König Lear - Peter Stein führt das erste Mal an der Burg Regie mit Klaus Maria Brandauer in der Titelrolle
Seelenfriedenschmerz
von Reinhard Kriechbaum
Wien, 21. Dezember 2013. Das Zitat zur österreichischen Innenpolitik, eine Woche nach der deprimierend-minimalistischen Koalitionsbildung dortzulande: "Das ist die Seuche unserer Zeit: Verrückte führen Blinde." Erster und einziger Zwischenbeifall bei der Premiere von Peter Steins Lear-Inszenierung im Burgtheater.
Es bleibt durchaus in Schwebe, ob das Narr-Werden nicht auch ein gütiges Geschick ist für Lear. Auch loslassen können: Klaus Maria Brandauer, kürzlich siebzig geworden, lässt da manches in der Schwebe, er mildert das Poltern und die Anklage des Machtmenschen, der sich durch den eigenen Machtverzicht selbst ausgehebelt hat. Der Narr – Michael Maertens ist in dieser Rolle ein zurückhaltend überhöhendes Alter ego – hat es nicht ganz leicht, sich zu behaupten, wird doch der Herr zusehends Grand Guignol.
Ein wenig ist Brandauers Lear dies schon in der ersten Szene, wenn er mit der Reitgerte auf der auf Rindsleder gezeichneten Landkarte imaginäre Linien zieht, die man vor seinen schlichten Thronsessel ausgebreitet hat. Nein, das ist kein Monarch mit Stil, keiner der irgendetwas auf Zeremoniell oder auch nur auf Form hielte. Er hat das Reich aufgebaut, er ist der Macher, die Macht ist seins. Dieser Lear fällt wirklich aus allen Wolken und wird in den Grundfesten durchgebeutelt, wenn seine Töchter, ihre Männer und Gefolgsleute zu intrigieren und Macht hinterlistig auszuspielen beginnen.
Präzise Bilder, ausufernde Gründlichkeit
Gloster und seinem Sohn Edgar ergeht es durch die Machenschaften des Halbbruders Edmund nicht anders: Auch sie machen das Narr-Werden als eine Art Purgatorium durch. Eine suggestive Szene: Die völlig leere Drehbühne ist in langsamer Bewegung und zieht den knietief sich ausbreitenden Nebel mit sich. In diesem weißen Sud waten Lear, der Narr, dann Gloster (famos Joachim Bißmeier) und alsbald Edgar (Fabian Krüger). Der "hauptamtliche", professionelle Narr also und drei andere, Laiendarsteller in ihrem Fach zu diesem Zeitpunkt. Sie alle müssen sich in die zur Bewältigung der je eigenen Lebensunbill notwendige Narretei erst einüben.
Wenn diese Narren dann in Zweierszenen zusammenkommen und sie ihr Los aus je eigener Perspektive beklagen, an sich selbst und aneinander wachsen – das sind die stärksten, konzentriertesten Szenen dieser Inszenierung, die freilich auch ihre Durchhänger hat. Es wird in präzisen Bildern erzählt, konzis gefasst, aber eben mit durchaus ausufernder Gründlichkeit im Einzelnen. Das Weglassen ist bekanntlich Peter Steins Tugend nicht. Also werden nicht nur im Programmheft die Figuren – auch die Nebenfiguren – mit Akribie durchdekliniert.
Mildherziger Mann? Weichei!
Beim Erzschurken Edmund (Michael Rotschopf) fällt das gediegen und anschaulich aus. Die Schwestern Goneril (Corinna Kirchhoff) und Regan (Dorothee Hartinger) sind gezeichnet als Frauen, deren Hochzeiten aus Staatsräson zu Unglück und letztlich krass deformierten Psychen geführt hat. Wenn sich ihre Rivalität um die Macht und um Edmund zuspitzt, ist das ein Zickenkrieg mit Gekreisch, aber eigentlich waren die beiden schon in der Szene am Anfang, wenn Lear das Reich aufteilt, verhärmte Zerrbilder ihrer selbst. Goneril nennt ihren Mann Albany einmal "mildherzigen Mann", Gestik und Gesichtsausdruck meinen unverblümt: Weichei. Dann heißt sie ihn gleich einen "Tugendnarr". Es wird nicht lange gehen, wird auch die jüngere Generation ihren Weg in die Narretei gefunden haben.
Wir sind in der Schlegel/Tieck'schen Fassung unterwegs, die in Wirklichkeit von Graf von Baudissin ist und von Peter Stein sanft überarbeitet wurde, mehr mit Wortkorrekturen nach heutigem Sinn und nie nach Zeitgeist. Gerade Maertens, der Narr, darf manchmal "Onkelchen" sagen zum König, der ihn dünkt "wie eine null ohne Zahl".
Die Bühne hat Peter Stein komplett ausräumen lassen, Ferdinand Wögerbauer ihm einen schmucklosen unichromen Spielraum mit ansehnlicher Tiefe zur Verfügung gestellt. Mit subtilen Beleuchtungseffekten wird gearbeitet. Nur einmal, in der Wiederbegegnungsszene zwischen Cordelia und Lear, kommt ein weißes Zelt von oben. So gut wie keine Requisiten sind nötig, sieht man von den Fahnen ab, die von den Herolden gerne dekorativ mit Wucht in den Boden gerammt werden.
Cordelia: Pauline Knof wirkt ein wenig gefangen in ihrer deklamierenden Klischeefigur. Wenn dann die älteren beiden Schwestern tot da liegen, wird Lear auch sie hereintragen, wird sie altersmilde auf seinen Schoß betten, wird sitzend sein Leben aushauchen zwischen den drei Leichnamen. Die finalen Szenen lässt Peter Stein nach und nach dekorativ erstarren, der Narrenkönig ist jetzt tauglich fürs Zeremoniell, ein Pater dolorosus. Keine gute Optik für einen Polit-Macher, aber vielleicht gefundener Seelenfriedenschmerz.
König Lear
von William Shakespeare
Übersetzung von Peter Stein nach Graf von Baudissin
Regie: Peter Stein, Bühne: Ferdinand Wögerbauer, Kostüme: Annamaria Heinreich, Dramaturgie: Klaus Missbach, Sara Abasi.
Mit: Klaus Maria Brandauer, Corinna Kirchhoff, Dorothee Hartinger, Pauline Knof, Branko Samarovski, Joachim Bißmeier, Fabian Krüger, Michael Rotschopf, Michael Maertens u.a.
Dauer: 4 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.burgtheater.at
"Zuzusehen, wie Klaus Maria Brandauer diesen selbstherrlichen, zürnenden Patriarchen auf sich selbst zurückfallen und zum greisen, friedlich brabbelnden Kind werden lässt, innerlich leuchtend und schließlich sanft verlöschend, ist – menschlich wie theatralisch – der Gewinn an einem Abend, der insgesamt nicht als geglückt gelten kann", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (23.12.2013). Peter Stein verzichte auf "eine eigene Interpretation oder gar Zuspitzung des Stoffes", er breit ihn vor allem aus. "Nur macht er es leider so breit und brav und vordergründig, dass dieser 'Lear' inszenatorisch eine doch recht betuliche, ja teils zähe Veranstaltung ist." In diesem leeren Raum "will der Beckett-Effekt transzendentaler Ortlosigkeit sich so wenig einstellen wie eine existenzielle Erschütterung."
"Zwei große Theaterkünstler sind an Shakespeare gescheitert. Es gibt im Theater Schlimmeres. Aber so schnell nichts Traurigeres", meldet Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.12.2013) aus Wien. "Es fallen Peter Stein, dem Regisseur, der die alten Texte wörtlich und die alten Formen förmlich nimmt, diesmal keine Lebenslinien ein und auf, die aus Formen und Worten machten, dass sie laufen lernten und in Bewegung gerieten. Man sieht keine Welt untergehen. Man erlebt – zum Teil höchst dekorative – Schmuckstücke (in Ur-Pelzfassung) einer Untergangsbehauptungsmalerei."
"Stein hat hier seine Art strengen, ernsthaften Theaters perfektioniert. Ohne Mätzchen oder Ironie", schreibt Norbert Mayer in der Presse (23.12.2013). Der Regisseur feiere die "Reduktion" im leeren Raum, "damit umso mehr Worte, nichts als Worte in ihrer vielschichtigen Bedeutung erklingen." Von einer "Glanzvorstellung" der Akteure ist die Rede, insbesondere der Protagonisten: Brandauer spiele Lear "bis zur Erschöpfung, manchmal auf Kosten der Verständlichkeit. Anders geht es aber nicht. Er zeigt in den gut vier Stunden alle nur denkbaren Varianten der Expression, flüstert und schreit, winselt und heult, er spricht in den großen Momenten jeden einzelnen Zuschauer an, ungeschützt, zerbrechlich schon, entblößt, assistiert von Michael Maertens als offiziellem, buntscheckigen Hofnarren."
"Stein drückt sich um Stellungnahmen herum. Sein Theater erklärt die künstlerischen Errungenschaften der letzten 40, 50 Jahre für ordinären Mumpitz", schreibt Ronald Pohl im Standard (23.12.2013). Der wichtige Handlungsstrang um Gloster werde "treuherzig vom Blatt gespielt". Am besten kommt beim Rezensenten die Lear-Partie weg: "Brandauer gelingen durchaus Momente einer schönen Wahrhaftigkeit, innig und schlicht, zumal wenn er sein jüngstes Kind (Cordelia) beweint. Im Zusammenhang mit den von Peter Stein veranstalteten Ritterspielen kämpft er auf verlorenem Posten."
Im Vergleich mit dem Lear von Gerd Voss schneide Brandauer etwas schlechter ab, schreibt Matthias Heine in der Welt (23.12.2013). "Verglichen mit dessen aufregend irrlichterndem Hippie-Lear spielt Brandauer mehr "Vernunft in Tollheit" (so wird sein Wahnsinn charakterisiert). Er bleibt damit ein bisschen zu sehr in der Lear-Konvention, um nicht zu sagen: Konfektion." Man habe es mit einer "handwerklich perfekten, aber die ihr zugrunde liegenden Gedanken gut verbergenden Inszenierung" zu tun, in der Brandauer wieder einmal "alle lange gehegten Vorurteile, er sei ein Übertreibungskünstler", widerlege. "Er nimmt sich zurück."
"Stein frönt der radikalen dramatischen Werktreue einmal mehr und verzichtet kompromisslos auf gefallsüchtige Interpretationen, auf strapazierte Aktualisierungen - auf Dekonstruktionsansätze sowieso", berichtet Sophia Felbermair im ORF (22.12.2013). "Freilich könnte man behaupten, dem Ganzen haftet der Hauch des Antiquierten an, doch genau damit gelingt es ihm auch, die Komplexität von Shakespeares düsterster Tragödie in allen Facetten zu bewahren, statt sie auf wenige Aspekte zu reduzieren." Zu erleben sei kein "unnötiger Schnickschnack also, kein Theaterzauber, sondern eine Inszenierung völlig auf die Schauspieler zugeschnitten"; und durch das Ensemble werde es ein "großer Abend".
Sven Ricklefs von "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (22.12.2013) sah Brandauer "auf einem weiteren Höhepunkt seiner Karriere", verlässt das Theater ansonsten aber "mit äußerst gemischten Gefühlen". Brandauer "ist ein leiser, sehr stiller, sehr zurückgenommener Lear (...) Erst Peter Stein, sagt man, habe Brandauer dazu gebracht, nicht mehr nur sich selbst zu spielen, sondern Figuren im wahrsten Sinne des Wortes zu entdecken. Und das tut Brandauer nun auch bei diesem Lear, der vermeintliche Wahn ist ein Weg der Erkenntnis und je erkennender dieser Lear wird, je klarer er sieht, desto menschlicher wird er (...)". Allerdings entstehe um das großartige "Narrepaar" Brandauer und Maertens herum, "ein hoffnungslos zelebriertes Staatstheater, wie Peter Stein es gern auch in der Oper abliefert, ein Theater, das so gar nicht zum eigentlichen Kern dieser Inszenierung passt."
"Viel Brandauer, wenig Lear" ist der Beitrag von Bernhard Doppler für "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (21.12.2013) betitelt. Brandauers Einstieg als abdankender König sei beeindruckend. "Doch immer mehr bremst die penetrante, manchmal auch ein wenig larmoyante Selbstverliebtheit, mit der Brandauer den verstoßenen König spielt, das Interesse an der Figur." Gleichwohl: "Wie die Rolle des Theater-Stars und die Rolle der von ihm gespielten Figur ineinander übergehen, ist dennoch auch in dieser Aufführung spannend und irritierend zu verfolgen."
Peter Stein inszeniere den "Lear" als "Monument klassischer Theaterkunst" und schaffe Raum für eine "großartige Ensembleleistung", schreibt Ute Baumhackl in der Kleinen Zeitung (23.12.2013). "Am ehesten ist sein Ansatz restaurativ: Wenn die Ordnung zerbricht, schlägt sich das Viehische im Menschen Bahn. In seiner Ernsthaftigkeit und Einsicht ist das oft genug berückend. Und doch fließt der Abend zuzeiten wie Honig: goldfarben, aber zäh."
Ein "blasser Abend" ist das für Martin Lhotzky von der Neuen Zürcher Zeitung (23.12.2013) gewesen. In "seltsam-zeitlose Kostüme" sei das Personal gehüllt, den Bühnenboden bedecke Schmutz, "beim Wahnsinn bringenden Sturm wallt Nebel auf, und es wird ständig mit Farbe und Beleuchtung gespielt. Viel Raum also für Brandauer. Er nimmt sich aber unerwartet zurück, vernuschelt bisweilen seine Zeilen, noch bevor den Lear der Irrsinn recht eigentlich gepackt hat."
"Peter Stein inszeniert in den letzten Jahren zumeist große Oper in großen Häusern, in denen es darum geht, die Totale zu füllen und kapellmeisterfreundliche Arrangements zu bauen", sagt Andres Müry im Tagesspiegel (23.12.2013). "Das Beklagenswerte: was bereits im Musiktheater etwas Antiquiertes hat, ist nicht erst seit gestern in Steins Sprechtheaterarbeiten eingedrungen. Aus dem Meister der szenischen Durchdringung und des wahrhaftigen schauspielerischen Ausdrucks ist ein Arrangeur geworden."
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Brandauer muss sich auf Grund der zeitlichen Nähe zur letzten Lear Produktion an der Burg den direkten Vergleich mit Gert Voss stellen. Leider gehts so aus wie ein Länderspiel Deutschland gegen Österreich, acht zu null für den Deutschen.
Geschätzter Herr Steckel,
Kant hat die Kunstkritik doch schon dem Gebiet der Geschmacksurteile zugeordnet ("Kritik der Urteilskraft"). Sind Sie weiter?
Wie hätte die von Ihnen gewünschte Kunstkritik zu verfahren?
(Lieber radar, mehr als das, was Ronald Pohl im "Standard" schreibt, können wir auch nicht sagen: "Als Stein zum Schlussapplaus auf die Bühne kam, blieb Brandauer verschwunden." Herzlich wb für die Red.)
Als Peymann, nach 13 Jahren Absenz mit Richard II. ans Burgtheater zurückkehrte, gab es auch diesen "Solo-Vorhang" für den Regisseur.
Kurz gesagt: Ist eine besondere Ehre...