Final Fantasy - Volksbühne Berlin
Marsianer schauen Dich an!
von Christian Rakow
Berlin, 12. Dezember 2019. In der "kurzen Geschichte der Menschheit" von Yuval Noah Harari gibt es beim Ausblick auf die kommende Ära nach dem Homo Sapiens den schönen Satz: "Wenn wir einen Film über das Leben eines Super-Cyborgs sehen würden, dann wäre das ungefähr so, als würde man 'Hamlet' vor einem Publikum von Neandertalern aufführen."
Es scheint, als habe Lucia Bihler (aktuell Hausregisseurin der Volksbühne) dieses Gedankenexperiment noch einmal um die eigene Achse gedreht. Bei ihr greift sich eine Gruppe Aliens in unbestimmter Zeit in einem entfernt jugendstilgemusterten Palast einen uralten Stoff – nicht "Hamlet", aber doch ebenso kanonisch: Oscar Wildes Drama der verhängnisvollen Schleiertänzerin Salomé, das in der Vertonung von Richard Strauss in allen Opernhäusern Ihres Vertrauens zu finden ist. Und unsere extraterrestrischen Klassikfreunde spielen Wilde in aller moderaten Werktreue nach, mit leichten Kürzungen und ein paar Fremdtexteinschüben.
Dabei nennt Bihler ihr Unternehmen nicht "Salomé", sondern "Final Fantasy". Was allemal verblüfft. Denn dass der Titel einer der berühmtesten Serien der Computerrollenspiel-Geschichte noch so rechtefrei zu haben ist, hätte man auch nicht vermutet. Jedenfalls "Final Fantasy" im 3. Stock der Volksbühne, damit die Berliner Theatergänger nicht mit der auch recht formstrengen Salomé von Ersan Mondtag am Maxim Gorki Theater durcheinander kommen.
Karpfenmäulige Schwellköpfe
Jetzt hätte man sich gern wie ein Neandertaler vor das Scheunentor dieses Abends gehockt und die Aliens bestaunt, wie sie sich den fremden Stoff in noch fremderer Ästhetik aufschließen. Aber diese Aliens wirken leider nur zu vertraut in ihren Manierismen: viel Rumstehen, viel Langsamkeit und gespreiztes Deklamieren, hier mal eine prononcierte Pose, dort ein ausgestreckter Arm. Zusammenspiel ist Glückssache. So geht Schultheater für Marsianer.
Eine Weile kann man sich noch an den Ganzkörperkostümen von Leonie Falke erfreuen, an den karpfenmäuligen Schwellköpfen und den vielen Dellen und Beulen, mit denen diese Aliens wirklich hinreißend individualisiert sind. Falke und ihre Partnerin Laura Kirst (Bühne) haben jüngst erst die Ausstattung des Sensationserfolgs Drei Milliarden Schwestern von Bonn Park/Ben Roessler verantwortet. Da geht gerade ein Stern auf, um bei der Astromotivik zu bleiben.
Mit Normschönheit haben Bihlers Aliens nicht viel am Hut. Die bei Wilde als betörende Femme fatale angelegte Salome ähnelt hier eher Jabba The Hutt als Rita Hayworth (unter dem massigen Kostüm: Teresa Schergaut). Der Täufer Johannes alias Jochanaan, dessen Kopf die Tänzerin vom Herrscher Herodes (Daniel Nerlich) fordert, macht als baumlanger Prachtbursche noch am meisten her (Simon Mantei). Nach antiquierten Neandertalermaßstäben zumindest.
Mehr Rätsel
Fiepen und anderes Elektrogeräusch wie aus IBM-Computern der ersten Stunde liegt zart über der Szene. Bihler blendet etwas beflissen kulturwissenschaftliche Erläuterungen zur Rolle der Verführerin in der männlich geprägten Literaturgeschichte ein. Betont unappetitliche Videos (von Rosanna Graf) preisen die leere Bewegtheit der Eizellen und deuten auch mal eine Alien-Orgie an. Im Intro gibt's ein Solo mit viel Gestöhn, da weiß man nicht, ist's schwerer Toilettengang oder doch Beischlaffreude? Aber mehr Rätsel hält der Abend denn doch nicht bereit. Nach etwa achtzig Minuten gab's kurzen, freundlichen Jubel. Und der Kritiker verschwand. Die Rakete war nicht gestartet, es ging mit der U-Bahn heim.
Final Fantasy
nach Oscar Wildes "Salomé"
Konzept & Regie: Lucia Bihler, Künstlerische Beratung: Sonja Laaser, Bühne: Laura Kirst, Kostüme: Leonie Falke, Video: Rosanna Graf, Musik: Nicolas Fehr, Licht: Denise Potratz, Dramaturgie: Hannah Schünemann.
Mit: Katja Gaudard, Simon Mantei, Daniel Nerlich, Teresa Schergaut, Maria Walser.
Premiere am 12. Dezember 2019
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.volksbuehne.berlin
Im "präzise ausgetüftelten Schauerambiente dieses doch sehr besonderen Alien-Abends" sieht Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (13.12.2019) Vegard Vinge'schen Witz ebenso aufschimmern wie die posthumane Kunstwelt einer Susanne Kennedy. Fünf spacig-embryonale Totenmasken spielten die kulturüberladenen Bilder von Macht und Begehren und männerfressender Femme fatale "eben nicht mehr", so Meierhenrich: "Sie demonstrieren die Muster nur noch als montrös-komische Schautafelbilder schulpsychologischer Archetypen, verharren in gedehnten SM-Posen und denken während dieses freundlich empathischen Harrens unverkennbar auch schon an andere Formen der Lust."
Warum sind hier alle Außerirdische? Das bleibe eines der ungelösten Rätsel dieses Abends, meint Ina Beyer auf SWR2 (13.12.2019). Das weibliche Schönheitsideal solle unterlaufen, kommentiert, konterkariert werden, ja. Aber der "auf rein optische Reize und bildmächtige Szenen" ausgerichtete Abend setze überdeutliche Zeichen – oder, wie es das Autorinnen-Manifest im Programmheft verrate: "Bild sticht Text". Von Lust, Trieb, Befreiung erzähle er nichts. Sprache sei nebensächlich, die Spieler*innen unter den Masken kaum zu verstehen. "Warum sich Lucia Bihler ausgerechnet die schonungslose, starke, ehrliche Salomé für ihre Einstandsinszenierung an der Volksbühne ausgewählt hat", bleibt für Ina Beyer die große Frage.
"Erkenntnisse sind eher dünn gesät. Die Inszenierung pocht darauf, dass Sexualvorstellungen kulturell gemacht sind, womit sie offene Warptore einrennt", schreibt Michael Wolf im Neuen Deutschland (16.12.2019). Das Stück sei, wie Oscar Wildes Werk ohnehin, nicht gut gealtert, da längst allem Skandalösen beraubt und der Gefälligkeit anheimgefallen. "Lucia Bihler ist es wohl egal. Sie scheint ohnehin nur einen Witz erzählen zu wollen. Die Pointe ist nach zehn Minuten klar und am Ende schon wieder vergessen."
"Wann hat man schon mal einer Gruppe so theaterbegabter Außerirdischer zugesehen?", fragt Anna Fastabend in der Süddeutschen Zeitung (19.12.2019). Die Akteure in den Alienkostümen "exerzieren das Drama mit exaltierter Sprechweise und bizarren Gesten durch". Der Abend wirkt für die Kritikerin von Judith Butlers Gendertheorie inspiriert. So sehr die Außerirdischen probieren, dem Phänomen des Sex unter den Menschen auf die Spur zu kommen, "verstehen tun sie die sexuelle Begierde und das ganze Drama, das sich darum entspinnt, nicht. Diese ausgestellte Verständnislosigkeit ist es, die diese Inszenierung so faszinierend macht. Denn geht es uns beim Anblick eines derart aus der Zeit gefallenen Stücks nicht genauso? Bei einem so klugen Abgesang auf die Frau als unheilbringende Verführerin bekommt man Lust auf mehr."
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(Liebe Redaktion, wir mussten diesen Kommentar ihres Kritikers leider kürzen, zum Teil, weil er nicht nachweisbare Dinge behauptet und zum anderen, weil er Inhalte fokusiert, die nicht zum Thema des Abends gehören.
Mit einm freundlichen Gruß mbkw)
Der restliche Abend bleibt dünn, vor allem die konventionelle "Salomé"-Inszenierung, die ohne überzeugenden Grund unter die Aliens verlegt wird. Die kurzen Fremdtexte aus einem Literaturlexikon und aus eigenen Texten des Teams machen die zu beliebige "Final Fantasy" nicht zwingender.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/12/13/final-fantasy-volksbuhne-kritik/
Darauf muss man sich natürlich einlassen können.
Außerdem sehe ich den ganzen Abend eher als Scherzo diabolico und nicht als etwas, dass krampfhaft weh tun will.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2020/01/23/verpeilte-aliens/