Perplex - Marius von Mayenburgs Uraufführung seines neuen Stücks
Sex mit Elchen und anderen Dinosauriern
von André Mumot
Berlin, 20. November 2010. "Ihr wollt wohl gar kein Thema auslassen heute Abend", sagt Judith Engel einmal stoßseufzend und erntet einverständiges Gekicher aus dem Publikum. Ja, das ist so ein Satz, der passt wie die Faust aufs Auge. Schließlich ist zu diesem Zeitpunkt schon mehr als genug passiert in der behaglichen Kulisse dieses Schaubühnenwohnzimmers, dessen Panoramafenster tolle Ausblicke gewährt auf sommerliche Hochhausidyllen oder winterliche Feriennatur mit Schneemann – je nachdem, welche Seite des Vorhangs aufgezogen wird.
Es ist viel los: Eben hat der Mann von der Judith, der Robert (Robert Beyer), zum Beispiel ziemlich leidenschaftlichen Geschlechtsverkehr mit seinem besten Freund Sebastian (Sebastian Schwarz) gehabt, der zufällig in einem Ganzkörper-Elchskostüm steckt. Und nun ist Robert total verliebt, möchte nur noch Sex mit Elchen haben und mit Sebastian nach Lappland ziehen, rauscht aber beleidigt ab, weil der Elch bockt und lieber bei seiner Frau Eva (Eva Meckbach) bleiben will, die übrigens als Vulkan verkleidet ist. Schließlich feiern hier zwei Paare eine Kostümparty – oder glauben es wenigstens eine Weile.
Fortlaufende Identitätstransformationen
Mit "Perplex" inszeniert Marius von Mayenburg zum ersten Mal ein eigenes Stück, genauer: eine durchaus furios erdachte und mit einigen schönen Garstigkeiten durchsetzte Farce. Los geht es damit, dass Paar Nummer eins aus dem Urlaub nach Hause kommt. Dort trifft es auf Paar Nummer zwei, das die Pflanzen gießen und lüften sollte, und muss im Lauf der Konversation feststellen, dass sich die Rollen verkehrt haben, dass es plötzlich selbst ungebetener Gast ist. Kurz darauf ist der vormalige Wohnungseigentümer zum grimmig mit Plastikdinosauriern spielenden Kind und die Wohnungsaufpasserin zu seinem Au-pair-Mädchen mutiert. So geht das jetzt eindreiviertel Stunden lang weiter: Fortlaufend finden Identitäts- und Szenentransformationen statt, in penibel ausgeklügelter Mechanik, und der Witz ist stets, dass mindestens eine der handelnden Figuren dies erst mit Verzögerung bemerkt und in der Übergangsphase ziemlich ... nun ja ... perplex darauf reagiert.
Über neckische Assoziationsketten prescht dieses Konstruktionsprinzip voran und bietet den vier Schauspielern, auf deren Leib all das geschrieben wurde, jede Menge Auslauf: Eben beschimpft der kleine Junge seine Eltern noch als Nazis, weil sie ihn nicht Ski fahren lassen, und im nächsten Moment steht er in SS-Uniform auf der Bühne, die dann einen einigermaßen fließenden Übergang zu jener Kostümparty mit dem Motto "Nordische Nächte" schafft, bei der Judith Engel den Grundschüler, der jetzt ihr Gatte ist, dringend zum Wechsel der Verkleidung auffordert. Die Montur habe schließlich "so gar nichts schillernd Ambivalentes."
Versonnen spielt von Mayenburg mit den Bauklötzen szenischer Standardsituationen, die er ständig umschmeißt und neu auftürmt. Das stereotype Beziehungsgeschwafel wird dabei ebenso hämisch parodiert wie religiös-philosophische Bagatellendiskussionen, sowie pathetische Ausbrüche wüster Sozialkritik (Eva Meckbach darf eine ausgebeutete Putzfrau geben, die bei Exklamation abstruser Dichtkunst vorm Sofa ihr Leben aushaucht).
Spirituelle Leere auf multiplen Böden
Allerdings will der Autor-Regisseur auf das "schillernd Ambivalente" selbst nicht so ganz verzichten und unterwandert sein freudvoll albernes Planspiel mit den multiplen Böden der theatralen Metareflexion. Langsam nämlich dämmert den Kurzzeitidentitäten auf der Schaubühnenbühne, dass sie Teil eines Stückes sind. Irgendwann erspüren sie das Publikum, tasten die vierte Wand ab und greifen hindurch. Am Ende dann wird die Kulisse abgebaut.
"Das ist ein Regieklassiker", sagt Robert Beyer, Eva Meckbach regt sich schrecklich auf und Sebastian Schwarz kommt mit angeklebtem Nietzsche-Bart und hält den "Gott ist tot"-Monolog, nur dass er ihn auf den Regisseur dieser Probe bezieht. Diese Welt-Theater-Analogie, in der der Mensch langsam zu sich selbst findet, seine Unabhängigkeit ebenso entdeckt wie die große spirituelle Leere, wirkt angestrengt und macht zugleich deutlich, wie einfach und schön das alles sein könnte, wenn es nur etwas lässiger wäre. "Perplex" ist im Grunde ein fabelhaft effektvolles Geschenk für vier Darsteller, und natürlich greift das Quartett dankbar und mit Verve zu.
Mayenburg aber lässt seine so flexiblen Helden zu oft zu vordergründig wirbeln, toben, grob durch Pointen und potenzierte Dekonstruktionen tanzen. Virtuosität ist im Überfluss vorhanden, Leichtigkeit nicht. Manchmal ist das Schaulaufen komisch, manchmal sieht es nur noch nach Schwerstarbeit aus. "Irgendwann müssen wir aber auch mal Feierabend machen", sagt Sebastian Schwarz schließlich ziemlich groggy und schwitzt. Und das ist dann noch so ein Stoßseufzer, der wie die Faust aufs Auge passt.
Perplex (UA)
von Marius von Mayenburg
Regie: Marius von Mayenburg, Bühne und Kostüm: Nina Wetzel, Musik: Matthias Trippner, Dramaturgie: Maja Zade.
Mit: Eva Meckbach, Judith Engel, Robert Beyer, Sebastian Schwarz.
www.schaubuehne.de
Mehr zu Marius von Mayenburg, als Autor und als Regisseur, im nachtkritik-Lexikon.
"Perplex" sei "so etwas wie ein Wellmadeplay und seine grusel-klamottige Selbstparodie in einem, eine Art dekonstruktive Halloween-Party, auf der sich die Theatermenschen mit ihrem eigenen Theater selbst erschrecken", meint Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (22.11.2010). Und bald schalle "dieses 'perplex' auch wie ein parodistisches Echo des Wortes 'komplex' zurück, das man so gerne vom Theater fordert und das deshalb hier einen neuen Grad der Verworrenheit erreicht. Denn was Mayenburg als Autor und Regisseur hier betreibt, ist so etwas wie die dramaturgische Schöpfung der eierlegenden Wollmilchsau: Ein existenzialistischer Psychokrimi im Gewand einer grotesken Verkleidungskomödie unter Freilegung eines geschichts- sowie eines sozialkritischen Kerns samt pseudophilosophischer Visionen bei metadramatischer Beleuchtung." Doch "trotzdem diese Geisterbahnfahrt durch sich störende Realitäts-, Spiel- und Erwartungshorizonte geistreich verwoben ist", schade "dieser flirrenden Theaterparodie am Ende ihr totalitärer Anspruch. Sie will Theater von aller existenziellen Überforderung befreien - Theater ist eben nur Theater - doch schrumpft es so kleiner, als es ist."
"Je mehr das Publikum das Verwirrspiel genießt, desto verstörter wirken die Figuren", schreibt Elena Philipp in der Berliner Morgenpost (22.11.2010) und weist darauf hin, dass üblicherweise eine Bühnenfigur "gar nicht wissen sollte, dass wir Zuschauer vor ihr sitzen. Das ist die Verabredung auf dem Theater - hier die Schauspieler, dort das Publikum, und dazwischen eine gedachte vierte Bühnenwand. Nicht so in der Komödie des Schaubühnen-Hausautors Marius von Mayenburg." Der habe mit "Perplex" habe "den vier formidablen Schaubühnen-Darstellern eine rasante Komödie auf den Leib geschrieben, die nebenbei das Medium Theater reflektiert. Bürgerliches Illusionstheater, psychologischer Realismus? Nichts wie weg damit. Erfrischend – und sehenswert!"
"Es ist ein Witz, ein Theatergimmick, der mit den Konventionen einer Komödie, den unausgesprochenen Absprachen zwischen Publikum und Schauspielern und Theater- und Identitätsklischees spielt", meint Andreas Schäfer (Der Tagesspiegel, 23.11.2010): "Nicht ernst zu nehmen, aber charmant." Und am Ende klapp sich "dieses Nicht-Stück (...) freundlicherweise (...) selbst wieder zusammen, um bis auf Weiteres in der Kammer der Belanglosigkeit im Fach Schnapsideen zu verschwinden".
"Alles fließt, aber niemand weiß, wohin", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.11.2010). "Die Szenen von 'Perplex' gehen so schnell wie geschmiert ineinander über, die theatralische Strömung ist ganz leichtsinnig komisch." Marius von Mayenburg liebe die Darsteller, denen er die nach ihnen benannten Rollen auf den Leib schrieb: "Dieses famos übergeschnappte Quartett freut sich in zahlreichen Gewändern und Gestalten des närrisch-metaphysischen Lebens, das ihnen der animierte Autor angedichtet und der boulevardsouveräne Regisseur ausgemalt hat: Ist die Identität erst ruiniert, spielt sich's gänzlich ungeniert."
"Perplex" zeige eine neue Wahrheit, so Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (24.11.2010): "Menschen, die im Theater arbeiten, verbringen viel Zeit im Theater. Da sieht es dann so aus, als sei alles Theater. Ob sich dafür der Aufwand eines Theaterbesuchs lohnt, kann jeder mit sich selbst ausmachen." Der Abend könnte durchaus Theatertrash sein, "das könnte sogar einen gewissen Witz haben. In der Berliner Schaubühne aber, in der Regie des Autors selbst, ist es weder trashig noch witzig, sondern so gediegen wie ein Wohnzimmer abends um halb zehn." Sein Fazit: "So geht's nicht."
Dirk Pilz (Neue Zürcher Zeitung, 25.11.2010) erinnert an die vor 570 Jahren erschienene Abhandlung "Über die belehrte Unwissenheit" des deutschen Philosophen Nikolaus von Kues. In ihr lehre er, dass es jene einfache Einheit zu erreichen gelte, in der alle Gegensätze zusammenfallen. "Perplex" übertrage diese Lehre auf das Theater: "Es ist Well-made-Play und Psychothriller, Persiflage und Tragödie, Beziehungsdrama und Verwechslungskomödie zugleich. Bald wisse "niemand mehr, wer hier wer ist. Es folgen allerlei Kostüm- und Identitätswechsel, bis alles zu der einen großironischen Metapher auf die Verwandlungskunst des Theaters wird. In der Uraufführung von Mayenburg steigere sich das Stück "in eine absichtlich überfrachtete, hemmungslos alberne Unterweisung in belehrte Unwissenheit: Was soll uns das Theater überhaupt?"
Mayenburg verlache den "Beharrungs- und Klammerzwang aller Liebenden", meint Peter Kümmel (Die Zeit, 25.11.2010), "indem er sie verhext und sie einander in Sekunden fremd werden lässt, als hätte man ihnen den Zaubertrank aus dem 'Sommernachtstraum' einträufelt." Er spiele eine "Paarkomödie", die wirke, "als wäre sie nach den Regeln der Improvisationsfernsehshow 'Schillerstraße' zustande gekommen". Es sei eine Komödie, "die aus Verlustangst gemacht ist: aus Angst vor dem Gedächtnis- und dem Ich-Verlust". Die Figuren erlebten hier "die dauernde Vertreibung aus der eigenen Existenz durch Menschen, die höhere und ältere Rechte geltend machen". Der "Wirbel" werfe aber "relativ wenig Witz, geschweige denn (Theater)Glück" ab.
Der Versuch, "ein surreales Volkstheater zu erfinden", ermüde an der vorhersehbaren Mechanik, befindet Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (26.11.2010). "Deswegen verlangt von Mayenburg in seiner werktreuen Inszenierung seinen vier Schauspielern vor allem Verwandlungsfähigkeit ab, was zumindest Judith Engel und Robert Bayer meist auch gelingt." In einer veritablen Kostümschlacht könnten sie aber auch nicht verhindern, "dass man sich arg schnell an das harmlose Verwirrspiel gewöhnt. Und so wechselt man zurück in die echte Welt und ist kaum irritiert, dass nach dem Kurzurlaub von der Wirklichkeit derselbe Kudamm auf einen wartet, den man zwei Stunden vorher verlassen hat."
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Na diese Frage ist doch sehr leicht zu beantworten: Der Autor wars.
Zunächst, in diesem Fall hat der Autor doch inszeniert. Da gibt es eigentlich nichts zu diskutieren... Aber, wenn ich Sie hier richtig verstehe, dann gehen Sie von einer strikten Trennung von Bild und Text aus. Richtig? Nur, was ist denn dann eine Karte?
Als Nachtrag zum vorangegangenen Kommentar:
"Die Karte ist das Gegenteil einer Kopie, weil sie ganz und gar auf ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist. Die Karte reproduziert kein in sich geschlossenes Unbewusstes, sie konstruiert es. Sie unterstützt die Verbindung von Feldern, die Freisetzung organloser Körper und ihre maximale Ausbreitung auf einer Konsistenzebene." (aus Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus)
Das mit der Karte verstehe ich nicht ganz. Ist damit gemeint, dass für die Realität ausserhalb des Theaterraums keine Eintrittskarten verkauft werden, weil wir gemeinhin davon ausgehen, dass die Realität nicht inszeniert ist? Was sie in nicht wenigen Fällen natürlich doch ist, beispielsweise auf der politischen Bühne (sic) oder in Shopping Mall-Welten.
Mein Sitzplatz bezog sich auf Ihre Überlegungen, dass es im Theater nur um Darstellbarkeit ginge. Nur haben Sie bei Ihrer bloßen Gegenüberstellung von Sprache und Bild einfach die Karten unter den Tisch fallen lassen. Aber möglicherweise mag erst die Kombination aus Sprache und Bild, wie sie allen Karten eigen ist, zu einem "schöpferischen Akt der Sinndeutung" (Zitat aus dem Kommentar der nicht existenten 12. Reihe) führen. Im Programmheft finden Sie das Bild von Eva (Meckbach) mit dem Kopf Robert (Beyers) neben einem Textauszug von Charles Darwin. Warum eigentlich?
Warum Eva Meckbach neben dem Textauszug von Charles Darwin? Na ja, warum nicht? Eine Frau kann ebenso grausame Gelüste haben wie ein Mann. The killer in you is the killer in me. Nicht lustig? Mm. Ist aber so. Frauen als Engel sind echt voll überholt.
Ich verweise jetzt nur auf Ihren Kommentar Nummer 3 und frage Sie: Wollen Sie mich veräppeln?
(Voluntarismus, Nietzsche, Theater als gesteigertes, eigentliches Leben), fremdbestimmtem (Idealbild, Platon, Gott, der Künstler schafft nur Schatten) und "weltbestimmtem" Theater sprechen (Rekombination, Anpassung, Darwin), legt das wirklich nahe.
Und im Grunde genommen gelingt Mayenburg hier spielend und -wie ich finde- mit leichter Hand der Anschluß an den immernoch schwelenden Konflikt zwischen POSTDRAMATIK - EINFÜHLUNG - VERFREMDUNG, der oft sehr unversöhnlich und durchaus theater-konfessionell geführt wird. Theater als "praktische Reflexion des Menschen seiner selbst" (Schlegel), als Schwester der Philosophie sozusagen, wie sollte es so ganz unbeeindruckt von all den reduktionistischen und revisionistischen Strömungen in der "philosophy of mind", dem Projekt zu einer "Philosophie der Person" (Dieter Sturma) sein? Mit Platon, Nietzsche und Darwin wurden natürlich auch Philosophen/Naturwissenschaftler gewählt, die auf irgendeine Art , auch irgendwie erstaunlicherweise, in aller Munde
sind. Nach einem Pollesch an der Schaubühne würde dann vermutlich der Kurfürstendamm kaum anders auf mich warten als nach diesem Mayenburg (siehe Briegleb), aber daß er wartet: allerhand. Ich kann den Abend empfehlen- er bietet nicht die schlechteste Grundlage, die vielen Theater-Selbstbefragungen der Umgebung (ich rechne den Hermanis "Onegin" ebenso dazu wie die Nunes "Räuber") auf sich zukommen lassen zu können.