Ich wünsch mir eins – Azar Mortazavis neues Stück in Osnabrück von Annette Pullen uraufgeführt
Die Frage, was Heimat ist
von Kai Bremer
Osnabrück, 7. Dezember 2012. Azar Mortazavi gewann mit ihrem Erstling Todesnachricht immerhin den Else-Lasker-Schüler-Stückepreis. Auch dessen Uraufführung in Kaiserslautern vermochte insgesamt zu überzeugen. Gestern nun kam ihr zweites Drama "Ich wünsch mir eins" in Osnabrück zur Premiere, seit Jahren ein für seine Lust auf Uraufführungen bekanntes Haus. Erst eine Woche zuvor hatte Pelliers Wir waren hier seine deutsche Erstaufführung. Für den Abend gestern war Annette Pullen verantwortlich, die seit der letzten Spielzeit leitende Schauspielregisseurin ist, und das Theater gerade im Hinblick auf die Qualität der Aufführungen einen deutlichen Schritt voran gebracht hat.
Sehnsucht nach dem anderen Land
Hauptfigur des Stücks ist Leila (Andrea Casabianchi), die sich ein Kind wünscht – offenbar nicht zuletzt, weil sie ein Wesen sucht, dem sie Liebe geben kann und das Liebe erwidert. Sie kreuzt immer mal wieder bei George (Thomas Kienast) auf, der ratzfatz mit ihr schläft und sie wieder verstößt. Dann sucht Leila Zuflucht bei Sybille (Maria Goldmann), die einen kleinen Jungen hat, dem sie kaum Zuneigung entgegenbringt. Leila kümmert sich um ihn und träumt währenddessen von dem Land, aus dem einst ihr Vater kam ("Arabien") und in dem sie selbst noch nie gewesen ist. Schließlich kommt Leilas Vater Sahid (Oliver Meskendahl) aus dem Knast. Er ist, wie's der Zufall will, auch der Vater von Sybilles Sohn. Leila hofft, dass Sahid nun mit ihr und dem Halbbrüderchen endlich dem Elend entflieht. Aber Sahid lässt sie wieder sitzen und Leila beschließt ernüchtert ins Unbekannte zu gehen. Sie verspricht aber immerhin Sybille, dass sie zu ihrem Halbbruder zurückkehren wird.
Pullen gibt dem Text viel Raum. Sie lässt Schilderungen, mit denen Mortazavi hübsch episierend den Dialog durchbricht, meist frontal ins Publikum sprechen – gerne auch mehrere Sprechpartien gleichzeitig, so dass den einzelnen Figuren nicht immer gefolgt werden kann. Dadurch aber unterstreicht Pullen, was Mortazavis Stück ebenfalls vermeiden will: Leilas Sehnsuchtsphantasien zu einem Rührstück über Migrantenkinder zu verkitschen. So kommen denn auch die wenigen Momente, in denen Casabianchi verzweifelt angesichts ihrer Heimatlosigkeit ins Publikum blickt, gut zur Wirkung, weil sie wohl dosiert sind.
Mit Augen wie Amy Winehouse
Unterstützt wird das Spiel von der nahezu requisitenfreien Bühne (Gregor Sturm), die nach hinten durch drei Holzwände begrenzt ist. Einzelne der drei können variabel den Bühnenraum verknappen oder auch mal als Tür genutzt werden, gegen die geklopft wird und die dann nach hinten geschoben werden kann und so einen neuen Raum eröffnet. Leila erinnerte mit ihren hochgesteckten Haaren und ihren durch Kajal vergrößerten Augen an Amy Winehouse, trüge sie unter dem beigen Trenchcoat nicht einen mit Ornamenten verzierten Kaftan, unter dem sehr sexy wiederum schwarze Stiefel, Strumpfhose und Höschen sowie ein BH zum Vorschein kommen, wenn George ihr den Kaftan vom Leib zieht. Kein Wunder, dass er, der sich erst noch zuhältermäßig herausputzt, dann aber nur noch ein Holzfällerhemd trägt, weil er eh nicht mehr aus seiner versifften Bude geht, jedes Mal über sie herfällt, wenn sie sich ihm anbietet.
Doch zu naturalistisch wird es nie. Und das überzeugt auch. Denn Leila würde sonst mit ihrer Sehnsucht nach Zuneigung, die George gar nicht erfüllen will, weswegen er sie immer wieder wegschickt, wenn er fertig ist, zum Objekt bloßen Mitleids verkommen. Zu einem Mitleid, das vielleicht anrührt, aber auch nicht mehr.
In diese Falle tappt Pullen also nicht. Aber was will sie mit dem Stück? Es gibt wunderbare Theatertexte, die die Frage, was Heimat ist, mit beeindruckenden Einblicken in emotionale Abgründe und Sehnsüchte thematisieren. Pullen weiß das. So hat sie beispielsweise "Dog eat Dog" von Nuran David Calis am Hamburger Thalia Theater selbst inszeniert. Calis' Stücke sind nach den Uraufführungen meist in der Versenkung verschwunden. An Aktualität haben sie jedoch nichts eingebüßt. Warum statt eines seiner Stücke nun Mortazavis zwar handwerklich anständiges, aber letztlich doch stereotypes Familiendrama ausgewählt wurde, erschließt sich am Ende nicht.
Ich wünsch mir eins (UA)
von Azar Mortazavi
Regie: Annette Pullen, Bühne und Kostüme: Gregor Sturm, Dramaturgie: Anja Sackarendt.
Mit: Andrea Casabianchi, Maria Goldmann, Thomas Kienast, Oliver Meskendahl.
Dauer: 80 Minuten, keine Pause.
theater-osnabrueck.de
Die Dramatikerin Azar Mortazavi wurde 1984 im rheinland-pfälzischen Wittlich als Kind einer Familie mit iranischen Wurzeln geboren. An der Universität Hildesheim studiert sie Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus.
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"Was Annette Pullen macht, hat Hand und Fuß, Hirn und Raum zum Träumen", formuliert es ein Autor mit dem Kürzel whs in den Osnabrücker Nachrichten (9.12.2012) etwas allgemeiner. Mortazavi entlasse in ihrem poetischen wie bizarren Drama die Figuren aus ihren Wunschwelten: "ein starkes Stück".
"Um das Stück als Metapher für unsere Wirklichkeit lesen zu können, wird diese ein wenig zu durchkonstruiert im Kreis und allerlei Wiederholungszwängen herumgeschickt", schreibt Christine Adam in der Neuen Osnabrücker Zeitung (10.12.2012). Pullen und ihre Schauspieler setzten dem kluge Mittel entgegen: "kraftvoll-vitale Szene neben poetisch-melancholische, schwebend leichte neben berührend hoffnungslose". Allerdings trösteten weder der intelligent gebaute Plot noch seine vitale Umsetzung über die plakative Aussage hinweg.
Die beklemmende, spartanisch karge Inszenierung Annette Pullens komme ohne Kulissen und Requisiten aus, schreibt Hanns Butterhof in den Westfälischen Nachrichten (11.12.2012). "Sinnvoll vermeidet sie, das Stück folkloristisch auf ein Migrationshintergrund-Drama einzuschränken." Pullen konzentriere sich auf Leila und George als ein Prisma, in dem sich das Bild einer Gesellschaft bricht, die ihre urmenschlichen Bedürfnisse an einen anarchischen Egoismus verraten habe.
"Das Beeindruckende an dieser Lebensstudie ist ihr lakonischer Ton, der ein eigentlich deprimierendes Schicksal schildert, ohne Betroffenheit zu erheischen", findet Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (13.12.2012). Diese "im Kern optimistische Migranten-Geschichte" habe "Pullen mit sparsamsten Mitteln auf ihre Hauptfigur konzentriert".
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