Fräulein Julie - Katie Mitchells Video-Arrangement an der Schaubühne Berlin
Blut ist am Stuhl
von Christian Rakow
Berlin, 25. September 2010. Kurz vorm Finale im Morgengrauen, als nur die Scham sie noch überleben soll, greift Fräulein Julie bei Strindberg zu einem wundersamen Trick. Weil ihr Bediensteter und mittsommernächtlicher Fehltritt Jean ihr den Todesbefehl verweigert, beginnt die hohe Tochter vom Theater zu erzählen: Hypnotiseure gebe es dort, die Probanden unwillkürliche Taten einträufelten. Julie dämmert sprechend weg und gerät in spiritistische Verzückung. Jean aber schlüpft unumwunden in die imaginierte Rolle des Hypnotiseurs, reicht ihr sein Rasiermesser und flüstert die todbringenden Worte ein. Ein seltener Fall von Ping-Pong-Suggestion.
Wenn keine vernünftige Lösung mehr möglich ist, muss tiefenpsychologischer Hokuspokus ran. Nicht von ungefähr setzt August Strindberg im Vorwort seines Dramas von 1888 den Bühnenautor mit dem Magnetiseur gleich. Bei allem Biologismus, aus dem heraus er den "Kampf der Gehirne" zwischen Julie und Jean zeitgeistig motiviert, braucht es am Ende den Salto mortale in die Illusion. Der Zuschauer, den Strindberg in seinen bühnenpraktischen Überlegungen analog als angeregten Phantasten entwirft, wird es sich schon lebhaft ausmalen.
Schauspieler, Techniker, Geräuschemacher
Regisseurin Katie Mitchell ist an sich alles andere als eine Illusionistin. Wenn sie mit ihrem Videodesigner Leo Warner das (seit den Avantgarden) verminte Feld des psychologischen Realismus betritt, dann benutzt sie das Medium des Live-Films. Auf der Leinwand, die das Innenleben eines Sommerhauses überträgt, ist historisch eingekleidetes Seelenleiden in Ingmar-Bergman-Tempo (praktisch zeitlupig) zu bestaunen. Die Bühne aber bevölkern wuselige Techniker: Kameraleute, Synchrongeräuschemacher und die Schauspieler, die ihre Körper für das nächste Close-Up präparieren. So war es in "Wunschkonzert", mit dem Mitchell/Warner zum Theatertreffen 2009 eingeladen wurden. So ist es auch bei ihrer Debütproduktion in Berlin, an der Schaubühne.
Die technische Sophistication ist nach wie vor staunenswert. Aber schon beim Zweitbesuch stellt sich die Frage, wozu dieser Aufwand eigentlich betrieben wird (als Realismuskritik erschöpft sich das Ganze recht schnell). Die Frage richtet sich an das Stück im Live-Film. Ihm liegt ein dramaturgischer Geniestreich zugrunde: Mitchell/Watson erzählen vom Fall der enthemmten Adligen aus Sicht der Nebenfigur, der Köchin Kristin. Wenn Kristin lauscht, vernehmen wir Bruchstücke des Konflikts zwischen Jean und Julie. Wenn sie einschläft, verschwinden die Protagonisten hinter Kristins Traumbildern.
Schraubzwinge des Video-Arrangements
Jule Böwe ist Kristin: abgekämpft, leer, ein wandelndes Gespenst Tristesse. Sie schaut in einen Spiegel, und mathematisch-naturmystische Lyrik von Inger Christensen rauscht aus dem Off durch sie hindurch: "Die Aprikosenbäume gibt es / Die Farne gibt es…." Sie blickt ins Fenster, während ein Live-Violoncello klagt. Dann tritt Jean ein und schon sein erster Satz verrät die Pointe: "Es ist verrückt da draußen." Wohlgemerkt, nicht: "Sie (Julie) ist verrückt".
Was sich zwischen den Figuren oder in ihnen abspielt, wird irrelevant. Flirt und Kampf fallen aus. Stattdessen rücken Kristin, Julie (Laura Tratnik) und Jean (Tilmann Strauß) wie Attrappen umher, sprechen still bis narkotisiert. Während Strindberg den Sozial- und Geschlechterwettstreit durch Biologie und Psychologie erden will, wird er hier gleich komplett begraben zugunsten einer schicksalhaft anmutenden Bekümmernis in der Schraubzwinge des Video-Arrangements. Was im Ganzen nicht weniger okkult wirkt.
Symbole springen ein
Alles an diesem Abend will Atmosphäre sein. Doch wo es an Leben fehlt, springen tatsächlich die Symbole frei. Da wird ein Tierherz in der Küche halbiert (die Liebe!), da sammelt Kristin Gartenblümchen (Natur, Sehnsucht!) oder zeigt ihr müdes Antlitz vor dem Jesus-Kreuz (der Glaube!). Am Schluss klebt Blut am Küchenstuhl (Gevatter!). In Allem überrascht allein Kristins vereinsamter Eifersuchtsschub mit kurzen Magenkrämpfen (Schwangerschaft, Krankheit?) als Wechsel in das frühexpressionistische Schauspielfach.
Strindbergs Rechnung war: Viele up-to-date-Motive und ein Schuss hipper Spiritismus machen eine satte Tragödie. Mitchells/Warners Weniger-ist-mehr-Rechnung lautet: Eine Hand voll fetter Symbole plus etwas celloumwehte Melancholie gleich maximal zeitlose Bedeutsamkeit. Wir fühlen am Puls des schweren, allzu schweren Lebens. Und Mitchells/Warners Werk entpuppt sich als Illusionismus der höheren, magnetistischen Art. "Dieses ist große Kunst", haben sie uns geflüstert. Und siehe: Die Hände regen sich zum Schlussapplaus.
Fräulein Julie
Frei nach August Strindberg, Deutsch von Maja Zade
Eine Fassung von Katie Mitchell (mit Gedichten von Inger Christensen)
Regie: Katie Mitchell, Leo Warner; Bühne und Kostüme: Alex Eales; Licht: Philip Gladwell,
Sounddesign: Gareth Fry, Adrienne Quartly; Musik: Paul Clark, Dramaturgie: Maja Zade.
Mit: Jule Böwe, Tilman Strauß, Laura Tratnik, Cathlen Gawlich, Lisa Guth; Kamera: Andreas Hartmann, Stefan Kessissoglou, Krzysztof Honowski; Geräusche: Maria Aschauer, Lisa Guth; Violoncello: Chloe Miller, Nanako Okuda.
www.schaubuehne.de
Mehr zu Katie Mitchell gibt es im nachtkritik-Lexikon. Ihre Inszenierung von Wunschkonzert, die im Dezember 2008 in Köln entstand, war 2009 zum Theatertreffen eingeladen.
"Der Reiz dieses Abends liegt sicher in der Diskrepanz seiner Mittel", schreibt Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (27.9.2010): "Auf der einen Seite die schwüle Filmsprache mit all ihrer Bedeutungsschwere, der übersatt gezeichneten Atmosphäre. Exakt parallel aber vollzieht sich die Dekonstruktion derselben durch völlige Offenlegung der Mittel. Die Präzision, mit der das geschieht, ist fraglos faszinierend." Allerdings vermisst Pauly das Stück, das "mit den blendenden Farben des Artifiziellen" übertüncht werde. Immerhin: Jule Böwe "ist eine sensationelle Idealbesetzung als Köchin Kristin: Abgekämpft vom Leben, müde, aber wachsam im Blick, schön und schlicht und natürlich."
Rüdiger Schaper sah "poetische Close-ups, nah am Kitsch gebaut", wie er im Tagesspiegel (27.9.2010) schreibt: "Aber Strindberg hat auch nicht mit dicker Symbolik gegeizt." Wie er überhaupt Mitchells Ästhetik von Strindberg ableitet: "Wer heute mit Video auf der Bühne arbeitet, und wer das so virtuos tut wie Katie Mitchell, darf sich ohne Weiteres auf Strindberg berufen. Ein 'modernes psychologisches Drama' schwebte ihm vor, wie man in seinem Vorwort zu 'Fräulein Julie' nachlesen kann, jedes Ausstattungsdetail war ihm wichtig." Mitchells "Feier der hochtechnisierten, jedoch humanen Bühnensprache" sei aber "vor allem der stille Triumph der Jule Böwe".
Etwas "sehr Merkwürdiges" passiere an diesem Abend, wie Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (27.9.2010) berichtet. "Nicht, dass die theatralische Live-Film-Herstellungsmaschine der Katie Mitchell hier nicht genau so geschmiert ablaufen würde, wie man sie kennt. (...) Doch fällt an diesem Abend in der Schaubühne all diesen sich verselbständigenden Details und sich ablösenden Formschichten nicht wie sonst die Hauptrolle zu, sondern im Gegenteil: der Suggestion ihrer neuen Verschmelzung, ihrer traumhaften Bildwerdung." Gegen Ende allerdings "ist die starke Suggestivkraft des Anfangs zerstoben", und da blieben "vor allem nur Kristins lebensmüde Augen im Gedächtnis. Es sind die Augen Jule Böwes, die sich immer wieder in Spiegeln suchen, durchs Fenster schielen, auf eine Wasseroberfläche starren und durch Wasser hindurch verschwimmen. Und man versteht, wie die still an einem vorbeifließende Welt tiefer verletzen kann, als jedes Rasiermesser."
"Paradoxerweise" gelinge Mitchell "gerade in der medialen Brechung ein sehr intimes, unverstelltes, ganz altmodisch naturalistisches Erzählen", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (29.9.2010): "Das endlose Putzen, Kochen, Händewaschen, Blumenpflücken der Magd Kristin (Jule Böwe) erzählt mehr über ihre geduckte Existenz als alles Gerede." Mitchells Bilder seien "mindestens so konsequent und zwingend durchgeformt" wie ihr Theaterstil. "Wobei man einerseits in den Sog dieser betörenden Bilder gezogen wird, andererseits aber in jedem Augenblick sieht, mit welchen simplen Mitteln sie samt den Begleitgeräuschen hergestellt werden. So ist diese beeindruckende Inszenierung, die Strindbergs Stück auf neunzig Minuten verdichtet, eher eine sehr gelungene theatralische Installation als ein konventioneller Theaterabend."
Mitchells Film-Prinzip funktioniere "bei diesem naturalistischen Trauerspiel nicht", konstatiert Jürgen Otten in der Frankfurter Rundschau (30.9.2010). "Neun Zehntel des Textes sind eliminiert, mit der Folge, dass die Motivation der Handelnden völlig schleierhaft bleibt." Die Prozesse seien pulverisiert, nicht kristallisiert. Mit Folgen: "Da ist kein Abgrund, kein Alptraum. Da ist nur ein poetischer Film voller melancholischer Einblendungen. Melancholie aber ist das, was Strindberg als allerletztes im Sinn hatte."
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PS: Ich glaube übrigens es gab Niere und nicht Herz, ein Symbol für das Yin und Yang oder auch das innerlich reinigende Organ. Das Rezept liegt sicher der DVD bei, die man vermutlich bald käuflich erwerben kann.
Ich war bei der Premiere nicht anwesend, aber ich kenne das Drama und weiß daher, dass die Erwähnung der Hypnose auf der vorletzten Seite erfolgt. Herr Rakow stellt den Einfall Julies so dar, als handele es hier um ein deus ex machina. Das was Rakow als „tiefenpsychologischer Hokuspokus“ bezeichnet, ist eine durchaus seriöse Heilmethode, die zur Beseitigung vegetativer Störungen eingesetzt wird und nicht gegen den Willen des Hypnotisanden erfolgen kann. Mit Geistheilung, z.B. Handauflegen eines „Magnetiseurs“ hat das wenig zu tun. Die Hypnotherapie arbeitet mit der Versetzung in eine Trance, um dann mit Suggestionen auf das Unterbewusstsein einzuwirken. All das geschieht in „Fräulein Julie“ nicht: Jean gibt ihr einfach das Rasiermesser in die Hand und sagt, als sei es ein Befehl: „Hier ist der Besen! – Gehen Sie jetzt...“ Jean mag die Rolle eines Hypnotiseurs spielen, aber es ist eine schlecht gespielte Rolle, die immerhin ihren Zweck erfüllt.
Wie das allerdings in der Schaubühne bewerkstelligt wurde, muss ich mir erst noch ansehen. Wenn ich auf Stefan hören würde, müsste ich mir ein anderes Stück aussuchen.
Sie müssen sich kein anderes Stück aussuchen, dieses Stück ist bereits anders. In dieser Variante von Fräulein Julie wird dem Zuschauer suggeriert, dass nicht Jean den Befehl zum Selbstmord Julies gibt, sondern die Eingabe durch Kristin erfolgt, wie können Sie sich ja selbst ansehen. Das ganze ist ein einziger Psychokrimi, allerdings ohne jede Spannung. Alles läuft auf diese eine Szene hin, in der Kristin Jean das Rasierzeug überreicht. Alles davor ist reine Behauptung und Symbolik. Aufwendiger Technikkram mit viel Fleißarbeit. Wenn die Schaubühne das für länger als ein paar Monate ins Repertoire aufnimmt, falle ich gänzlich vom Glauben ab. Bleibt zu hoffen, dass die Technik ein Einsehen hat und der Videobeamer wieder streikt.
Zum Thema "Niere" fällt mir persönlich übrigens nur Steinmeiers Nierenspende an seine Frau ein.
Also, bitte, zurück zu Katie Mitchells "Fräulein Julie".
Die Hypnose (Hypnotherapie) wird im Drama auf den letzten beiden Seiten explizit erwähnt.
Deshalb ist Herr Rakow auch in seiner Kritik auf dieses Thema eingegangen – und ich habe mich ebenfalls darauf bezogen.
Die Stimulierung der Meridiane - das sind Energieleitbahnen, die entweder vom Yin- oder Yang-Pol bestimmt sind - ist in der westlichen Medizin auch unter Akupunktur geläufig. Das kommt freilich im Stück nicht vor, aber Sie scheinen unter ein paar Sätzen gelitten zu haben, obwohl sie auch gerne abschweifen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit Pollesch zitieren.
Im „Menschenfeind“ beispielsweise schwafelten Sie in einem umständlichen Seminarstil abstruse Gedanken über Schopenhauer, zu dem es in diesem Blog nicht den geringsten Bezug gibt. Machen Sie es doch einfach so wie ich – wenn ich Ihren Namen lese, übergehe ich manchmal Ihren Text.
Zum Strindberg-Kontext des 19. Jahrhunderts passt zum Beispiel auch Karl Philipp Moritz, welcher kurz nach seinem Roman "Anton Reiser" einen Beitrag in dem von ihm herausgegebenen "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" publizierte, welcher mit "Ein unseeliger Hang zum Theater" betitelt war. In diesem wurde - anhand des Fallbeispiels eines jungen Mannes - die Theaterleidenschaft als "Krankheit" betrachtet, weil sie die Imagination und Phantasie übermäßig anregen würde und affektiv überwältigend sei. Das widersprach natürlich dem zu der Zeit vorherrschenden Ideal der Aufklärung bzw. der Auffassung der Balance zwischen Vernunft und Gefühl/Phantasie.
Also ich meine schon, das Schopenhauer zum Menschenfeind (franz. Le Misanthrope) passt. Nicht umsonst habe ich da aus seinen Stachelschweinen zitiert. Schopenhauer war bekennender Misanthrop zeit seines Lebens. Aber zurück zum Fröken. Als ich heute Nachmittag so durch den Regen gelaufen bin, kam mir noch eine Idee. Wissen wir denn tatsächlich wessen Blut da am Stuhl klebt? In der Großaufnahme von Jule Böwes Gesicht zum Schluss ist ein leichtes Erschrecken zu erkennen, ob nun gespielt oder echt. Kann es nicht sein, das dort Jean in seinem Blute liegt und sich tatsächlich den Hals abgeschnitten hat, wie er es im Stück sagt. Kristin ist Sklave und Herr zugleich, der ständig im Geiste anwesend, ohne tatsächlich einzugreifen, über allem schwebt.
Katie Mitchell nutzt die Möglichkeiten des Videos um Strindbergs Vorstellung vom Kammertheater umzusetzen, nur im Film gehen solche Großaufnahmen. Kleine Gefühlsregungen sieht man ab der 5. Reihe im Theater nicht mehr. Strindberg wollte kein übertriebenes Acting. Weiter nutzt sie Seitenlicht anstatt die frontale Beleuchtung, Rückenaufnahmen, leises Sprechen, Aufnahmen der Hände, das detailgetreue Bühnenbild mit der Küche, alles soll Naturalismus pur sein. Leider steht dagegen die Künstlichkeit der Videobilder. Und 90 Minuten sind einfach zu lang, um dann dieses offene Ende zu präsentieren. Vielleicht versucht sich Katie Mitchell im nächsten Tatort noch mal mit einem richtigen Drehbuch, psychologisieren kann sie da allemal.
Aber vielleicht sind das alles nur Hirngespinste und ich leide auch unter einer akuten krankhaften Theaterleidenschaft.
Ich denke, ein Crashkurs in Anatomie und Imagination kann auch nicht schaden.
Oder C.G. Jung lesen, z.B. „Der Mensch und seine Symbole" etc.
„Da Nachprüfen und Nachdenken so umständlich und schwierig sind, so urteilt man lieber unbeschwert und realisiert nicht, dass man bloß projiziert und somit sich selber zum Opfer eines närrischen Illusionstricks macht."(Synchronisation, Akausalität und Okkultismus)
„Der Spiegel schmeichelt nicht, er zeigt getreu, was in ihn hineinschaut, nämlich jenes Gesicht, das wir der Welt nie zeigen, weil wir es durch die Persona, die Maske des Schauspielers, verhüllen. Der Spiegel aber liegt hinter der Maske und zeigt das wahre Gesicht.“ (Bewusstes und Unbewusstes)
Sie sind ja lustig! Natürlich vielen Dank erst mal für die nette Einweisung in das Esoterikfach. Damit hätte ich auf einer Theaterseite nicht gerechnet. Allerdings haben Sie mich jetzt vollständig verwirrt. Wenn ich diese Woche in die Schaubühne gehe, sind dort alle auf einem Esoteriktrip? Ich wäre jetzt sehr dankbar, wenn mir mal jemand erklären würde, was Strindberg mit Akupunktur zu tun hat...
Und noch kurz zur Akupunktur, auch wenn ich dieser Behandlungsform eher skeptisch gegenüberstehe. Wie das Theater reizt auch diese vorübergehend die Sinne und die Nerven des Behandelten - ähnlich wie das Theater.
Sie waren nicht persönlich gemeint, ich bezog mich nur auf Ihren Kommentar, dass es Nieren waren konnte man sehr gut sehen. Ich habe zur Symbolik weiter oben schon etwas geschrieben genau wie Flohbär.
Ein rein rationaler Blick hilft aber in der Inszenierung von Katie Mitchell nicht weiter, da ist schon sehr viel Imagination, Traumdeutung und auch Naturkult bis zur Schamanie drin. Das Unterbewusste sichtbar machen, deswegen die Anspielung auf C.G. Jung. Meine Theorie ist ja, dass Kristin hier eigene unterdrückte Wünsche und Sehnsüchte in das Paar projiziert und am Ende über das Resultat bestürzt ist. Stichworte Anima und Animus, siehe C.G. Jung.
Strindberg hat sich später wahrscheinlich auch bedingt durch seine latente paranoide Schizophrenie dem Okkultismus und dem Symbolismus zugewandt. Die ganze Inszenierung entwickelt ständig diese Parallelen bis hin zu dem Gedicht Alfabet. Ihm liegt die mathematische Fibonacci-Folge (will ich hier nicht weiter ausführen) zu Grunde. Diese Zahlengfolge beschreibt Vorgänge in der Natur und wird in der Kunst immer wieder in Zusammenhang mit mystischen Zahlen zitiert (in Dan Browns Sakrileg, in den Filmen Pi und 21, in Fernsehserien wie Fringe und Taken, sowie in der Bildenden Kunst, etc.). Mystik ist hier also nicht ganz von der Hand zu weisen, allerdings verschwimmt das bei Mitchell alles im Nirwana und führt m.E. zu nichts.
Ich weiß gar nicht warum Feministinnen da immer gleich drauf anspringen müssen. Warum immer Anima vs. Animus? Arbeiten Sie mal an Ihrer männlichen Seite und ich kümmere mich derweil um meine weibliche. Ich hoffe da verschwimmt jetzt nicht gleich alles völlig miteinander. Nehmen Sie es doch einfach als das was es heißt, Geist und Seele und das in einem Körper, nur symbolisch weiblich oder männlich besetzt, als Zeichen eines inneren Kampfes.
Wenn ich nun wiederum Strindbergs Vorwort zu "Fräulein Julie" lese (Abdruck im Programmheft), dann wird mir übel angesichts der fixierenden Kategorisierung Fräuein Julies:
"Fräulein Julie ist ein moderner Charakter, nicht als ob es das Halbweib, die Männerhasserin, nicht immer schon gegeben hätte, sondern weil es jetzt entdeckt worden und hervorgetreten ist und viel Wesens von sich macht. Das Halbweib drängt sich vor und verkauft sich nunmehr für Macht, Orden, Auszeichnungen und Diplome ebenso wie früher für Geld - womit die Entartung angedeutet ist."
So so, welche Frau von heute kann das eigentlich lesen, ohne dabei einen Widerspruch zu empfinden?
Kann Nachtkritik für dieses Thema nicht einen Extrablog einrichten, damit die Einwürfe dort gebündelt werden und die uninteressierte Leserschaft davon verschont bleibt?
Immerhin hat Ihr Kommentar mich so neugierig gemacht, dass ich mir das Stück am Sonntag ansehen werde. Angesichts von "Fräulein Julie" werden hier ja abenteuerliche Dinge verbreitet: Akupunktur (TCM = Traditionelle chinesische Medizin) und Hypnose sollen der Esoterik angehören.
Weitaus esoterischer klingt es, was Sie über die Inszenierung von Katie Mitchell sagen, z.B. entdecken Sie darin Naturkult und Mystik. Wahrscheinlich zählt dazu Jeans Selbstmordversuch im Holunderbusch, den er zumindest aus taktischen Gründen (angebliche Verliebtheit) erwähnt. Vielleicht gehört in die Sparte des Naturkults auch das Köpfen des Vogels – was aber eher als krasser Naturalismus einzustufen ist.
Im Übrigen interessiert mich auch die von Ihnen in dieser Inszenierung aufgespürte weibliche Suggestionskraft. Stefan, ob Sie wollen oder nicht, Sie haben für dieses Stück Werbung gemacht.
Ich helfe doch gerne, wenn ich kann. Seien Sie aber vorsichtig und beschweren Sie sich nicht hinterher bei mir, wenn Sie der Suggestionskraft von Jule Böwe erliegen und benutzen Sie in Zukunft lieber einen Trockenrasierer, denn ich würde gerne noch ein zweite männlich Meinung zu dem Thema lesen. Ansonsten scheint sich ja hier kein Schwanz mehr dafür zu interessieren.
Ist Akupunktur Bestandteil der westlichen Medizin? Die Antwort bitte mit Quellenangabe. Ist auch so ne blöde westliche Erfindung. Ziemlich esoterisch Ihre ganze Argumentation hier: Was sind denn die Gründe dafür, dass Sie eine Gender-Debatte unterbinden wollen?
Juli Böwe habe ich etwa ein Dutzend Mal in der Schaubühne gesehen. Sie tauchte sogar einmal im DT auf, bei "Titus Andronicus". Wenn ich jetzt noch ihren Reizen erliegen würde, wäre das etwas verwunderlich – ich verfüge über ausreichend Abwehrmechanismen. Im Übrigen tummeln sich auf Berliner Bühnen ausreichend Frauen von elementarer Knusprigkeit. Außerdem: mit zwölf Jahren war ich zum letzten Mal verliebt...
@ Bovary:
Frauen sind für mich absolut gleichberechtigt, deshalb habe ich kein Interesse mehr an derartigen Diskussionen. Wenn Teile der Gesellschaft die Rolle der Frau unterbewerten, ist das ein Problem, aber nicht meins.
Die westliche Medizin hat einen gewisse Arroganz gegenüber der alternativen Medizin, zu der auch die chinesische gehört. Während der Westen mit Messungen, Labortests und Befunden arbeitet, hat die chinesische Medizin einen ganzheitlichen Ansatz, der Körper und Seele nicht trennt. Während es die Akupunktur in die westliche Medizin geschafft hat, konnte sich die Moxibustion bzw. Moxa-Therapie nicht durchsetzen (eine Kräuterpflanze wird auf einem Stäbchen erhitzt und über die erkrankte Region gehalten). Hinzu kommen noch die kalten weiblichen Yin-Energien und die warmen männlichen Yang-Energien. Aber die geschlechtlichen Gegensätze könnten schon wieder in eine Gender-Debatte münden – deshalb höre ich damit auf. Außerdem möchte ich die Redaktion nicht durch Abschweifungen verärgern, es reicht, wenn das andere machen.
Die Videoprojektion könnte sich an Freuds Traumdeutung anlehnen, wonach der Traum "die (verkleidete) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches" sei. Demnach verwandeln sich unbewusste Gedanken im Traumgeschehen in eine Bildsprache. Zusatzfrage: Waren da womöglich echte Drogen (Mushrooms) mit im Spiel? Und/oder geht es hier um die folgende Metapher Hugo von Hofmannsthals?: "Die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze." ("Brief des Lord Chandos")
Dass "die bereits überwunden geglaubten Verhältnisse von einst nicht doch noch in unseren Hirnen drinstecken" sieht man leider an Ihrer Wortwahl. Demnach gibt es "manch ländliches Seelenleben" und eben daneben die moderne Frau. Mir kommt so langsam der Verdacht, dass nicht nur Strindberg ein problematisches Verhältnis zu Frauen hatte...
Die "Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen": sehr originell!
Sie bezeichnen Julie als "moderne Frau". Kristin reduzieren Sie einzig auf Ihre Religiösität und nennen Sie verächtlich "ländliches Seelenleben". Was fehlt denn Kristin, dass sie sich auch Ihrer Meinung nach als Frau sehen darf? Und ja genau, ich komme vom Land, deshalb habe ich damit ein Problem!
Weiterhin ist die These zur Religiösität auf dem Lande heute auch etwas wacklig. Sie können Ihre "Tatsache" nicht mit einem Film beweisen, der vor dem Ersten Weltkrieg spielt.
Auch Haneke wollte ja nicht bloß die Zeit vor dem ersten Weltkrieg als abgeschlossene Epoche abbilden. Sondern er wollte damit in meiner Perspektive Parallelen zum Heute eröffnen. Inwiefern Strukturen und Bewusstsein in Wechselwirkung zueinander stehen, inwiefern zum Beispiel bestimmte Erziehungshaltungen bestimmte Mentalitäten schaffen. Stichwort: Adornos "autoritärer Chrakter".
Brecht beschreibt die Technik der Verfremdung folgendermaßen:
"Verfremden heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darzustellen. Dasselbe kann natürlich auch mit Zeitgenossen geschehen, auch ihre Haltungen können als zeitgebunden, historisch, vergänglich dargestellt werden ... Damit ist gewonnen, daß der Zuschauer die Menschen auf der Bühne nicht mehr ganz als unveränderbare, unbeeinflußbare, ihrem Schicksal hilflos ausgelieferte dargestellt sieht. Er sieht: dieser Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Und die Verhältnisse sind so und so, weil der Mensch so und so ist." (Quelle: Manfred Brauneck, "Die Welt als Bühne")
Ebendiese Technik der Verfremdung verfolgen in meiner Sicht sowohl Michael Haneke als auch Katie Mitchell. Bei Mitchell wird die Hergestelltheit der (Bühnen-)Verhältnisse bzw. (Film-)Illusionen dadurch betont, dass beide in ihren Produktionsmechanismen offengelegt werden. Damit kann eine Wahrnehmung eingeübt werden, welche auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Realität fokussiert.
Aha, Haneke wollte also mit „Das weiße Band“ Parallelen zur Gegenwart herstellen und zeigen, wie „bestimmte Erziehungshaltungen bestimmte Mentalitäten schaffen“.
Leider wird in dem Film sehr viel gequält, und zwar mit dem besten christlichen Gewissen, das sich jederzeit auf einige Stellen in der Bibel berufen kann. Die Pfarrerkinder werden wegen Harmlosigkeiten mit der Rute gezüchtigt, damit sie reingewaschen werden. Ein Junge wird an den Armen ans Bett gefesselt, um die potentielle Wichsgefahr zu bannen. Ein weiterer Junge mit dem Downsyndrom (oder Trisomie 21) wird von anderen Kindern dermaßen gefoltert, dass er blind zu werden droht. Und der nach seinem absichtlich herbeigeführten Sturz genesene Arzt will mit seiner Partnerin keinen Sex mehr, weil sie hässlich und ausgeleiert sei und aus dem Mund rieche...
Diese Parallelen zur Gegenwart hatte also Haneke im Sinn. Und noch einleuchtender sind die Parallelen zu Strindbergs „Fräulein Julie“.
@ Bovary: Nein, nicht Ihrer Frage ausgewichen. Wenn Kristin - Ihnen nach - keine Frau/kein Mensch zu sein scheint, dann müssten Sie ebenso sagen, dass Julie und Jean keine Menschen seien. Kann es sein, dass Sie sich hier gerade in Kristin hineinprojizieren? Das ist meines Erachtens genau der Mechanismus, welcher hier offengelegt werden soll.
Im weißen Band hingegen wird auch außerhalb des christlichen Milieus geprügelt und verletzt. Der Sturz des reitenden Arztes durch einen absichtlich gespannten Draht, das gefolterte Trisomie-Kind, der seinen flötenklauenden Sohn schlagende Bierbichler, der „Arbeitsunfall“ einer Frau auf dem Geländes des Barons, der seinen Sohn prügelnde Witwer usw.
Nicht nur der von Klaußner gespielte Pfarrer ergeht sich in Züchtungen. In Bezug auf die Vorgänge in der heutigen katholischen Kirche und deren Schulen haben Sie Recht mit Ihren Parallelen. Viele reife, in der Hierarchie aufgestiegene Kirchenonkel benutzten den Nachwuchs als Objekte der Lustbeschaffung und machten auch vom Werkzeug des Rohstocks Gebrauch. Aber, wie gesagt, in Hanekes Film wird an allen Ecken und Enden geprügelt. Und das ist nicht gerade typisch für die heutige „Bunzreplik“ (Ausdruck von Martin Walser in „Das Einhorn“).
IS, bleiben Sie doch besser bei den Liebesregungen in Strindbergs Stück. Aber Sie sind keine Person, die gerne unironisch von Liebe spricht.
Doch, doch, Stefan, das interessiert mich schon, also mit der Fibonacci-Formel haben
Sie das (spätestens) noch spannender gemacht, wenngleich mir noch nicht ganz aufgegangen ist, wie diese etwas in der Inszenierung strukturiert haben soll (oder ist
das nur platt aufgesetzt ?).
Ich kann mich an Arranovskys "Pi" noch recht gut erinnern, das Go-Spiel, die
Spirale ...: Daß das nicht schon bei den Schweinchenkringeln von Neuhardenberg
thematisiert wurde: Schwänzchen, so ganz nach Fibonacci, au nöff,nöff; wer da Ohren hat, der höre, andernfalls wird dergleichen nicht ergoogelt; aber wird ergoogelt, besteht die Hoffnung von/auf Gefühl und einen Tick Verbindlichkeit... .
Aber, ganz im Ernst: Eigentlich verwirrt mich das Ineinanderlaufen der Threads zum
"Menschenfeind" und "Fräulein Julie" jetzt schon ein wenig, zumal das Zitat zum "begabten Kind" seitens IS verblüffenderweise eben im "Menschenfeind"-Thread
auftaucht, im "Fröken"-Thread aber allemal eine Dimension für sich gehabt hätte-
den langen Monolog Julies zum Vater: "Ja, ich habe ihn geliebt ..., muß ihn aber un-
bewußt auch gehaßt ..., hat mich mein Geschlecht hassen lernen lassen ..., "Halbmann, Halbfrau" ich, ein Selbst ?, "schuldfähig" ??, nicht einfach nur quasi aus Ausscheidungen von Vater, Mutter, Verlobten (!) zusammengesetzt", sorry, ich bin kein Schauspieler und hab den Text freilich nicht wörtlich parat, aber alleine diese Stelle läßt Verwicklungen erahnen, die den Rahmen erstens der Gender-Debatte
sprengen und zweitens nur sehr wenig ins "esoterische Fach" abzuschweifen
einladen (Strindberg hat das Stück verfaßt im Alter von 39, die sogenannte
Inferno-Krise des Autors samt Cato-Sentenzen zB. in seinen Briefen an Gerber
anläßlich des Freitodes Otto Weiningers (!!) -da hieß es eben "Geschlecht und
Charakter", nicht nur "Gender" ...- ist 10-11 Jahre später anzusiedeln ...), drittens kommen auch die "Verlobungen" darin vor, die gewiß auch ihre Rolle spielen.
Ist dieser Satz in der Inszenierung gestrichen, zentral, marginal ...: dergleichen interessiert eine weitere männliche Stimme.
Ebenso im übrigen die Inhalte jener Podiumsdiskussion im "Brecht"-Forum, aber da habe ich nichts ergoogelt, vielleicht auch aufgrund eines fehlenden Gefühls dafür..
"Daß zwischen zwei so ungleichen Charakteren sich ein Liebesverhältnis im 'höheren' Sinne entwickeln kann, glaube ich nicht, und deshalb lasse ich Julie ihre Liebe erdichten aus Selbstschutz oder als Entschuldigung. Und Jean lasse ich vermuten, daß seine Liebe [auch] aufblühen könnte unter anderen sozialen Verhältnissen. Ich glaube, mit der Liebe ist es wie mit der Hyanzinthe, die Wurzeln schlagen muß im Dunkeln, BEVOR sie eine kräftige Blüte entwickelt. Hier schießt sie empor und blüht und bildet Samen auf einmal - und darum stirbt die Pflanze so schnell."
Die Parallelen zum "Weissen Band" erwähnte ich weniger aufgrund der drastischen Strafen als vielmehr aufgrund des die eigenen körperlichen Regungen unterdrückenden bzw. verleugnenden religiösen Milieus, was sich deutlich sichtbar in Kristins Gestik (siehe Brechts Begriff des sozialen Gestus) und Mimik eingeschrieben hat.
Nochmal zur Wiederholung: Ich frage Sie, warum Sie Julie als moderne Frau bezeichnen, Kristin hingegen verächtlich als "ländliches Seelenleben" (siehe Kommentar 25). Das war die Frage, eine Antwort habe ich nie erhalten.
Und dass Ihr Bild von den ländlichen peripheren Räumen der Bundesrepublik einzig und allein auf einem Film beruht, gibt einen sehr traurigen Einblick in Ihre Mentalität.
Zudem lehnte ich mich an Strindbergs Bescheibung der Figur Kristins an, siehe Zitat oben. Und dieses Zitat geht noch weiter:
"Sie geht in die Kirche, um leicht und behende ihre Hausdiebstähle auf Jesus abzuladen und eine neue Ladung Unschuld aufzunehmen. Im übrigen ist sie eine Nebenperson [bei Mitchell umgekehrt] und darum absichtlich nur skizziert wie der Pastor und der Arzt in DER VATER. Ich wollte gerade Alltagsmenschen zeichnen, wie eben Landpfarrer und Kreisärzte im allgemeinen sind."
"Ich wollte bloß aufzeigen, ..."
Davon abgesehen, daß Ihre Betrachtung vom "Städterinnenstandpunkt"
aus ein wenig unterschlägt, was da so in den Städten geradezu nicht weniger blindwütig zur Ersatzreligion werden konnte, davon abgesehen, daß "Kiez-Berlin" oftmals geradezu der Inbegriff des
Dörflichen ist, ist es doch nun so: Sie reden von Kristin als das,
was Sie, sie zitieren Strindberg, bei Strindberg wohl sein soll,
als von einer Nebenfigur, schreiben jedoch in der Klammer, daß Kristin ja gerade in der aktuellen Inszenierung nicht als Nebenfigur ge- bzw. behandelt wird - folglich sprechen Sie hier ganz offenkundig nicht von der Inszenierung !
Da Sie an anderer Stelle Lars von Trier erwähnten, nur die kurze
Anmerkung meinerseits, denn ich will hier nicht zu viel in einem Thread schreiben, der zu einer Inszenierung ist, die ich nicht sah
(würde freilich eine nachtkritik de.-Linie begrüßen, die zu Stücken und in Archivfunktion zu Inszenierungskritiken verschiedener Beispiele der Stückebehandlung -siehe den Abriß, den
Georg Hensel in seinem 70er-Jahre-Theaterband angelegentlich der
1975er-Julie am BE (das Motzki-Paar als Julie und Jean) !!) zu Lesarten von "Fröken Julie" (zB. durch Faßbinder) geliefert hat-
liefe ...), als ich die Kritiken und Kommentare hier so in diesem Thread las, da mußte ich nämlich eigenartigerweise auch an Lars von Trier denken, genau: "Breaking the waves".
Plötzlich standen neben Julie, Jan und Kristin Bess, Jan und Dodo.
Da gibt es, wenn schon auch keine besonders katholische, im übrigen im
Schweden Strindbergs ebensowenig, kirchlich-dörfische Enge: und eben bei weitem viel, viel mehr: am Ende des Filmes sogar Glockengeläut auf hoher See, und der Radar zeigt nischt an.
Möglicherweise ist es sogar das Problem bei den letzten einschlägigen Strindberjulieinszenierungen, daß sie alle irgendwie versuchten, dieses reiche Stück doch noch durch das nadelöhr eines zeitgemäßen Zuschauer-Naturalismus zu führen, anstatt wie Lars von Trier tatsächlich innovative Formlösungen von sich selbst ausgehend anzustrengen: parallel zum Regisseurstheater- scheint es auch noch ein Auteurstheaterproblem zu geben.
Vielleicht gibt es einfach keine "technisch-formalen" Lösungen, uns jetzt und heute "Fröken Julie" näherzubringen, und mich würde ernsthaft in diesem Forum interessieren, wann jemand zum letzten Mal eine wirklich berührende und aufwühlende, verstörende oder aufklärende Version des Stückes gesehen hat..
"Die Assoziation von Wollust mit Unreinheit und Ekel, mit den Listen des Teufels, mit Finsternis, Tier, Körper und schließlich Tod, Verdammnis und Hölle war fest verankert und allgegenwärtig."
Nun gut, vielleicht möchten Sie sich dagegen lieber an das halten, was Julie am Ende zu Kristin sagt: "Ihren Glauben möchte ich haben." Aber geben Sie Gedankenfreiheit!
Ich war Katie Mitchell wenigstens dankbar dafür, dass sie gelegentlich Textstellen aus dem Drama verwendete, um nicht das Gefühl zu haben, einem gänzlich anderen Stück beizuwohnen. Nach etwa einer halben Stunde war der Wunsch nach einem vorgewärmten Teller die erste mir bekannt vorkommende Sequenz.
Nicht zuletzt durch die Rolle der Jule Böwe dominierte die Hervorhebung des Agrarsektors.
Ihr gestischer Minimalismus, der zwischen rustikaler Verbrauchtheit und resignativer Daseinsfristung angesiedelt war, wurde durch das filmisch eingeblendete Augenspiel gebrochen. Die hechtgrau-grün changierenden Augen ließen eine Andeutung glühenden Lebens durchsickern, selbst wenn gegen Ende ein Ausdruck von Schrecken in ihnen lag. Kristin konnte den nächtlichen Dauerflirt von Jean und Julie nicht ertragen und wollte fort, ohne zu kämpfen, es sei denn, der Kirchgang am Ende des Stücks ist als eine Art innerer Kampf zu werten. Ich habe Jule Böwe noch nie in solch einer Rolle gesehen, die bäurische Wortkargheit, Geschehenlassen und gestische Ausdruckskraft derart miteinander verknüpft, und insofern war diese Art des Spielens angenehm überraschend.
Die Vogelszene war, akustisch erklärt durch das Aufschlagen eines Messers auf ein Küchenbrett, ebenfalls beeindruckend, zumal Julie dann den Wunsch zum Sterben äußert. Die sichtbare Präsentation der Art und Weise, wie die Geräusche erzeugt werden, fand ich weder dekonstruktiv noch störend. Ingesamt war der Abend gewiss kein Highlight, aber durchaus goutierbar und etwas für Hand-Fetischisten, sofern es diese Vorliebe gibt.
Etikettenschwindel wird jedenfalls von der Schaubühne hier nicht
betrieben. Ansonsten kann einem schon der Schwindel befallen:
"Weißes Band", "Fibonacci-Zahlen", "Handfetischismus", Jule-Böwe-
Anmutungen zwischen Aschenbrödel, Bess/Dodo (in einer Person),
"Requiem" (Sandra Hüller); ich hoffe, das Stück läuft noch im Januar/Februar, wenn ich mir das selbst in Berlin anschauen könnte.
Und im besagten Brecht-Forum-Abend scheint niemand gewesen zu sein,
schade..
Ich stimme Christian Rakows Kritik größtenteils zu. Das Tempo erinnert mich aber eher an die Sänften aus Liberté als an Ingmar Bergmans wesentlich pointiertere Dialoge und sezierendere Duelle z.B. in "Szenen einer Ehe" oder "Fanny und Alexander".
Die 75 Minuten fühlten sich an wie mehrere Stunden.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2018/06/04/fraeulein-julie-katie-mitchell-laesst-strindberg-an-der-schaubuehne-in-melancholie-versinken/