Lebenmüssen ist eine einzige Blamage - Johann Kresniks Ingolstädter Bildergewitter zu Christoph Klimkes Stück über Marieluise Fleißer
An der Literatur- und Männerfront
von Isabella Kreim
Ingolstadt, 5. Oktober 2013. Mit Metzgermesser, Klytämnestra-Axt und Lebensgier lässt Johann Kresnik Marieluise Fleißer an der literarischen Männerfront kämpfen. Zum bayerischen Defiliermarsch schlagen die Fleißer und ihr tänzerisches Alter ego alptraumhaft aus dem Boden gewachsene Bertolt-Brecht-Büsten mit einem Beil kaputt. Pflastersteine knallen lautstark auf die Plattform, unter die sich die dem Tode nahe Fleißer geflüchtet hat. Als humpelnder Greis tritt Roelle aus ihrem Stück "Fegefeuer in Ingolstadt" auf, als leibhaftiges Vorbild der märtyrersüchtigen Außenseiterfigur. Ein berührendes Bild, das eine Lebensliebe andeutet? Nicht bei Kresnik. Der alte Mann kastriert sich und wirft der Fleißer seinen blutigen Penis vor die Füße. "Alles nur Theater", sagt er dann.
Alle gegen eine: Bettina Storm als Fleißerin im Glaskasten. © Jochen Klenk
Kresnik, legendär für sein provokatives und politisches choreographisches Theater, hat sich mit seinem Leib-Autor Christoph Klimke der Ingolstädter Schriftstellerin Marieluise Fleißer angenommen. "Lebenmüssen ist eine einzige Blamage" heißt das Ergebnis, ein Fleißerzitat aus ihrem Aufsatz über Buster Keaton. In starken, auch plakativen Bildern wird die nach Anfangserfolgen in Berlin und Dresden aus finanzieller Not in das biedere, heimische Umfeld Zurückgekehrte zur Prototypin einer emanzipatorischen Kämpferin auch der sexuellen Freizügigkeit getrimmt. Sie behauptet das Schreiben als Waffe. Zu sehen aber ist am Stadttheater Ingolstadt, wie immer bei Kresnik, die Sexualisierung aller Beziehungen. "Grob ist die Liebe", malt die Fleißer in roten Buchstaben auf den Glaskasten, in dem sie sitzt. Und das ist weniger eine Fleißer- als eine Kresnik-Phantasie.
Fulminantes Trommelfeuer an monströsen Bildern
Der Bühnenraum von Marion Eiselé ist zugepflastert mit Bert-Brecht-Portraits. Nach und nach reißt die Fleißer die Brecht-Bilder ab, dahinter kommen Fleißer-Portraits zum Vorschein. Das ist die Kurz-und-Platt-Fassung dessen, was Kresnik und Klimke erzählen. Allerdings in einem rasanten, fulminanten Trommelfeuer an eindrucksvollen, monströsen Bildern voller Lebens- und Sexgier.
Klimke erzählt in Rückblenden: Nach einem Herzinfarkt liegt Fleißer im Krankenhaus; dort zieht, drängt und verführt sie ihr Dämon, eine Tänzerin mit schwarz, später rot angestrichenem nackten Oberkörper (grandios ausdrucksstark: Anna Hein) in die Erinnerung an Stationen ihres Lebens, zu "Fegefeuer"-Erfolg und "Pioniere"-Skandal, zu alptraumhaften Sequenzen mit ihren konträren und rivalisierenden Liebhabern. Der reaktionäre und ausbeuterische Autor Draws-Tychsen schwebt als durchgeknallter schwarzer Fallschirmspringer vom Bühnenhimmel ein, während der biedere Ingolstädter Sportschwimmer und Tabakhändler Bepp Haindl sie im Ringelturnhemd zum Sporteln zurück in die Heimat verführen will.
Gottfried Benn mit dem Hakenkreuz unterm Kittel
Mit Schulfunk-Überleitungen bringt Klimke Lebensdaten und Stückzitate unter im Stile von: "Wir schreiben das Jahr 1926. Heute hat mein Stück 'Fegefeuer' in Berlin Premiere. Lass es uns mal proben. Ich spiele den Roelle." Außerdem hat Klimke einen Arztbesuch des geschlechtskranken Draws bei Gottfried Benn erfunden, der unter dem Arztkittel die Hakenkreuzbinde trägt und der Fleißer rät, sich jetzt durchzumogeln und nach dem Krieg zu behaupten, Schreibverbot gehabt zu haben.
Ansonsten inhaltlich wenig Neues, zumindest für Ingolstädter Theatergeher. Gut also, dass Kresnik immer wieder starke Bilder findet: Einmal hockt die Fleißer als kurioses Ausstellungsstück der Spezies Jungdramatikerin in einer Glasvitrine und muss hilflos eingesperrt die vor allem feixenden, zuweilen auch lobhudelnden Kritikerstimmen über sich ergehen lassen. Sie begehrt auf, indem sie mit ihrem Messer durchringend am Eisenbett schabt. Das Fleischermesser, mit dem sie sich wider die Klosterschul-Regeln ein großes R für Roelle in den Oberschenkel geritzt hat, ist zu ihrem Lebensrequisit geworden.
Demütigungen, Niederlagen, Verletzungen
Lichtblicke im düster-frivolen Lebenskampf sind drei Fleißerinnen, darunter ein Mann (Rolf Germeroth) in ihrem typischen großkarierten Seidenkleid. Oder Bert Brechts Harem, ein Gänsemarsch von Frauen auf Manuskript-Kothurnen mit umgehängten Schreibmaschinen, die dem schwäbelnden BB (Olaf Danner) auf Befehl seine Macho-Texte soufflieren. Komödiantisch überdreht auch Enrico Spohn als Draws-Tychsen und Ulrich Kielhorn als sich in allen Mode-Sportarten austobender Arzt; schön schrill Ingrid Cannonier als Puffmutter und Nonne, kraftvoll Matthias Zajgier als Korl.
Gier oder Begierde? Die Fleißerin und BB
© Jochen KlenkBettina Storms Fleißer lässt mit intensiver Vitalität zumindest ahnen, welche Demütigungen, Niederlagen und Verletzungen hinter dem Aufbegehren gegen die Chancenlosigkeit einer alleinstehenden Dramatikerin ihrer Generation liegen. Wunderbar düster und schräg untermalt die Live-Musik auf Geige und Percussionsinstrumenten (darunter bezeichnenderweise auch ein Nagelbrett) von Deborah Wargon und Patrick Schimanski den Horrortrip dieses Abends.
Publicityträchtig "verschärft"
Johann Kresnik und Christoph Klimke haben sich bildmächtig ins Zeug gelegt, um aus Marieluise Fleißer ja kein Opfer, keine ohnmächtig im Lebensglück Gescheiterte, sondern eine starke und lebenshungrige Kämpferin an der Literatur- und Männerfront zu machen. Sie haben Fleißers Biografie damit ähnlich missbraucht wie einst Brecht, als er ihre Pioniergeschichten publicityträchtig "verschärft" hat.
Das Spezifische der Fleißerschen Literatur liegt doch darin, wie genau sie Kleinbürgerängste und Anpassungsdruck beschreiben konnte – und zwar keineswegs nur aus überheblicher Distanz. Wie viel interessanter als die knallig sexualisierte Emanzen-Story hätte es sein können, zu fragen, was diese Frau wirklich zu ihrem ganz besonderen Schreiben angetrieben hat und warum es ihr eben nicht gelungen ist, mit scharfen Waffen und dämonischen Kräften für ein anderes Leben zu kämpfen! Dafür aber konnte sie mit einer analytischen Subtilität über Männer- und Frauenbeziehungen schreiben, für die Kresniks Theater keinen Platz hat.
Lebenmüssen ist eine einzige Blamage (UA)
Ein Stück über Marieluise Fleißer von Christoph Klimke
Regie: Johann Kresnik, Bühne: Marion Eiselé, Kostüme: Erika Landertinger, Musik: Deborah Wargon, Choreografie: Johann Kresnik / Anna Hein, Dramaturgie: Christoph Klimke / Donald Berkenhoff.
Mit: Ingrid Cannonier, Anna Hein, Ines Hollinger, Bettina Storm, Deborah Wargon, Olaf Danner, Rolf Germeroth, Ulrich Kielhorn, Patrick Schimanski, Enrico Spohn, Matthias Zajgier.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.theater.ingolstadt.de
"Es ist ein kühner, wilder, großspuriger, bildgewaltiger Abend," schreibt Anja Witzke im Donaukurier (7.10.2013) "auf dem Fleißer draufsteht, aber vor allem Kresnik drinsteckt." Der nämlich habe, aufbauend auf den Text von Klimke, Bilder von großer Dramatik geschaffen – "bisweilen effekthascherisch als bombastische Männerfantasie, bisweilen in absurder Komik, bisweilen bemüht provokativ, aber in der Gesamtheit doch spannungsgeladen. Kresnik lässt vor allem Körper sprechen, seine Inszenierung folgt choreografischen Gesetzen, seine Schauspieler agieren als Ballettensemble." Besonders Bettina Storm als Marieluise Fleißer sei wirklich eine Entdeckung.
Michael Schmatloch schreibt auf dem Internet-Portal Ingolstadt-today.de: Das Stück erzähle "im Grunde wenig Neues", nur Kresniks "fulminante und temporeiche Regie" ziehe einen "unwillkürlich in ihren Bann ob ihres atemlosen Tempos, ob der harten, bildgewaltigen Sprache seiner brutalisierten Erotik". Und der "immer wieder starken Ideen". Kresnik entwickele weniger "den Kampf einer Schriftstellerin um ihre Texte, sondern den um sexuelle Freizügigkeit". Die Protagonistin erscheine, typisch für Kresnik, halbnackt: "die Provinzblume Fleißer mit klösterlichem Erotik-Trauma als Kämpferin für sexuelle Selbstverwirklichung".
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Petra Kleine
"Brecht war 1927 und die folgenden Jahre nach außen hin ein Dichterstar, der sein Geld vom Ullstein-Verlag bezog und sehr entschlossen war, ihn auszubeuten. Aus diesem Grunde gesellte er sich gerne den Reichen. Besonders nach dem Erfolg der Dreigroschenoper (sic!, I.) mimte er den Dichterstar, der sich gut bezahlen ließ. Als er sich mit den Lehren von Marx beschäftigte, wurde seine dichterische Schaffenskraft auf Jahre hinaus gebrochen. (...)
Der eigentlich politische von beiden Freunden, schon in München, war damals Lion Feuchtwanger, der mir bereits Ende 24 oder 25 aus einem Roman vorlas: 'München die dümmste Stadt der Welt'. Dieser Arbeitstitel wurde später geändert in 'Erfolg' und bewog ihn später, München zu verlassen noch vor der Veröffentlichung. (...) Ich kann nicht beurteilen, wie weit das Bild, das er darin von Brecht (dem Ingenieur Pröckl) zeichnete, auf Brecht einwirkte und ihn klärte. Wahrscheinlich war es damals noch übertrieben, so klar war sich Brecht 1924, 1925 noch gar nicht. Man sieht ihn heute von seinem späteren Weg her, aber er begann als zielloser Anarchist. Man darf nicht vergessen, dass die später bekannt gewordene Form seiner Stücke eine sehr viel später vorgenommene Bearbeitung, diesmal unter einem entschiedeneren Vorzeichen darstellt.
Was mich betrifft: die Zielrichtung auf das Gesellschaftliche hin war instinktiv, sie wurde nicht bewußt angestrebt. Ich habe lediglich beobachtet, erlebt, Druck gespürt, mich innerlich zu befreien versucht von diese Druck."
(Auszug aus einem Brief an Wend Kässens vom 27.11.73)
(Entschuldigung Inga,
Ihr Kommentar war aus Versehen zwischen die Sofakissen gerutscht.
nikolaus merck für die redaktion)
(Besten Dank für den Hinweis und Verzeihung für das Versäumnis. Wir haben Patrick Schimanskis Namen umgehend nachgetragen.
MfG, die Redaktion)
Verständnislos, enttäuscht und ärgerlich,
"Bevor der Kerl heimkommt, hat er sich eine Kavalierskrankheit geholt, und nach ein paar Tagen gibt er es zu, weil er es nicht verheimlichen kann. Er weigert sich aber, dass er zu einem Arzt geht ... Er ziert sich hin, ziert sich her, spreizt dagegen sich ein, der Kerl macht mich ganz kalt, ich spüre, ich bin aus einem anderen Holz. "Nein", sag ich, "Bürscherl, hast du zuvor dich getraut, dir sowas geholt, dann trau dich gefälligst jetzt auch. Lass dich hübsch behandeln ... " Der Bursche sieht, dass ihm nichts hilft, und wird ganz feierlich, er beteuert, nur ein genialer Arzt fasst ihn an, und wenn, dann muss es der Benn sein persönlich, ein Geringerer nicht ...
Ich bin mitgekommen, was sonst, damit sich der Heini nicht nach Pfingsten noch ziert. Wir gehen beim privaten Eingang hinein als Kollegen ... Der Benn schnappt aber ein, als ihm der Bursche sein Anliegen erklärt. "Das ist gegen die Verabredung", sagt er, Kollegen behandelt er nicht. ... Ich muss dem Benn ziemlich zureden, dass er unseren Dichter behandelt. War ich nicht dabei, er hätte ihn einfach weggeschickt. Kriegte ihn aber herum.
Die Berliner Luft macht das Ausgefallene möglich."
Ich finde es schön, dass Knut Weber das Theater Ingolstadt zu einem echten Stadttheater gemacht hat und in diesem Sinne auch die Fleißerin miteinbezieht, da sie doch ein nicht ganz unwichtiger Teil Ingolstadts ist.
Ich gehe selten aus dem großen Haus und habe so viel Anregung zum Nachdenken und so viel Lust weiter in die Materie einzusteigen, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Auch bei "Das Ende des Regens" dem wirklich wahnsinnig guten Stück der letzten Spielzeit ging es mir nicht so.
Mit dieser Uraufführung ist dem Theater Ingolstadt etwas wunderbares gelungen und der buh-Ruf bei der heutigen Vorstellung ist meiner Meinung nach nur möglich wenn man das Stück nicht versteht. An dieser Stelle ein großer Dank an Herrn Berkenhoff für die gute Einführung und an Frau Isabella Kreim , Autorin der obigen Kritik, für die Moderation des sehr lehr- und geistreichen Publikumsgespräch!
Das Stadttheater hat sich in den letzten Jahren zu einer wirklich hervorragenden Bühne entwickelt. Ein großes Lob!
Aber zuerst die lobende Seite. Ein hervorragende schauspielerische Leistung der Bettina Storm als Fleißer. Ein treffliche musikalische Untermalung und ein sehr gute Bühnenbild (besonders die Idee mit den Gipsköpfen, ... Köpfen von Brecht aus Gips).
Leider aber überwogen bei Weitem die Schattenseiten. Die Darstellung der Zeit von Fleißer mit Draws-Tychsen - das hatte das Niveau von RTL2. Die allseits erwähnten "starken Bilder" überdeckten weitgehend die Schwächen in den Texten und Dialogen. Ein Messergeschabe als Reaktion einer Frau, für die "Worte wie Waffen waren"? Wieso dann nicht mehr scharfe Worte? Die lebenslange Auseinandersetzungmit Berthold Brecht (die ja im wesentlich die künstlerischen Schöpfungen der Fleißer prägten), kam schlichtweg zu kurz, bis auf ein paar Zwischenspiele mit komödienhaften Zügen. Die Zerissenheit der Gefühlswelt der Fleißer zwischen Berlin und Ingolstadt - nicht vorhanden. Am schlimmsten aber war die Inszenierung des Stücks als Selbstdarstellung des Regisseur, der sich damit in der Vordergrund stellt. Hier hätte sich wohl eine fiktive Geschichte mit erfundenen Personen besser dafür geeignet. Das hat die Fleißer nicht verdient. Sowenig Anerkennung wie sie zu ihrer Zeit aus Ingolstadt erhalten hat, so wenig Anerkennung kommt ihr aus meiner Sicht mit dieser Aufführung in Ingolstadt zu.