Herr Puntila und sein Knecht Matti - der Augsburger Hanswurst Herbert Fritsch inszeniert den Augsburger Brecht in Köln
In der Vollrausch-Show
von Guido Rademachers
Köln, 27. Januar 2012. Vorne an der Rampe rollen die schwarz umrandeten Augen. Der massige Körper findet einfach keinen Halt, scheint im blauen 40er Jahre-Zweireiher zu schwimmen. Die Jacke rutscht von den Schultern, die Hose muss hochgezogen werden. Schließlich landet der Mann auf dem Hintern, spreizt selig ins Publikum lächelnd ein Bein ab, zieht sich über den Boden, kommt wieder nach oben. Mault und tönt, zerkaut die Wörter und rollt demonstrativ das "r". Und schnappt sich das hagere Menschlein, das mit heruntergezogenen Mundwinkeln in roter Chauffeursuniform stocksteif neben ihm steht, um ihm einen langen dicken Kuss aufzudrücken.
Zwischen diesen Herrn Puntila und seinen Knecht Matti passt kein Blatt Papier. Schon gar nicht ein von Brecht beschriebenes. Von wegen, dass sich Klassenunterschiede nicht überbrücken ließen. Die Grundthese des Stücks wird kurzerhand durch ein real existierendes Schmierenkomödiantentum überwunden. Matti ist für Charly Hübner als Puntila herzlich willkommener Anlass, ein reichhaltiges Repertoire an Gepose und Getöne im Schnelldurchgang abzuspulen. Zwischen Vollrausch und Ernüchterung besteht in der Sache kein Unterschied. Beides ist Show.
Parforceritt durch den Text
Michael Wittenborn dagegen fistelt sich als Matti einen Märchenplatten-Gruselton zurecht, der das Gesprochene zur Hälfte auch verständlich werden lässt, und reibt sich, wenn sie einmal nicht an den Hosennähten festkleben, maliziös die Hände. Das leuchtende Beispiel eines launischen Ausbeuterschweins, das ihm beständig vor den Augen herumspukt, exerziert er selbst einmal probeweise an Puntilas Tochter Eva (unbeirrt debil gespielt von Angelika Richter) durch und stakst anschließend wie ein Untoter von dannen, wohl auf der Suche nach einem Sarg für ein kurzes Schläfchen.Brecht auf der Riesenrutsche © David BaltzerDass dieser Matti niemals auf die Idee kommen könnte, Puntila zu verlassen, liegt auf der Hand. Der knapp zweieinhalbstündige Parforceritt durch den Text endet vorzeitig mit einem Loblied auf die finnische Landschaft. Von den Palmen der 40er-Jahre-Revuebühne, die Janina Audick mit Südseeflair und integrierter Riesenrutsche für das Kölner Schauspielhaus hat bauen lassen, fallen die Kokosnüsse.
Verlegenheitslösungen und putzige Einfälle
Die Inszenierung von Regie-Shootingstar Herbert Fritsch wirkt, als führe 300 Jahre nach seiner Verbrennung durch die Neuberin ein wiederauferstandener Hanswurst einen Rachefeldzug gegen das literarische Theater. Gar nicht einmal verkehrt. Denn dass die Thesen des in der "Inzwischenzeit" des Exils zum Kunstsalonkommunisten verdammten Brecht heute kaum noch darstellbar sind, ist klar. Klar auch der Bezug der Inszenierung zum Volksstückhaften des "Puntila". Und natürlich kommt der ausgewiesene Einfühlungs-Allergiker Fritsch den Brecht'schen Theatermitteln nah. Die Begegnung des Augsburgers Fritsch mit dem Augsburger Brecht hätte ein Glücksfall sein können. Es sollte nicht sein.
Zu schnell ist das Pulver verschossen. Nach einer Viertelstunde ist alles vorhersehbar. Im immergleichen Höchsttempo kreist die Aufführung nur noch um Bekanntes. Verlegenheitslösungen treten an die Stelle von wirklichen Einfällen. Ein sporadisch eingesetztes chorisches Sprechen, das wohl augenzwinkernd an die legendäre Einar Schleef-Inszenierung von 1996 erinnern soll, wirkt eher putzig. Jeder darf sich einmal in seinem Lieblingsdialekt versuchen. Und die faden Witzchen häufen sich. Zur ständigen Musikbegleitung (am Flügel im Josephine-Baker-Bananenröckchen John R. Carlson) heißt es: "Ist das Dessau?" "Nein, hier ist Köln."
Das, wovon bei Fritsch-Inszenierungen immer die Rede ist, diesmal fehlt es. Durch Höchstbeschleunigung wird Energie nur simuliert. Wirklich vorhanden ist sie nicht. Beeindruckend allerdings bleiben die sich vom Hemd auf den Hosenboden und schließlich den ganzen Anzug ausbreitenden Schweißflecken des Puntila.
Herr Puntila und sein Knecht Matti
von Bertolt Brecht
Regie: Herbert Fritsch, Bühne: Janina Audick, Kostüme: Victoria Behr, Dramaturgie: Sybille Meier, Sabrina Zwach
Mit: Charly Hübner, Michael Wittenborn, Angelika Richter, Michael Weber, Robert Dölle, Maik Solbach, Anja Laïs, Karin Kettling, Jennifer Frank, Maike Jüttendonk, Andreas Grötzinger, Holger Bülow, John R. Carlson
www.schauspielkoeln.de
Fritschs Inszenierungen böten keine Interpretation und Lehre, sondern setzten theatralische Energien frei, das sei ja das Erfrischende an ihnen, so Bernhard Doppler im Deutschlandradio Kultur (27.1.2012). Auch in Köln gebe es wieder ein "Fest sich austobender Schauspieler" zu sehen. Brechts Text werde ziemlich getreu gespielt, doch die Aufführung mache einen oft verdeckten Aspekt sichtbar: "Brechts Nähe zu Komikern wie Valentin oder Chaplin", diagnostiziert Doppler. In keinem Werk habe Brecht sich so sehr wie in diesem in der Komödie ausprobiert. "Puntila ist durchaus ein deftiger finnischer Bauernstadl." Und es tue dem Werk "gar nicht schlecht", wenn es nicht als Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Kommunismus didaktisiert würde.
"Eine Brecht-Revue ganz anderer Art, so komisch wie kunstvoll" hat Karin Fischer für den Deutschlandfunk (28.1.2012) gesehen. Der "höhere Ulk des Regisseurs" treffe sich hier mit der musikalischen Revue der Brecht-Zeit "in einem Theater, das das Chorische in jeder Form zu seinem heimlichen roten Faden gemacht hat". Mit Brechts scharfzüngiger Oben-Unten-Parabel habe der Abend nicht mehr viel zu tun; die höheren Botschaften blieben schon wegen partieller Textunverständlichkeit "bei gleichzeitiger circensischer Höchstleistung der Schauspieler" auf der Strecke. "Doch es gibt eindrückliche Szenen, wenn die Arbeiter auf dem Gesindemarkt mit weit aufgerissenen Augen und Mündern eine Gruppe sozial Depravierter spielen." "'Durch Komik wahr werden', könnte Herbert Fritschs Motto lauten", so Fischer, "der ansonsten findet: Nur ein verulkter Dramatiker ist ein guter Dramatiker." So schaffe er spielend, was Brecht nie gelungen wäre: die Umwertung aller Werte auf dem Theater.
Im Bonner General-Anzeiger (30.1.2012) schreibt Hartmut Wilmes: Es gäbe "etliches" zu sehen, fast jede Szene werde "angeschrägt, aufgeschrillt, unter Slapstick-Starkstrom gesetzt". Charly Hübners Puntila "tänzelt und torkelt, wälzt und windet sich, platscht auf den Boden, springt wie elektrisiert wieder auf - und das alles gewissermaßen in einer fließenden Dauerbewegung". Michael Wittenborn sei hingegen "oft wie festgedübelt" und wirke mit schnarrendem "Rrrr" "manchmal wie eine Hitler-Karikatur". Meist blieben die beiden "seltsam beziehungslos im entfesselten Tohuwabohu". Die Kostüme seien "eine Schau" und Angelika Richter bekommt als Tochter Eva gleich "vier Doppelgängerinnen verpasst". Das alles habe anfangs "Schmiss und Schwung", doch schon bald "krampft die temperamentsbolzende Comic-Kurzweil, und die Inszenierung kalauert sich um Kopf und Kragen".
"Man bekommt viel geboten bei diesem 'Puntila', viel zu viel", schreibt Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (31.1.2012), "manches davon zulasten der Textverständlichkeit. Schon Brecht selbst habe sein Stück als Volksstück beschrieben. "Da muss man sich nicht wundern, wenn Fritsch den 'Puntila' mit allen Mitteln des Volkstheaters auf die Bühne bringt." Allerdings übererfülle mancher Darsteller Brechts Regieanweisungen beiweitem, so der Rezensent. Auch kann er sich gelegentlich des Eindrucks nicht erwehren, "dass Fritsch Regieeinfälle an die Wand wirft und abwartet, was kleben bleibt." Aus seiner Sicht könnten "Puntila und sein Knecht Matti" auch Asterix und Obelix sein. Wer nach schlüssiger Interpretation suche, verirre sich in dieser Inszenierung schnell und verpasse "ein glänzendes Ensemble, das dem Affen Zucker gibt, bis dieser an den Folgen der Diabetes dahinscheidet.
"Bereits kürzlich in Hamburg habe man beim 'Raub der Sabinerinnen' sehen können, so Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (31.1.2012), "Fritschs exzentrisches Hysterienspiel ist kein Regie-Selbstläufer, es braucht radikale Mitläufer. Wer sich ziert, gar geniert, den Wahnsinn nicht lebt und geistreich füllt, wirkt albern – wird fad." Entsprechend wenig sei am Premierenabend gelacht worden, gibt der Kritiker zu Protokoll. Seine Empfehlung: "Vielleicht sollte Fritsch, der gern ohne Konzept in die Proben geht, demnächst doch vorher überlegen, was ihn an einem Stück interessiert."
"Keine Stoßrichtung, außer im Unterleib", schreibt Alexander Haas in der taz (31.1.2012). "Das ist große Klasse - und irgendwie doch ermüdend." Bei Herbert Fritsch regiere die Feier des Schauspielers, weitgehend losgelöst von der Rolle. Einmal mehr bestätigt sich an diesem Abend der Eindruck des Kritikers, "dass Fritsch jedes Stück, das er zwischen die Finger bekommt, mit denselben Mitteln aufbereitet." Herbert Fritschs "Puntila" folge dem Muster des Volkstheaters und prügele mit seiner Show "jede Interpretation aus dem Abend. Das alles erschöpft sich in sich selbst, permanente Amplitude."
Andreas Rossmann schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.2.2012), dass er die viertelstündige Applausordnung, bei der nach dem Ende die Schauspieler doch noch zu ihrem Recht auf Individualität kämen, für eine zu späte "Wiedergutmachung" hält. Zwei geschlagene Stunden lang sei das Ensemble "durch Brechts Volksstück gejagt, angetrieben von einem Regisseur, der es taumeln und tollen, grimassieren und glotzen, kippen und kaspern lässt". Noch jedes Drama bringe dieser Regisseur "auf die Hochtouren der Hanswurstiade". Was Klassengegensätze heute noch hergeben, sei keine Frage, mit der Fritsch sich abgeben möchte, "Inhalte interessieren ihn nicht". Die Akteure erschienen "durchweg berauscht", die Aufführung aber sei "alles andere als berauschend". "Wer das Stück nicht kennt, lernt es hier nicht kennen."
"Grell, laut und völlig überdreht powern die Schauspieler, was das Zeug hält", beschreibt Stefan Keim den Abend in der Welt (31.1.2012). Die Energie verpuffe oft im puren Selbstzweck der Aktionen, "zu viel Slapstick ermüdet". Doch immer wieder gelängen Fritsch "herrliche Szenen". Charly Hübner vollbringe als Puntila eine "Energieleistung – wie auch das Ensemble insgesamt".
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Ich fand es mitnichten eine "Verhohnepiepelung" sondern sogar ziemlich werktreu.
Ich weiß gar nicht, was schlimmer ist: diese Form der Hampeleit oder die statischen Langeweiler, wie sie zur Zeit z. B. in Karlsruhe geboten werden.
was wäre denn mal ein theater das sie begeistert wenn anscheinend gerade alles furchtbar ist, gibt es das?
man weiß gar nicht was schlimmer, schimmer und glimmer ist
wenn gerade alles so fruchtbar ist
Anfang 2O12?
Ich habe - wie oben bereits angedeutet - an diesem Abend keine Hampelei gesehen.
Das mit der Langeweile können wir in Köln aber auch sehr gut. Das können Sie im Lexikon hier auf der Seite unter "C" wie Chétouane oder "L" wie Latella alles nachlesen.
Zu Ihrer Frage, wie ich auf ADHS komme: Ihre Einschätzung ("Es gab doch immer was zu entdecken") scheint mir nicht dafür zu sprechen, dass die Inszenierung Konzentration erfordert. Überspitzt formuliert ist eine solche Inszenierung dann auch für ADHS-Patienten geeignet, womit ich selbstverständlich keine Diagnose stellen möchte.
Natürlich, die große Warum-das-Alles-Frage, kann man immer stellen...
"Warum" ist kein Kriterium in der Kunst, ich weiß...
Aber große Anstrengung und fleißiges Bemühen um Theaterkunst auf der Bühne stand, meines Erachtens, in traurigem Ungleichgewicht zu Langeweile und Ratlosigkeit im Parkett.
Was Fritschs Komödienglück im Allgemeinen betrifft, so dürfte der Zenit oder vielbemühte „Rubikon“ aber tatsächlich überschritten sein. Schon seine Vollverklamottisierung des nun wirklich oberblöden Stückes „Der Raub der Sabinerinnen“ am Thalia in Hamburg war eher mäßig witzig und funktionierte überhaupt nur noch durch die guten Schauspieler. Man darf gespannt sein, was Fritsch zu seiner ersten Uraufführung an der Berliner Volksbühne im März einfallen wird, wo er das Künstlerbuch „Murmel“ des Fluxus-Unikums Dieter Roth inszenieren will. Danach können wir uns wieder lang und breit über Sinn und Unsinn, Schmarren und Fressen, sowie alle möglichen Formen von „Scheiße“ unterhalten.
Meinetwegen schlechtes Stück ! Meinetwegen brauchte Brecht 'ne warme Suppe ! Meinetwegen !
Und das Herr Fritsch zu den "Guten" gehört, die nicht nur aus wahnwitzigem Karrierismus Theater machen, glaube ich auch. Wirklich !
Die Frage ist doch nur; Warum macht man Stücke die nix taugen ? Oder; Warum macht man Stücke zu denen einen nix taugliches einfällt ? Oder; ...Warum macht man Stücke ???
Das Blöde ist doch, das jedes kleine, erfolgreiche Pflänzchen gleich so zum überall-weiter-wachsen verdonnert ist... da kann vielleicht selbst die lustige alte Fritsch-Eiche, den gierigen Großgärtnern nicht widerstehen (schreckliche Metapher... ich weiß !!!)
Aber eben; je größer der Output, desto wahrscheinlicher, das mal was daneben geht (oder zumindest kritisch in Frage gestellt wird) - und das ist ja auch vollkommen in Ordnung !!!
Wenn auch Schade !
"Das Stück, das Brecht im finnischen Exil nach einer finnischen Vorlage schrieb, zum Beweis der These, daß sich Arm und Reich ebensowenig mischen lassen wie "das Wasser mit dem Öl", hat für seine Herr-Knecht-Thematik einen genialen Grundeinfall...
Ein finnischer Gutsbesitzer verbrüdert sich betrunken mit seinem Chauffeur, dem er das nüchtern um so herrischer heimzahlt. Brecht hat das zu Recht klassenkämpferisch begründet. Es geht auch ein paar Schuhnummern kleiner: wer wüßte nicht, zu welchen Verbrüderungssentimentalitäten Betriebsfeste oder Kneipenausflüge führen, die dem nüchternen Morgen und dem Kater nicht standhalten. Das wußte auch Brecht, und wenn sich sein Puntila nach einer durchzechten Nacht gleich viermal verlobt, so braucht er dazu kein "Kapitalist", kein "Krautjunker" zu sein. Mann allein genügt.
Wildgruber hat für die Rolle des tagelang in Kneipen verlorengehenden Gutsherrn zwei glänzende Grundvoraussetzungen. Einmal spielt er einen Trunkenbold, dessen Räusche zwar lärmend und ausdauernd sind, die aber Charme und Größe haben. Dieser Puntila, der alles und jeden unter den Tisch trinkt, wächst in seinen Rausch hinein, bläht sich zur Größe.
Wie Lears Majestät sich erst im Wahnsinn wirklich zeigt, so erscheint Puntilas Menschlichkeit erst im Schnaps. Wildgrubers Puntila wird als bramarbasierender, mit Geld um sich schmeißender Trinker nicht nur geduldet, weil er ein mächtiger Herr in seiner Gegend ist, sondern er wird (auch vom Publikum) geliebt, weil seine lallende Schwere schwebende Leichtigkeit hat, weil sein stieres Auge elektrisiert, weil er mitreißt.
Die zweite Voraussetzung: Wildgrubers Puntila ist nüchtern ein eher verlegener (eben verkaterter) Menschenschinder. Er muß sich abwenden, zu Boden sehen, wenn er einsammelt, was er betrunken verschenkt hat. Das macht ihn nicht etwa edler, im Gegenteil. Aber es macht ihn verständlicher.
Mit anderen Worten: Dieser Puntila ist leicht, hellsichtig, zart, wenn er schwer torkelt, und er ist unbeholfen, in sich zusammengesunken und schwer, wenn er bei klarem Verstand ist.
So ist auch sein Partner, der Chauffeur Matti (das ist immer die undankbarere, weil miesepetrige Rolle des Spielverderbers und Rechthabers), hier besser dran als in anderen "Puntila/Matti"-Inszenierungen: Er darf sich mitreißen lassen von dem Schwung seines Herrn. Christian Redl, ein exzellenter, kraftvoller Schauspieler, ist in dieser Rolle, was man darin nur sein kann: ein lyrischer Prolet, einer, der Kraft hat und Resignation."
Hellmuth Karasek, DER SPIEGEL 50/1983 (gekürzt)
Da haben Sie mich, glaube ich, schon missverstanden. Ich würde eher das Gegenteil behaupten. Man braucht durchaus Konzentration um alle Ideen und Ereignisse der Inszenierung mitzubekommen.
Ich bin mir auch unsicher, ob ich Ihr Problem mit der Ablenkung richtig einordne. Also, wenn ich mich entscheide, das Theater zu besuchen, dann ist das doch keine Ablenkung von irgendwas sondern eben mein Wunsch, mich in den nächsten Stunden mit eben genau dem gewählten Theaterabend auseinanderzusetzen.
Lieber aha. Ich gehöre zu keiner Partei. Unabhängige soll’s auch geben. Habe mir das Pseudonym gegeben, weil mir das ewige Plagiieren in allen Bereichen des Lebens unendlich auf den Senkel geht. Für mich ist Guttenberg DER Sozialtypus unserer Zeit: Keine eigene Meinung haben, die aber 300ig;.
Es gibt viele Sachen von Brecht, die ich unbeschreiblich bewundere: gerade z.B. die unveröffentlichten Gedichte aus dem Exil, die ganze TUI-Problematik, eine ganze Reihe von Sachen aus der DDR-Zeit, wo er sich wirklich in die Dialektik hineinbegibt und ständig in die Aporie kommt, sodass er die Sachen abbrechen muss. Seine Versifikation des Kommunistischen Manifests gehört für mich zum Atemberaubendsten, was es gibt. Den Puntila aber finde ich in dieser Pseudo-Volksstück-Naivität fast unspielbar.
@ 17: Danke, lieber Stefan. Ich stimme Dir voll zu. Die Herr-Knecht-Dialektik im Stück ist schön. Aber das ganze Drumherum kann ich nicht ertragen: diese Bräutlein und die dumme Gans Eva und der bescheuerte Attaché. Ich liebe Nonsense, wie Ihr aus meiner Begeisterung für Fritschens „Spanischen Fliege“ ersehen könnt. Aber als Witz ist die Eideidei-Naivität mit den Ringlein und so einfach zu blöd. Allenfalls könnte ich mir das Ganze als poetisches Märchen denken. Vielleicht hatte der Steckel im BE damals so was.
Thalheimers Puntila werde ich mir auf Ihren Rat also ansehen. Ich hatte bisher einen Bogen drumherum gemacht, weil mich wirklich begeistert von Thalheimer eigentlich nur seine „Einsamen Menschen“ haben.
Vielleicht sollte ich den Puntila einfach nochmal lesen und revidiere dann meine Meinung. Die letzte Lektüre liegt 25 Jahre her. Zwischendurch habe ich nur unendlich viele Regisseure an ihm scheitern gesehen. Auch Einar Schleef, obwohl ich Jutta Hoffmann über alles verehre und es sehr anrührend fand, dass Schleef mit dieser Form von Masochismus sein Stottern überwunden hat. Da hat sich so etwas wie ein Sprachwunder eingestellt. Aber das hat natürlich nichts mit Puntila zu tun.
Warum macht man Stücke, die nichts taugen?
Festzustellen ist, dass viele Stücke ausprobiert werden, die nichts taugen. Ein Intendant, der mir konzedierte, dass ein Desaster vorhersehbar war, antwortete mir darauf: Man muss die Stücke in den Praxistest schicken, um zu sehen, ob sie funktionieren, und darf sie nicht vorverurteilen. Da ist was dran. Wir alle kennen schlechte Stücke, die zu großartigen Aufführungen wurden. Ich selbst erinnere mich z.B. an eine großartige „Stella“, 1983 von Hans Hollmann in Zürich (sorry, „Stella“ ist kein „schlechtes Stück“, aber man muss seine Qualitäten erst mal entdecken) oder an Rudolf Noeltes „Michael Kramer“ in Hamburg, wo er einfach das ewige „wissen se“ rausgestrichen hat, womit Hauptmann seine Hauptfigur denunziert oder die epochale „Pension Schöller“ von Castorf und und und.
Das ist das Eine.
Das Andere ist die Frustration, wenn man sich Stücklein um Stücklein anschaut, aus denen man hungrig wieder rausgeht, weil man sich fragt: Was hat man davon gehabt. Wo ist z.B. das berühmte „Totenfloss“ von Harald Müller geblieben, das nach Tschernobyl die ganze Republik nachspielte? Was sollen mir Nettigkeiten wie Bakunin auf dem Rücksitz oder Die Ängstlichen und die Brutalen usw.?
Es ist sehr sehr traurig, dass so viele Mittel und Energien für Sachen verschleudert werden (ich meine jetzt speziell am Theater – anderswo ist das ebenso), die die Welt nicht braucht. Aber das ist eben so. Theater ist auch nur ein Betrieb und Künstler sind auch nur Arbeiter. Vielleicht müsste man den Betrieb einfach mal entschleunigen. Andererseits, wie Sie schon sagen: wer öfter schießt, trifft vielleicht auch öfter. Wenig zu produzieren ist genauso wenig ein Garant für gutes Theater, wie nach dem Wegwerfprinzip viel zu produzieren.
Das sind halt die Widersprüche des Lebens.
Vielleicht findet einer der hier mit Diskutierenden ja die Goldene Formel?
Ansonsten gebe ich zu, verehrter Herr Steckel, dass ich die von Karasek so warm und sympathisch beschriebene Inszenierung (und auch diejenige Brechts) liebend gerne gesehen hätte. Man kann nicht immer nur in der „Wahrheit“ leben (Was ist Wahrheit) und „Nur Mörder sind konsequent“ (Nikolaus Harnoncourt). Deswegen gefällt mir die Hegelsche Denkfigur, aufgefordert zu sein, immer „das Andere“ zu denken, das, was man nicht selbst ist. Auf diese Weise ist man wenigstens immer unterwegs. Und Theater ist ja nicht Rechthaberei, sondern Erlebnis.
In diesem Sinne freue ich mich auf Inszenierungen, die mich den Puntila als geniales Stück entdecken lassen.
Herzlichst Ihr Guttenberg
Komme gerade von der Mario-Adorf-Ausstellung aus der Akademie der Künste, Berlin, wo man eine Szene aus dem Puntila-Film mit Steckel als Puntila, Adolf als Matti, Karin Baal als Eva sehen kann, 1966. Das ist die 9. Szene bei Brecht: Eva soll Matti heiraten und Matti inszeniert eine Hausfrauenprobe. Er beweist dem gesamten Bürgertum, dass sie nie eine "Chauffeursfrau" werden kann: z.B. will sie unnütze Bildung besitzt, aber weder Strümpfe stopfen, noch Essen machen, noch es ihrem abgearbeiteten Mann bequem machen kann...
Also, das zieht einem wirklich die Schuhe. Dieses Hausfrauenbild (und die vier Bräute sind ja nicht anders) ist von einer Blödheit, die man nicht mal als Arbeiterbewegungsfolklore ertragen kann. Und das steht wirklich bei Brecht...
Ich würde gerne wissen, wie man sich als Frau fühlt, wenn einem Derartiges zugemutet wird...
Können Sie sich vorstellen, dass es sich bei Mattis "Hochzeitsexamen" um eine Verzweiflungstat handelt?
meinen Sie eine Verzweiflungstat, um sich die unsittlichen Annäherungen des Herrn ein- für allemal zu verbieten? Das könnte ich mir vorstellen. Aber warum spielen dann Puntila, Eva und all die Honoratioren bei dieser Selbsterniedrigung mit?
Das würde ich mir sehr interessant vorstellen, in einer Inszenierung auszuprobieren, ob man das glaubwürdig hinkriegt. Aber inszeniert man unter dieser Prämisse nicht vier Ecken um den heißen Brei des Textes herum, um ihn irgendwie in seinem Kern zu retten?
Jedenfalls ist das eine faszinierende Anregung. Sie sind eben doch ein Großer. Herzlichen Dank.
Ein Jammer, dass ich Ihre Hamburger Inszenierung damals nicht gesehen habe. Gibt's ein Video?
Hätte wahnsinnig gern auch Ihr "Gerettetes Venedig" und Ihren "Timen von Athen" gesehen.
P.S.: Die Fotos und die Dokumentation der Brecht-Aufführung in dem Buch "Theaterarbeit" find ich natürlich sensationell. Ich krieg das nur nicht mit dem faktischen Text zusammen. Er hat für mich etwas Gewolltes und an den Haaren Herbeigezogenes (Überzogenes). Deswegen beteilige ich mich ja an diesem Blog. Ich will ja eigentlich widerlegt, aufgeklärt werden. Aber nicht durch Sprechblasen und Allgemeinplätze über Ausbeutung, sondern: Wie ist das Anstößige dieses Stückes zu verstehen? Seine pseudonaive Form? Das Kokettieren mit dem "Volksstück"? Das Thema "Ausbeutung mit menschlichem Antlitz" ist ja aktueller denn je. Da brauch man gar nicht drüber zu diskutieren.
Ob ein Video der Hamburger Aufführung existiert, entzieht sich meiner Kenntnis. Von TIMON AUS ATHEN (so der Titel meiner Übersetzung) ist eine Fernsehaufzeichnung des ZDF vorhanden.
DAS GERETTETE VENEDIG (von Hofmannsthal nach Otway) war der grösste Flop in den Anfangsjahren der 1970 neugegründeten Schaubühne am Halleschen Ufer und hätte mich um ein Haar meinen - mir damals unersetzlichen - Job als Regie- und Dramaturgieassistent von Peter Stein und Dieter Sturm gekostet. Aber auch das gehört nicht hierher. Nur: Wie kommen Sie auf diese Inszenierung?
"Theaterarbeit" ist in der Tat ein echter Hit - es sind, dem Desinteresse an Brecht sei Dank, unzählige antiquarische Exemplare erhalten. Auch für eine Theaterkonzeption, die zu neuen Ufern aufbricht, ist dieses Buch eine unverzichtbare Lektüre - man lernt, die alten Ufer zu schätzen.