und Bechtel keine Fragen, die unter die Oberfläche gehen. Sie suchen nicht nach Beweggründen, sie forschen nicht nach den Momenten, in denen der Idealismus ins Barbarische gekippt ist.
Wie Hipster, die sich in den Terrorismus verirrt haben: Paul Simon, Linus Schütz, Lina Habich, Mira Benser © Karl und Monika Forster
Und sie interessieren sich auch nicht wirklich für die Randfiguren der Geschichte. Nicht für die Eltern der Terroristen, die im Stück zu bloßen Beistehern ihrer Kinder werden, und auch nicht für die Opfer wie den Banker Alfred Herrhausen oder den Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder, über die es zwar kurz heißt, dass sie "Augen für beide Seiten" hatten und zu den "Fortschrittlichen" zählten, die dann aber doch bloß Staffage bleiben. Wie eine Figur aus einer schlechten TV-Serie wirkt ein Ermittler des – ebenfalls in Wiesbaden beheimateten – Bundeskriminalamts, der einen Kurzauftritt hat: Benjamin Krämer-Jenster gibt ihn als pfeiferauchenden Griesgram in altmodischem Sakko. Klischeehafter geht es kaum.
Preiselbeeren sind aus
Auch Hogefeld und Grams bleiben Schablonen. Lina Habicht spielt die junge Hogefeld in einem Retro-Blouson mit Farbklecksmuster, Paul Simon als schlaksiger Grams trägt Parka und gestreiften Wollpullover. So erscheinen sie ein bisschen wie Hipster, die sich in den Terrorismus verirrt haben. Die Sätze, die sie sprechen, haben oft etwas Schulbuchhaftes.
Ende in Bad Kleinen 1993: Paul Simon als RAF-Mann Wolfgang Grams © Karl und Monika Forster
Die skurrilste Szene spielt am Esstisch der Ferienwohnung, in der das Paar vor dem Zugriff in Bad Kleinen übernachtete. Habicht stellt als Hogefeld den bewaffneten Kampf und damit ihren kompletten Lebensentwurf in Frage. Ihr Partner geht jedoch nicht darauf ein, flucht weiter über das zähe Stück Fleisch auf seinem Teller und lamentiert darüber, dass die Preiselbeeren aus sind. Absurder hätte es sich selbst Bernd Eichinger nicht ausdenken können.
Verlorene Kämpfer. Vom Ende der Roten Armee Fraktion
von Maxi Obexer und Clemens Bechtel
Regie: Clemens Bechtel, Text: Maxi Obexer, Bühne: Matthias Schaller, Kostüme: Vesna Hiltmann, Dramaturgie: Susanne Birkefeld.
Mit: Mira Benser, Lina Habicht, Benjamin Krämer-Jenster, Bettina Römer, Linus Schütz, Paul Simon.
Premiere am 28. April 2019
Dauer: 1 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-wiesbaden.de
Kritikenrundschau
Dieser Theaterabend behaupte "gar nicht die perfekte Rekonstruktion; wo es um konkrete Ereignisse geht, baut er die Szenen aus Fragen und Vermutungen", schreibt Johannes Breckner in der Main Spitze (30.4.2019). Clemens Bechtel wechsele geschickt Perspektiven und Erzählhaltungen. "Zumal er keine einfachen Erklärungen bietet, aber tiefe Einblicke findet, verunsicherte Eltern auftreten lässt, Terroristen, die glauben, den verpassten Widerstand gegen die Nazis nachholen zu müssen, die sich erst im Krieg fühlen und später erkennen, dass der Terror sich selbst erledigt hat." Anstelle von Antworten biete der Abend viele Fragen, über die man gerne nachdenke.
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Ist Ihnen vielleicht, @ nachtkritik.de-Leserschaft, folgendes Theaterstück des Kabarettisten Matthias Beltz bekannt? Siehe:
www.spiegel.de/spiegel/print/d-26271007.html
Mir nicht. Da mag das Stück angeblich noch so gut gebaut sein, inhaltlich wurde es links liegen gelassen. Es fand eben nicht auf die Bühne und also ins öffentliche Bewusstsein, eben nicht. Vergangenheitsbewältigung mahnt man bei den Nicht-Linken ein, selbst weiß man offenbar nicht recht, was damit anfangen.
„Verlorene Kämpfer“ mag Schwächen haben, insgesamt scheint es sich aber doch um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Thematik zu handeln. Das ist mir neu. Und es ist, so darf man hoffen, ein Beispiel für einen neuen, so unbefangenen wie ernsthaften szenischen Umgang mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts.