Onkel Wanja - Robert Borgmanns Stuttgarter Tschechow-Vivisektion
Landleben in Slow-Motion
von Wolfgang Behrens
Stuttgart, 27. Oktober 2013. "Die deutschen Bühnen sollten" – so schrieb es ihnen einst Karl Kraus nicht ohne spottenden Unterton ins Album – "bei den Naturalisten bleiben. Mit dem in Deutschland naturalisierten Shakespeare ist's nichts." So lange dieser Rat auch her sein mag, die deutschen Bühnen scheinen ihn beherzigt zu haben. Studiert man etwa die Einladungslisten der vergangenen Jahrzehnte zum Berliner Theatertreffen, so wird man dort eine deutliche Schlagseite hin zu Autoren wie Ibsen und Tschechow finden. Und auch wenn es unter einer neuen Intendanz gilt, neues Repertoire aus dem Boden zu stampfen, dürfen Ibsen oder Tschechow nicht fehlen. Im dreitägigen Eröffnungsreigen des frischgebackenen Stuttgarter Schauspielintendanten Armin Petras ist es jetzt Tschechows "Onkel Wanja", dem diese Stelle zukommt.
Mindestens genauso bemerkenswert wie die anhaltende Beliebtheit eines Tschechow, in dessen Figuren sich die bürgerliche Gesellschaft nun schon seit über einem Jahrhundert immer wieder neu wiederzuerkennen glaubt – man könnte darüber ja auch erschrecken! –, ist es, wie verhältnismäßig selten seine Stücke "denaturalisiert" werden (um das Kraus'sche Diktum zu variieren). Wird Tschechow gespielt, dann wird häufig genug der psychologisch-realistische Feinstpinsel aus dem Malkasten geholt. Das allerdings stand in Stuttgart nicht zu erwarten. Der Regisseur Robert Borgmann, den Petras schon am Maxim Gorki Theater in Berlin beschäftigte, gilt eher als einer, der seine Textvorlagen mit verblüffenden Bildern und Fremdtexten beschießt. Und sein Anfang dieses Jahres in Szene gesetzter Macbeth dürfte von Karl Kraus' Vorwurf einer Naturalisierung Shakespeares wohl gänzlich freizusprechen sein.
Ohne Samoware und Seufzer
"Samoware und Seufzer, das kann ich nicht leiden", sagt nun Thomas Lawinkys Arzt Astrow in Borgmanns "Wanja"-Inszenierung, und das lässt sich getrost auf die ganze Aufführung übertragen. Zitathaft steht zwar ein Teeservice zwischen den abblätternden Holz-Gartenstühlen auf der gänzlich unverkleideten Bühne, und auch ein Matroschka-Püppchen kommt zwischendurch zum Einsatz – mehr Samowar aber ist nicht. Stattdessen kreiselt langsam ein alter Volvo Kombi über die Bühnenfläche, Neonröhren und gleißendes Gegenlicht stellen das Geschehen kalt, und repetitive E-Gitarren-Synthi-Soundscapes hüllen alles in eine moros-verhangene Atmosphäre.
Geseufzt wird auch nicht. Und doch steht auch Borgmann in diesem "Wanja" durchaus auf dem Boden des psychologischen Realismus: Den Dialogen in der (für Jürgen Goschs epochalen Wanja von 2008 entstandenen und ohnehin schon wenig elegischen) Übersetzung von Angela Schanelec mag von den Darstellern noch der letzte Rest des Elegischen ausgetrieben werden, doch sie klingen im lauernd-schmuddeligen Spiel eines Peter Kurth als Wanja, in der aufgekratzten Coolness einer Sandra Gerling als junge Professoren-Gattin Elena oder in der autoaggressiven Härte eines Thomas Lawinky als Astrow enorm heutig und sehr real. Freilich ist Borgmanns Realismus einer im Zerfallsstadium: Der Stillstand dieser Tschechow'schen Gesellschaft, die sich da auf einem Landgut um einen mediokren Professor schart (den Elmar Roloff mit zerquälter Kraft vor dem Klischee der Witzfigur bewahrt), wird in mitunter nervtötender Langsamkeit zelebriert. Unterm Neonlicht liegt das Drama wie zur Vivisektion, menschliche Wärme sucht man hier vergeblich, der Zusammenhang zerbröckelt.
In Buh-Salven
Und Borgmanns Realismus hat Beulen. Bildstarke, ungebärdige Auswüchse treiben plötzlich aus der grundsätzlichen Unterspanntheit der Aufführung hervor: Wenn sich die Ewig-zu-kurz-Gekommenen Wanja und Astrow beim Saufen abschießen, dann ziehen sie in Zeitlupe eine abstruse Action-Sequenz mit Windschutzscheiben-Bruch rund um den Volvo ab. Oder Wanja fällt aus dem Bühnenhimmel, wieder in Slow-Motion, auf das Autodach herab, nur um damit erneut einen der Leitsätze des Abends zu provozieren: "Es ist nichts passiert."
Und am Ende steht Sonja, die immer Übersehene, die große Liebende dieses Stücks – Katharina Knap spielt sie unter der hippen und offenherzigen Teenager-Fassade mit einer wunderbar verhaltenen, manchmal explosiv hervorbrechenden Nervosität –, am Ende steht diese Sonja vor einer gigantischen rotierenden Sonne aus Neonröhren. Ein jenseitiges Licht der Hoffnung? Oder doch nur das kalt leuchtende, ewig kreisende Rad der ungerührten Fortuna?
In ihrer aufgerauten Eiseskälte buhlt diese Inszenierung nicht gerade um die Liebe der Zuschauer. Eindruck aber hinterlässt sie schon. Einem Teil des Premierenpublikums allerdings ging die Denaturalisierung offenbar zu weit, und es empfing das Regieteam mit heftiger Ablehnung. Ein (von der Aufführung sehr angetanes) Ehepaar, das für sich in Anspruch nahm, seit 30 Jahren ins Stuttgarter Schauspiel zu gehen, versicherte dem Berichterstatter auf dem Heimweg, solche Buh-Salven habe es hier noch nicht erlebt. Sollte das stimmen, wäre das zumindest eine Leistung, mit der Robert Borgmann ordentlich renommieren kann.
Onkel Wanja
Szenen aus dem Landleben in vier Akten
von Anton Tschechow
Regie und Bühne: Robert Borgmann, Kostüme: Janina Brinkmann, Musik: webermichelson, Licht: Sebastian Isbert, Dramaturgie: Jan Hein.
Mit: Elmar Roloff, Sandra Gerling, Katharina Knap, Susanne Böwe, Peter Kurth, Thomas Lawinky, Michael Stiller, Susanne Böwe, Gina Bartel/Nora Liebhäuser.
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Mehr über die Regiearbeiten von Robert Borgmann erfahren Sie im nachtkritik.de-Lexikon.
Mehr zum Intendanz-Auftaktmarathon von Armin Petras in Stuttgart? Simon Solberg inszenierte den Urgötz auf der großen Bühne, während zeitgleich Martin Laberenz in der kleinen Spielstätte "Nord" auf Die Reise von Bernward Vesper ging. Am zweiten Abend liefen Petras' eigene Schreib- und Regietat 5 morgen auf der kleinen Bühne und Ingmar Bergmanns Szenen einer Ehe, von Jan Bosse inszeniert, auf der großen.
Dieser "Onkel Wanja" in der "ausgedehnten Zermürbungsregie" von Robert Borgmann "zieht sich", ächzt Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (29.10.2013) in ihrem großen Bericht vom Stuttgarter Intendanz-Neustart. Zwar würdigt sie das "ehrenwerte Anliegen, dem Stück jegliche Samowar- und Tschechowseligkeit auszutreiben". Aber: "Durch das nervensägende Ausstellen der inneren Leere dieser Tschechow-Menschen, ausgebreitet auf einem grässlich konstanten Einlull-Soundteppich, entsteht – auch im Zuschauer – eine Art Quälenergie, die sich anstaut und nach der Pause in einigen Aggressionshöhepunkten gewittrig entlädt."
Ein "kleines bisschen Kampfzustand" im Parkett erlebte Andreas Jüttner von den Badischen Neuesten Nachrichten (29.10.2013) am Ende dieser Inszenierung, die auf solche Ausbruchsfantasien geradezu abzielt, wie der Kritiker nahelegt. Die unerbittliche Musik evoziere "die Schwere der Apathie auf dem vom Titelhelden verwalteten Landgut", und die "hoch präsenten Darsteller" vermittelten "durch ihr Spiel zwischen minutenlangem Verharren und eruptivem Losdonnern den immensen inneren Druck, der auf den Figuren liegt, an den Zuschauer. So verspürt der, genau wie die Figuren, immer mehr den Wunsch, irgendetwas zu tun – und weiß, wie die Figuren, dass es nichts zu tun gibt."
Dass Robert Borgmann "die bei Tschechow sowieso gedehnte Zeit nochmal zusätzlich dehnt", nimmt Otto Paul Burkhardt im Tübinger Schwäbischen Tagblatt (29.10.2013) ihm übel. Denn so "schlägt dieses Anderen-beim-Langweilen-Zusehen (das höchst interessant und unterhaltend sein kann) auch beim Publikum in bleierne Langeweile um." Zudem fehle das "Tschechowsche Lächeln, die Leichtigkeit, die Schwebe, die Tragikomik. Bei Borgmann werde das Scheitern der Figuren zu "dumpfer Depression".
Als "zähe Angelegenheit" empfindet Monika Köhler im Überblicksartikel zum Stuttgarter Intendanz-Neustart für den Südkurier (29.10.2013) diesen Wochenendabschluss. "Die feine Psychologie, die ansatzweise knisternden Dialoge über das Leben, gegenseitiges Begehren, die zerstörte Umwelt bleiben hier jedenfalls an der Oberfläche und werden mit überflüssigen Blödeleien dekoriert statt mit intelligenter Komik. Kein Tiefgang ist den Darstellern erlaubt, die das sicher besser könnten."
Man mag gegen Einzelheiten von Robert Borgmanns Auffassung, zum Beispiel gegen die ausgewalzte Pfeifartistik Einwände erheben, aber zumindest bis zur Pause stellt sie doch einen interessanten Versuch dar, das – auch in Stuttgart – viel gespielte Stück neu zu betrachten, ohne an seiner Essenz Verrat zu begehen", schreibt Thomas Rothschild in der Stuttgarter Zeitung (29.10.2013).
"Aua!" betiteln die Stuttgarter Nachrichten (29.10.2013) den Bericht von Nicole Golombek, anscheinend in Anspielung auf die Schlusstumulte und die ausgestellte Langeweile des Abends. Dabei hat die Kritikern "dreieinhalb dann doch recht meditativen Stunden" und einigen kostbaren Schauspielmomenten beigewohnt. Borgmann finde "offenbar, es gehört sich nicht, über Leute wie Wanja zu lachen". Manchmal lasse er die "Schauspieler in die Luft und auf den Boden starren, das ist dann etwas einfallslos. Manchmal rettet er sich in Gebrüll oder viel zu oft gesehenen Aktionismus."
Zum Gastspiel der Inszenierung beim Berliner Theaterreffen 2014 schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (6.5.2014) ...
... und Stefan Kirscher in der Berliner Morgenpost (7.5.2014).
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was sind denn musts eines Theaterabends? Das würde mich interessieren.
liebe grüße, Jona Goldschmidt
Aber nun bekommt man mal eine Inszenierung präsentiert, bei der man einmal die Zeit bekommt so wunderbar in eine Stimmung einzutauchen und sich wie ein Boot auf dem Meer von großartigen Schauspielern mit den Wellen der Geschichte treiben zu lassen. Ich gebe zu, darauf muss man sich einlassen können. Ein Hang zur Langweile ist gegeben aber der ist gewollt. Wenn man sich darauf einlässt, dann verfehlt diese Inszenierung ihre großartige Wirkung nicht.
Zuschauern, die sich diese Inszenierung in den nächsten Tagen und Wochen anschauen, kann ich nur empfehlen, sich doch bitte der Stimmung und der Entschleunigung hinzugeben und diese einmal aushalten. Man kann dann so viel entdecken - wieviel sich nämlich wirklich auf der Bühne abspielt. Und sein wir mal ehrlich...diese Entschleunigung und Lethargie ist doch genau das was Tschechow in seinen Stücken als Teil der russischen Seele beschreiben will. Und das es dem Team gelungen ist, das Gefühl der Figuren der Unerträglichkeit der eigenen Situationen, auf das Publikum direkt zu übertragen, ist bemerkenswert und erinnert mich an sehr an die ebenfalls grandios entschleuinigte Gosch Inszenierung am DT Berlin, die nach fast 6 Jahren im noch im Repertoire läuft.
Robert Borgmann und sein Team haben für mich einen ergreifenden, entschleunigten, geistreichen Abend, mit tollen Bildern, toller Musik, einem tollen Spielensemble geschaffen.
Und auch ich möchte es nicht versäumen noch einmal auf die mindestens genauso starken Bravos und wohlwollenden energischen Pfeifkonzerte hinzuweisen, die es beim Applaus hab.
@9 Na ja, ob sich die Fluchtlinien zur Gegenwart bei allen bedeutsamen Inszenierungen sofort offenbaren, wage ich ein wenig anzuzweifeln. Zumindest wenn es um ganz konkrete Fluchtlinien geht - bei meinem Hausgott Schleef war das auch nicht immer eindeutig, und doch wusste man in jedem Augebblick, dass die Aufführungen etwas und sogar viel bedeuteten. Eine Andeutung bezüglich der "Musts" im "Wanja" mache ich in der Kritik gleichwohl: Der Stillstand einer Gesellschaft und die Aggressionen, die dieser unter sich begräbt, werden durch die ästhetischen Entscheidungen Borgmanns recht plastisch vorgeführt, wie ich finde.
@13 Danke für die Erläuterung zu den früheren Buh-Konzerten. Ich könnte mir vorstellen, dass das nette Ehepaar meines gestrigen nächtlichen Ganges die eine oder andere Lösch-Premiere ausgelassen hat. Trotzdem möchte ich insistieren, dass von meinem Platz aus die Buhs für das Regieteam (nicht für die Schauspieler) bei weitem überwogen.
Auch bei Borgmanns Inszenierung scheint es mir freilich nicht ganz richtig, alles auf die Entschleunigung zu reduzieren: Da wird ja keine Wilson- oder Marthaler-Langsamkeit zelebriert, sondern ein gewissermaßen schockgefrorenes Grundtempo platzt immer wieder auf und bringt dann doch recht heftig bewegte Aktion hervor. Um dann wieder in Starre zurückzufallen. Die Komposition des Spannungsbogens ist so allerdings tatsächlich eine ganz andere als bei Gosch.
Wenn du mit Ausgestelltheit die durch und durchsichtigen Kostüme und Silberdessous meinst, in die Elena gesteckt wurde, stimme ich dir zu. Aber die Szene mit dem Doc war doch sowas von geladen lasziv, dass es geknistert hat bis unters Dach.
@19
nicht alles was hintereinanderfolgt ist eine Komposition.
@ alle
Rätselhaft bleibt mir allerdings, weshalb Elena in Stars & Stripes-Umhang und nochmehr, weshalb Sonja in einem "Power through Joy"-T-Shirt zu Markt getragen wurden.
Unter welchen Komplexen leidet denn dieser Regisseur?
lat. componere (Stammformen: compono, composui, compositum) = zusammenstellen
Es dürfte schwierig sein, einen Theaterabend nicht auf irgendeine Weise zu komponieren, also zusammenzustellen.
Das "power through joy"-Shirt hat sich mir übrigens auch nicht erschlossen.
Mehr von Robert Borgmann !!!
Wahrscheinlich kam mir diese Aufführung auch deshalb besonders verheerend vor, weil ich kurz vorher den grossartigen Onkel Wanja in den Münchner Kammerspielen gesehen hatte, wo einfach alles stimmt: geniales Konzept, hervorragende Schauspieler. Was die musikalische Begleitung angeht, könnte man mutmassen, dass Stuttgart sich in München hat inspirieren lassen...