Melodien für Milliarden - Florian Fiedler rockt in Hannover Soeren Voimas neues Singspiel
And the ass saw the angel
von Nikolaus Stenitzer
Hannover, 13. Oktober 2012. Man kennt sie, ob man will oder nicht. Die unvergesslichen Klassiker des Genres, das irgendwann zum "Classic Rock" gealtert ist, und seine Legenden: Canned Heat. Led Zeppelin. Creedence Clearwater Revival. Deren Hymnen hört man unweigerlich in Oldies-but-Goldies-Radiosendern, nächtlichen Fernsehwerbungen für CD-Box-Sets, aus Lautsprechern in den Einkaufszentren. Und von Musikerinnen und Musikern in den Fußgängerzonen der Innenstädte, die wissen: Wenn etwas geht, dann gehen die Siebziger.
Andere Werte in der Konservenbüchse sammeln
Ass ist so einer. "Heat haben nur Hits geschrieben!" schreit Ass, als ihm der Eindruck entsteht, die Leistung seiner Heroen werde geschmälert. Ass muss es wissen. Denn er ist jetzt Künstler und verbreitet die reine Lehre des angegrauten Bluesrock auf dem Trottoir vor einem Einkaufszentrum. Sebastian Schindegger spielt Ass in der Uraufführung von Soeren Voimas Singspiel "Melodien für Milliarden" am Schauspiel Hannover mit liebenswürdigem Witz. Immer der unbeholfene, aber unbeirrbare Entertainer, erzählt er seine Geschichte: Die Entlassung aus dem Job; die Katastrophe, als er versuchte, als Verkäufer von "Finanzprodukten" wieder auf die Beine zu kommen; der Neubeginn als Künstler, für den "andere Werte" zählen als die, die er am Ende des Tages aus der Konservenbüchse sammelt, die vor ihm steht, während er singt.
Jakob Benkhofer ist als Snoopy ein würdiger Zuhörer und Widerpart. Er ist der Kaufhauswachmann, der den Musiker vom Gelände vertreiben soll – und diesem dabei nicht unähnlich ist: Bei der Mutprobe, auf die ihn die Security-Kollegen gestellt haben, hat er versagt und sich damit für alle lukrativen Nebenjobs im Hells Angels-kontrollierten Saalschutzgewerbe disqualifiziert. Statt Konzerte und Fussballspiele bewacht er das Einkaufscenter für den Mindestlohn – der am Ende auch noch wegfällt, denn seine Unfähigkeit, den traurigen Musiker zu verscheuchen, wird zum Entlassungsgrund.
Feine, tragische Komödie vom Rand
Benkhofer und Schindegger spielen das Spiel vom Rand und sind gut darin; die Darstellung als Zwiegespräch und Erzählung am Bühnenrand mit eingeschobenen Szenen, in denen der ehemalige Chef (Wolf List), die ehemalige Ehefrau (Katharina Uhland) und einige Hells Angels (Thomas Mehlhorn und abermals Wolf List, sehr wandlungsfähig) auftreten, gerät zu einer feinen, tragischen Komödie.
In die sich Johanna Bantzer als Cat bestens einfügt – als Besitzerin der Imbissbude ist sie ebenfalls dem Rock der längst vergangenen Zeit verfallen und engagiert die zwei traurigen Gestalten, um mit ihnen gemeinsam zu singen und so zusätzliches Imbisspublikum zu generieren. Der Umstand, dass dieses Konzept zum Erfolg wird, enthält einen Subtext, der sich durch den Rest des Stückes zieht: Nicht Neues braucht es, um neue Kunden anzuziehen. Sondern Altes. Nostalgie, gute alte Zeit, handgemachte Musik: Dafür, so scheint es, nimmt man auch die Currywurst in Kauf.
Ein wenig behäbig gerät Regisseur Florian Fiedler dann die Erzählung vom Aufstieg der nun gegründeten Band vom Wurststand zur neu errichteten Bühne im obersten Stockwerk des Einkaufszentrums. Ihr geht die Leichtigkeit jener vom Abstieg ab, mit der das Stück eröffnet hatte. Das liegt auch daran, dass das Format der retrospektiven Erzählung großteils aufgegeben wird, was schade, aber unvermeidlich ist: Denn nun tritt eine Figur auf, die direkt erzählt – oder vielmehr performt – werden will.
Coq war irgendwann einmal weit oben als Musiker, bis ihm die Zeit und die Drogen Einhalt geboten haben; Cat und Coq kennen sich aus besseren Zeiten, er schwärmt noch heute für sie und erklärt sich bereit, nicht nur seine verbliebenen Kontakte, sondern auch seine Expertise (und seinen Sexappeal) als Bandleader in das neue Projekt einzubringen.
"Keep on rockin' in a free world"
Die Figur des verkrachten, im Drogendämmer und im Bademantel aufgehobenen Musikers ist einer der Lieblinge des Publikums in Hannover, und Andreas Schlager spielt sie mit sichtlichem Genuss. Trotzdem hätte hier wesentlich weniger gereicht; die Mischung aus Absturz und Glamour hat einfach ein wenig zuviel Klamauk und Lautstärke, die anderen Charaktere verschwinden beinahe. Vielleicht hätte Regisseur Fiedler seinen Star gelegentlich ein wenig bremsen können.
Wenn schließlich der Einkaufszentrums-Gig aus nicht ganz durchsichtigen Gründen in Chaos und Anarchie versinkt, kommt die Geschichte von der Kraft der ehrlichen Musik zu sich: "Keep on rockin' in a free world" singt das Ensemble in den Nebel, Andreas Schlager/Coq schwebt post mortem über der Szene (und zitiert dabei noch ein Stück Popgeschichte – "And the ass saw the angel" hieß der erste Roman von Nick Cave).
Dass am Ende in einer ganz unfreien Welt nur die Hymne eines alten Kapazunders wie Neil Young bleibt, um den gescheiterten Protagonisten ein paar gute Minuten zu verschaffen, ist eigentlich eine Tragödie; dem Stück und der Aufführung hätte etwas mehr Bewusstsein dieses Umstandes sehr gut getan. Das Publikum in Hannover bejubelt frenetisch das (durchwegs ausgezeichnet) singende Ensemble und die dazugehörige Band – und vielleicht auch ein paar eigene Erinnerungen.
Melodien für Milliarden (UA)
Singspiel von Soeren Voima
Regie: Florian Fiedler, Bühne: Maria-Alice Bahra, Kostüm: Selina Peyer, Musik: Martin Engelbach, Video: Bert Zander, Dramaturgie: Christian Tschirner.
Mit: Jakob Benkhofer, Andreas Schlager, Sebastian Schindegger, Wolf List, Thomas Mehlhorn, Katharina Uhland, Johanna Bantzer. Band: Martin Engelbach, Marco Schmedtje, Lieven Brunkhorst, Dirk Ritz.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause
www.schauspielhannover.de
In unserem Niedersachsen-Schwerpunkt erschienen bisher der Überblicksartikel von André Mumot Punktsiege auf dem platten Land sowie die Besprechung von Nico Dietrichs Inszenierung von Viel Rauch und ein kleines Häufchen Asche am Schlosstheater Celle. Alle Beiträge zum Thema verzeichnet das Stichwort Niedersachsen-Schwerpunkt in unserem Lexikon. Ermöglicht wird der Niedersachsen-Schwerpunkt von nachtkritik.de durch eine Förderung der
"Das Singspiel von Soeren Voima parodiert die Welt der Käuflichkeit", schreibt Gerd Schild in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (15.10.2012). Es gehe um das Bewerten, das Leben als Castingshow. "Dann wieder ein Hit. Eins, zwei, drei, vier und – schwuppdiewupp – das Publikum ist dabei." Der Trockeneisnebel lasse nicht nur die Umbauten verschwinden, sondern auch die Grenze zwischen Bühne und Publikum verschwimmen. Gelungen sei außerdem die Musikauswahl.
"Melodien für Milliarden" vertreibe "Den Phantomschmerz, den der Wegfall der Wittenbrinck-Abende hinterließ", jubelt Evelyn Beyer in der Neuen Presse (15.10.2012). Der Abend setze auf Einfachheit mit großer Wirkung. Voimas Stück sei ein Glücksfall: "Dialoge, die den Ton der Figuren treffen, viel Hintersinn und anarchischer Witz", Fiedlers Regie "arbeitet alles heraus und bringt die Schauspieler knallig, aber mit Zwischentönen ins Spiel". Ihr Fazit: "Das bitte ab jetzt jede Saison."
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