Olympiapark in the Dark - Residenztheater München
Im Flaniermodus
von Sabine Leucht
München, 26. Oktober 2019. Sie sind neu in München. Deshalb zeigt Barbara Melzl dem Team von Thom Luz das Theater. Auch wenn das aktuell anders aussieht als Melzl es kennt. Sie gehört seit einem Vierteljahrhundert zum Ensemble des Residenztheaters, das auch den Marstall bespielt. Helle Holzwände und echte Pflanzen hat der Schauspieler und Bühnenbildner Wolfgang Menardi ihm ganz frisch zugefügt und für die vierte Premiere der ersten Spielzeit unter Andreas Beck enthüllt. Freundlich sieht das aus, die Räume wirken weiter.
Führung durch den Marstall
Und freundlich-streng ist der Empfang, den Melzl den Neuen bereitet. Sie zeigt ihnen die Säule, die auf der Bühne im Weg steht und plappert unbeirrt: "Im Winter ist es etwas kalt und die Heizung recht laut. Man hat sich hier auch schon ausgezogen...", während Mareike Beykirch, Elias Elinghoff, Christoph Franken, Camill Jammal, Mara Miribung und Noah Saavedra ihr ebenfalls schnatternd folgen. Über die Balkone auf die Bühne, wo Daniele Pintaudi schon zuvor kurz gezeigt hat, was man hier an Magie erwarten kann: Mit einer majestätischen Handbewegung ruft er die Dunkelheit auf und einen feinen Rahmen aus Licht, in dem er einen Tanz der Deckenscheinwerfer dirigiert.
Meister der Umwege: Mareike Beykirch, Noah Saavedra, Mara Miribung, Elias Eilinghoff (vorne) und Barbara Melzl, Christoph Franken, Camill Jammal, Daniele Pintaudi (hinten) spielen bei Thom Luz © Sandra Then
Die Kostprobe war sehr kurz; was nun folgt, ist lang. Luz ist ein Meister der Fläche und des Waberns, gleich ob es aus seinen geliebten Nebelmaschinen kommt oder aus anderen Quellen. Seine dampfenden, klingenden, sich meist im permanenten Auf- und Umbau befindlichen Bühnenräume laden das Publikum zu einer flanierenden Wahrnehmung ein, für die es Neugier braucht und Geduld.
Die wird diesmal reichlich strapaziert, denn in "Olympiapark in the Dark" lässt der Olympiapark ebenso auf sich warten wie die Dunkelheit. Und auch wenn man weiß, dass es bei Luz alles andere als straight zur Sache geht, fällt einem doch innerlich die Kinnlade runter, wenn Maestro Pintaudi nach einer halben Stunde fröhlich erklärt: "Noch eine Stunde bis zum Beginn der Sinfonie".
Singen, quatschen, werkeln
Nun ja, eigentlich hätte das klar sein sollen. Denn das Musikstück, das dem Titel wie der Idee des Abends zugrunde liegt, dauert keine acht Minuten: In "Central Park in the Dark" aus dem Jahr 1906 wird eine wiederkehrende Folge atonaler Streicher-Akkorde mit Layern von kurzen Melodien überlagert, die nach Wind klingen, nach einer Ahnung von heranwehendem Gesang, von Schritten, Streit oder Straßentumult. Alle Elemente folgen eigenen Tempi und Gesetzen, und alle verebben gemeinsam im atmosphärischen Raunen der Nacht.
Bei Charles Ives spielt all dies ein Orchester, bei Luz und dessen musikalischem Leiter Mathias Weibel reden sprechende Lautsprecher, knirschender Kies oder eine "unmögliche Begegnung" zwischen Karl Valentin und Oscar Maria Graf ein Wörtchen mit. Und auch wenn am Ende kaum etwas davon in die Münchner Analogie von Ives' New York-Sinfonie einfließt, wird auf der Marstallbühne gesungen, gequatscht und gewerkelt was das Zeug hält.
Sinfonie der Großstadt: Im Münchner Marstall wird nach Motiven von Charles Ives' New-York-Komposition "Central Park in the Dark" musiziert © Sandra Then
Ja man ist so geschäftig, dass die sehnsüchtig-melancholischen Thom Luz-Momente selten sind. Zwar sind da die schönen A cappella-Gesänge; zwar ist da die wunderbar sinnlose Ernsthaftigkeit, mit der alle vor einem kopfstehenden Film mit rückwärts laufendem Ton die Köpfe zur Seite legen. Melzl darf über den Komponisten granteln, der also wirklich hätte wissen müssen, dass dieses fremde Instrument im zwölften Takt Unruhe ins Gefüge bringt. Beykirch hält ein resigniertes Plädoyer für marginalisierte Bratschistinnen – "Stop Bratschen-Shaming now!" – und Eilinghoff, dessen Bühnen-Ich lange mit der Gesamtsituation zu fremdeln scheint, setzt immer wieder neu zu einer Geschichte an, in der es um sieben Glocken geht. Doch keiner kann ihn verstehen, weil das hier angewandte Prinzip der Überlagerung das lineare Prinzip der verbalen Kommunikation aussticht.
Emsige Augenblicksbastler
Und dabei sind wir streng genommen noch in der Produktionsphase, in der Lutz' emsige Augenblicksbastler einen riesigen Kunstmaterialüberfluss herstellen, der am Ende gesiebt und verdichtet werden wird. Und man spürt immer stärker, wie nötig das ist. Noch sind auch sie im Flaniermodus auf Um- und Abwegen unterwegs. Buchstäblich auf Leitern und knacksender Luftpolsterfolie, auf historischer Spurensuche bei Einsteins zuhause oder auf Rechenwegen verloren, auf denen es um die Schallgeschwindigkeit von Stadionjubel an trockenen Herbsttagen geht. Kaum gibt es mal eine Szene, in der sich niemand für eine Abschweifung entschuldigt.
Tonträger: Barbara Melzl, Elias Eilinghoff, Christoph Franken © Sandra Then
Doch endlich weicht die dicke Luft, die diesmal statt Nebel über allem hängt, relativer Dunkelheit. Der Olympiapark respektive Olympiaberg erscheint auf zwei Leinwänden mit Notenlinien. Viel erfährt man nicht über ihn, außer, dass er aus Schutt besteht und mit einer Kaninchenplage zu kämpfen hatte. (Das Politische ist Lutz' Sache nicht. Hitler kommt in seiner wild durch die Zeiten springenden Materialsammlung nur in zwei Wortwitzen vor.)
Auf dem Bergbild jedenfalls laufen Leute herum. Dieselben wie die, die jetzt auf der Bühne zu ihren Instrumenten gegriffen haben, nur in klein. Und wenn die kleinen zwischen den Notenlinien hüpfen oder Federball spielen, spielt die Musik der großen das Auf und Ab ihrer Bewegungen nach. Das hat eine alberne Leichtigkeit und wohltuende Konzentration, die in der endlich fertigen neuen Sinfonie ihre Verlängerung findet. Die ist schön und überraschend und enttäuschend schnell vorbei. Aber man hat anders hingehört in diesen paar Minuten. Suchender, hungriger vielleicht.
Olympiapark in the Dark
Bild in Klängen von Thom Luz
nach einer Komposition von Charles Ives
Inszenierung, Bühne und Licht: Thom Luz, Musikalische Leitung: Mathias Weibel, Kostüme und Licht: Tina Bleuler, Video: Jonas Alsleben, Dramaturgie: Katrin Michaels.
Mit: Mareike Beykirch, Elias Eilinghoff, Christoph Franken, Camill Jammal, Barbara Melzl, Mara Miribung, Daniele Pintaudi und Noah Saavedra.
Premiere am 26. Oktober 2019
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de
"Der Abend von Thom Luz ist kleiner, magischer und feiner", schreibt Christine Dössel in ihrer Doppelkritik mit "Sommergäste" in der Süddeutschen Zeitung (28.10.2019). Keine Nebelmaschinenproduktion diesmal, nur ein Dunstschleier in der Luft, und der Abend mute an wie von Christoph Marthaler erdacht. Das Kammerorchester spiele, wie sich ein Stadtpark bei Nacht anhören könnte. Der titelgebende Olympiapark komme allerdings erst am Ende ins Spiel: in Videos vom Olympiaberg und seiner Begehung durch das Musikensemble und schließlich als polyphones Klangpuzzle. Fazit: "Es ist ein sensibler Abend, kein intelligibler, skurril versponnen und versonnen und am Ende: angekommen."
Mit dem wunderbaren Ensemble erarbeite Luz eine hinreißend nostalgische, humorvolle, feinsinnig künstlerische Hommage an München, schreibt Teresa Grenzmann in der FAZ (28.10.2019). "Mit Witz, verblüffender Musikalität und dem großen Charme der kleinen Alltagspoesien" werde die Welt auf den Kopf gestellt, komponiere man sie neu. "Am Ende fügen sie sich zur vielstimmig gesampelten Symphonie aus Melodie, Klang und Geräusch."
Der Abend sei "wie ein Puzzlestück, das sich allerdings nach und nach clever zusammensetze", sagt Anna Landefeld im "Fazit"-Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur (26.10.2019). Die musikalische Untermalung und die Grundstimmung beschreibt die Kritikerin als "diffus" und "mysteriös"; man könne "das Ganze verstehen als einen einsamen Spaziergänger in der Dunkelheit, der seine Umgebung nur verzerrt wahrnimmt und alles ein bisschen fremd ist". Im Ganzen: "Ein sehr magischer, bezaubernder Abend."
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