Mundtot am Boden

von Sarah Heppekausen

Köln, 7. März 2013. Stille. Das ist nicht unbedingt ein Anfang, der sich für ein sogenanntes "Stück für Musik" erwarten lässt. Für ein Stück, in dem der erste Satz "Otto, trag den Tisch hinaus" buchstäblich nach Bewegung ruft. Für das Stück eines Autors, der seinen Figuren kaum Innerlichkeit, sondern vor allem eine Stimme zur Verlautbarung zuschreibt.

Anna Viebrock aber lässt es bei der Uraufführung von Händl Klaus' "Gabe / Gift" erstaunlich ruhig angehen. Stumm betreten die Schauspieler die Bühne. Oder sie liegen längst wie (Mund)Tote am Boden. Die ersten Töne gehören hier den Dingen, einer von der Decke baumelnden Teddybär-Spieluhr, einer quietschenden Farbrolle. Bei der Regisseurin und Bühnenbildnerin spricht zunächst mal der Raum, und der ist wie gewohnt atmosphärisch aufgeladen.

Beschwingtes Grauen

Der österreichische Dramatiker Händl Klaus hat für das Kölner Schauspiel mit "Gabe / Gift" den dritten Teil seiner "Trilogie der Polizei" verfasst. Nach dem Singspiel Furcht und Zittern (2008) und dem Musikstück Meine Bienen. Eine Schneise (2012) ist dies wiederum ein musikalisches Stück, das menschliches Grauen verunsichernd beschwingt zur Sprache bringt. Besser gesagt, anklingen lässt. Denn der Autor deutet an statt aus, er setzt an, aber bricht wieder ab, bevor eine Aussage eindeutig wird.

GabeGift2 hoch WalterMair uAuf Blümchen mit Pistole: Josef Ostendorf.
© Walter Mair
In diesem Fall könnte es in der Familie Müllert zum Beispiel zum inzestuösen Missbrauch gekommen sein. Sicher ist: Sie wollen einen Erfrischungsraum bauen. Die Schwiegertochter ist Polizistin und gabelt derweil im Wald ein Pärchen auf. Ortsfremde in einer sparsamen Stadt, in der das Krematorium das Hallenbad beheizt. Als Gastgeschenk haben die zwei eine Schatzkarte im Gepäck. Also wird in Nachbars Garten gegraben, bis die Besitzer aufmerksam werden und ebenfalls Ansprüche stellen. Objekt der Begierde: eine Metallkiste, ihr Inhalt bleibt verborgen. Gemeinsam geht's zurück zu den Müllerts. Der Partykeller wird für die Grabungsgemeinschaft zum Gemeinschaftsgrab. Erschöpfung statt Erfrischung. Das könnte zumindest so sein.

Der Wortmusiker Händl Klaus formuliert keine Sprechakte, er komponiert Sprechtakte. Seine Figuren sind keine Handlungsträger, sondern Stichwortgeber. Manchmal sagt jeder nur ein Wort, manchmal auch nur ein Silbe in diesem verbalen Kampf um die Vorherrschaft einer Satzbedeutung. Wenn der eine einen Satz beginnt, den die nächste vervollständigt, dann ist der Sinn auch schon mal wieder ins Gegenteil verkehrt. Sprechen ist bei Klaus mehr Suche als Aussage. Eine heikle Angelegenheit, weil der Sprechende sich nie sicher sein kann, wo sein angefangener Satz enden wird.

Verstörung mit angezogener Handbremse

Bei Anna Viebrock ist diese brisante Brüchigkeit mehr sichtbar als hörbar. Sie hat den Erfrischungsraum als Daseins-Baustelle in die Kölner Halle Kalk gesetzt. Die Wände sind halb gestrichen, der Boden halb gefliest. Treppen und Fenster enden vor der Wand. Glasbausteine sind eingemauert und damit unnütz. Wie unfreiwillig Geworfene landen die Polizisten und Nachbarn, Söhne, Eltern und Freunde in diesem unwirtlichen Welt-Einraum. Josef Ostendorfs Vater legt sich mit seiner 70er-Jahre-Blümchendecke direkt mal kapitulierend auf den Boden. Erst wenn der Chefinspektor seine Pistole zückt, setzt sich sein massiger Körper wieder in Bewegung. Aber langsam. Alles wirkt an diesem mit knapp 75 Minuten doch eigentlich sehr kurzen Abend irgendwie entschleunigt. Nikolaus Benda streicht als Sohn Müllert die Wände im Slow-Modus, auch die Nachbarn frieren immer mal wieder in ihren Haltungen ein. In dieser Langsamkeit wird die Unsicherheit, die sprachlich und auch räumlich gegeben ist, nur selten spürbar. Ein Spiel mit angezogener Handbremse, das der Gefahr aus dem Weg geht.

GabeGift1 560 WalterMair uAuf der Daseins-Baustelle. © Walter Mair

Dabei stimmen eigentlich alle Komponenten. Händl Klaus schreibt einen verspielt-beklemmenden Text, der aufhorchen lässt. Ernst Surberg komponiert eine Musik, die wie die Sprache immer droht, einen Ton daneben zu liegen und dadurch die harmonische Richtung zu ändern. Sein nach Cembalo klingendes E-Piano und das Oboen-Spiel von Simon Strasser erzeugen mal Grusel-Krimi-Stimmung, mal vordergründige Heiterkeit, sie lassen die Farbrolle quietschen und die Heizung gluckern. Anna Viebrock entwirft eine Bühne mit Verstörungspotenzial. Und die Schauspieler halten die angemessene Distanz, die Klaus' Sprache braucht, wenn die Figuren nicht ins Harmlos-Amüsante abrutschen sollen. Vor allem die Nachbarn werden trotz Sprechteilung zu einem wunderbaren Sprachkörper. Das alles aber harmoniert einfach zu gut miteinander, um tatsächlich zu bestürzen.

 

Gabe / Gift (UA)
Stück für Musik
von Händl Klaus
Regie, Bühne und Kostüme: Anna Viebrock, Musik: Ernst Surberg, Video: Till Exit, Jan Zaumseil, Dramaturgie: Marion Hirte, Rita Thiele.
Mit: Marion Breckwoldt, Josef Ostendorf, Nikolaus Benda, Julia Wieninger, Jennifer Frank, Renato Schuch, Marie Rosa Tietjen, Holger Bülow, Sachiko Hara, Torsten Peter Schnick; Musiker: Simon Strasser, Ernst Surberg.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten
www.schauspielkoeln.de

 

Der Autor Händl Klaus wurde 2011 mit dem Kölner KunstSalon-Autorenpreis ausgezeichnet, mit dem eine Uraufführung am Schauspiel Köln verbunden ist. In diesem Rahmen ist nun die Inszenierung von "Gabe / Gift" entstanden.

 

Kritikenrundschau

In Fazit auf Deutschlandradio besprach Michael Laages (7.3.2013) die Inszenierung:
Es handele sich hier, trotzdem es sich um den dritten Teil der Polizei-Trilogie handele, nicht um eine "Psychopathologie des Polizist-Seins". Viebrock sei in ihrem Widerspruchsgeist gegen die Struktur des Textes eine kongeniale Komplizin des Autors. Jeder einzelne Satz sei auf verschiedene Sprecher verteilt. Niemand wisse, wer gerade was zu tun ankündige. Der Text suggeriere damit ein "rasendes Tempo". Viebrock nun verlangsame diesen Text wieder, das sei die "eigentliche Herausforderung" des Abends. Statt Figuren gebe es "Klappmaulpuppen", aus deren Mündern Worte fallen. Die "Effekte" blieben in Erinnerung, die "Bildwirkung", das "Nebeneinander von Sprache und Wort", ein großer Theaterabend sei es nicht.

Christian Bos schreibt in der Frankfurter Rundschau (9.3.2013): Das "Stück für Musik" sei zwar wirklich eher ein Singspiel, eine Handlung gebe es dennoch. Sie setze sich aus den "Grundbausteinen des abendländischen Theaters" zusammen: eine "ödipale Kernfamilie", eine "energische Schwiegertochter", "unheimliche Gäste und feindlich gesinnte Nachbarn". Ein "tödlicher Konflikt" bleibe aber aus. Nur 75 Minuten benötigten Händl Klaus und Anna Viebrock, um "2.500 Jahre Sprechtheater im Keller zu begraben". Das fordere nicht gerade zu "enthusiastischen Reaktionen" heraus, ebenso wenig "das - bewusst - lethargische Spiel des Ensembles", aus dem Julia Wieninger herausrage. Die Bühne sei wie so oft bei Anna der "stärkste, komplexeste Charakter des Abends".

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.3.2013) schreibt Andreas Rossmann: Die Inszenierung erkläre das "Stück mit Musik" zum "Danaergeschenk". Ominös sei die Handlung, eine "Sammlung von Andeutungen". Besonders aber wie die Sprache "seziert und zerlegt" werde. Die Figuren teilten sich Sätze, gegen Ende sogar einzelne Worte. Was sich avanciert geriere, bleibe jedoch, "bemühte, harmlose Sprachspielerei", darstellerisch gebe das "nicht viel her". Der Raum sei "wunderbar atmosphärisch," das Stück viel zu "leichtgewichtig".

Auf NZZ Online, dem Internetportal der Neuen Zürcher Zeitung (9.3.2013, 6:00 Uhr) schreibt Hans-Christoph Zimmermann: "Gabe/Gift" gruppiere die Begegnung von drei Familien um einen alles andere als unschuldigen "Erfrischungsraum". Er werde zum "Ausgangs- und Endpunkt einer Geschichte voller Fallstricke und Abgründe". Anna Viebrock verdichte die "inzestuös und ödipal aufgeladenen Figurenkonstellationen" in "symbolisch aufgeladenen Arrangements", die an Filmstills denken ließen, allerdings auch "etwas Schwerfälliges" hätten. "Komik wie latente Verunsicherung des Stücks" entstünden aus dem Mäanden der Dialogsätze durch die Figuren. Es entstünde "ein flirrendes Bedeutungsgewebe – das Anna Viebrock allerdings weitgehend ignoriert". Am Ende beginne der Raum zu strahlen und sauge den Figuren "vampirisch Leben und Sprache" aus. Im Stück – nicht bei Anna Viebrock. So harre das Stück weiter seiner Uraufführung.

Händl Klaus schreibe keine "psychologischen Realodramen", sondern "feine Sprachkunst-Stücke, die zwar oft auf einer Kriminalhandlung fußen, aber doch in himmelweit von einem Krimi entfernten Sphären spielen", schreibt Alexander Haas in der TAZ (11.3.2013). Seine "minimalistische Poetik macht die Aufführung zunächst zu einem hermetisch wirkenden Wortkonzert". Das "Partiturhafte des Abends" werde auch durch die Livemusik unterstützt. Viebrock habe ihren Bühnenraum "mit lauter kleinen Zeichen des Unheimlichen" ausgestaltet. Im Ganzen sei diese kein "gefälliger, am Ende sehr überzeugender Abend".

Das "träge kleine Stück - und noch öder: Viebrocks Inszenierung -" finden vor Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (19.3.2013) keine Gnade: "Jene milde Müdigkeit, der man vorher bereits als Zuschauer erlegen ist, befällt am Ende auch die Figuren, die vom Raum geschluckt werden und nur noch aus dessen Ritzen klingen: 'Lu, le, li ...'"  Das alles sei mehr geheimnistuerisch als geheimnisvoll, "auch wenn Simon Strasser und Ernst Surberg das Wortgeklingel mit Oboe und E-Piano musikalisch durchaus spannend begleiten."

Kommentare  
Gabe / Gift, Köln: trefflich beschrieben
Mit viel Empathie für alle Beteiligten außer für die Besucher und doch trefflich hat Sarah Heppekausen den Abend beschrieben. Denn der wurde nach dem ersten Drittel, als die gespannte Erwartung abgeflaut war, langweilig. Das lag an der mangelnden Möglichkeit für die Schauspieler eine Einstellung mit einem Text zu finden, den sie sich fortwährend aufteilen, wo alle sich wechselweise, abgehackt, wörtlich "das Wort aus dem Munde nehmen". Nun droht Händl Klaus, wie er in einem Interview im Programmheft verrät, seine Methode noch zu steigern, und die Sprache in einem Mahlwerk in ihre Morpheme zu zerlegen. Doch eine derartige Textvorlage erfordert wohl einen anderen Inszenierungsstil als diesen der Anna Viebrock, es sei denn man macht aus dem Ganzen eine musikalische Aufführung mit Lauten und verzichtet auf Gesten und Posen. Schon bei der Premiere drängte sich zuweilen der Eindruck auf, man wohnte einem Konzert bei, vor allem als am Ende der Text noch aus dem Off vorgetragen wurde.
Paul Tostorf
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