Spur der Steine - Cornelia Crombholz feiert mit dem Ostklassiker von Erik Neutsch ihren Einstand als Schauspieldirektorin in Magdeburg
Sozialistischer Retroismus
von Ute Grundmann
Magdeburg, 26. September 2014. Die Brigade schwingt die Preßlufthämmer. Rhythmisch zucken die Körper im Takt ihrer Arbeitsgeräte, es fließt der Schweiß, und ein bißchen dürfen die Arbeiter mosern über die Verhältnisse, die hier kein Material, dort keinen Plan bieten. Doch insgesamt ist man ein fröhlich-anarchischer Haufen. Das Leben könnte so schön sein, wenn da nicht die von der Partei wären. Wie ein Ölgemälde des sozialistischen Realismus kommt diese Inszenierung von Erik Neutschs Roman "Spur der Steine" daher, mit der Cornelia Crombholz ihren Einstand als neue Schauspieldirektorin in Magdeburg gibt.
Aus dem hehren Arbeiterleben
Das Foyer ist zur Baustelle dekoriert samt griffigen Erbauungssprüchen, in einem auf alt getrimmten Fernseher läuft die DDR-Wochenschau "Der Augenzeuge", natürlich mit Bildern vom hehren Arbeiterleben. So werden die Zuschauer schon mal eingestimmt auf das, was sie gleich auf der Bühne des Schauspielhauses erleben werden.
Zum Auftakt der Spielzeit hat man Erik Neutschs vor 50 Jahren erschienenen Roman wieder hervorgeholt, der mal realistisch, mal parteilich vom Aufbau und Wachsen der jungen DDR vor dem Mauerbau berichtet. Ein riesiges Chemiekombinat soll aus dem Boden gestampft werden, dabei treffen Arbeiter und Parteifunktionäre aufeinander und auf die herrschenden Verhältnisse. Das Buch war in der DDR ein Bestseller, die berühmte und verbotene DEFA-Verfilmung von Frank Beyer mit Manfred Krug (1966) erwähnt der Programmzettel nicht einmal.
Dafür wird auf der Bühne das Malochen zelebriert. Da stehen zu Beginn und zu den Klängen von "Oh my Darlin'" fünf Kerle in schmucker Arbeiterkluft an der Rampe, bewegen die Zigaretten vom Ohr zum Mund, bis ein Signal sie wieder zur Arbeit ruft und sie von drei hektischen Männern in Anzug und Bauhelm abgelöst werden. Die Bühne fungiert dazu als Baustelle, Züge fahren rauf und runter, die Arbeiter kommen wieder, schütten Schubkarren mit Kies aus, und als der alle ist, werden die Schubkarren zu Liegestühlen.
Stramme Muckies, alte Schlager
Mit solchem Arbeiter-Schaulaufen – unter den strengen Blicken eines Agitprop-Arbeiterbildes – läßt Crombholz ihre Inszenierung beginnen, und dabei wird es auch weitgehend bleiben. Crombholz, in Halle/Saale geboren, hat in Potsdam Schauspiel und in Wien Regie studiert und nach der Wende quer durch die Republik inszeniert. Für ihren Einstand als Schauspieldirektorin hat ihr Dagmar Borrmann den Roman zu kurzen, knackigen Szenen flüssig arrangiert. Doch die Inszenierung macht daraus kaum mehr als das Erwartbare.
Zur Ankunft der jungen Ingenieurin Katja stellen sich die Zimmerleute unter Führung von Hannes Balla in Anmachpose auf – Balla (Oliver Chomik) ist ein Vorzeigeaufmüpfiger, dessen Blick so stramm ist wie seine Muckis. Das erste Treffen Katjas mit Parteisekretär Horrath gibt's in Rotlicht und Zeitlupe – die beiden werden sich verlieben – und sich zu den Klängen von "Die Beine der Dolores" vor dem Eisernen Vorhang treffen, um ganz unromantisch Bauprobleme zu besprechen.
Dazu wird viel geraucht (mit viel "Oohhs" auch mal Westzigaretten) und mit Original-DDR-Requisiten hantiert. Das bringt das Publikum schnell in "So'-Hocker hat ich auch mal"-Stimmung und zum Szenenapplaus für den Pionierchor mit Winkelementen. Doch nichts geht wirklich in die Tiefe, es darf ein bißchen gemault werden über die Verhältnisse, da wird auch mal eine strenge Parteirüge erteilt – und schnell der nächste schmissige Hit der Zeit drübergestülpt. Crombholz liefert Wohlfühl-Retro mit Westschlagern – da darf dann der blasse Parteisekretär zu "Rote Rosen, rote Lippen" ein absurdes Tanzsolo abliefern. Das ist auf die Dauer mal ärgerlich, mal langweilig.
Nach der Pause ist dann zwar Schluss mit lustig, die Differenzen zwischen Partei-Bild und Bau-Realität verschärfen sich, ein neuer Parteisekretär hält Einzug, es wird ein bißchen über Lebensführung und Linientreue disputiert, Horrath verleugnet um des Parteijobs willen seine schwangere Freundin – doch Schärfe kriegt das immer noch nicht, bleibt oberflächlich und die Figuren blass – und zwecks Dramatik erklingt Wagner-Musik. Da ist dann für einen Moment das Bühnenbild von Marion Hauer pfiffiger als die Inszenierung, wenn die Weihnachts-Bauhütte der Brigade zur Schrankwand der ehelichen Wohnung Horraths herumgedreht wird – solche Ironie, solche Brechungen hat die Inszenierung viel zu selten.
Spur der Steine
nach dem Roman von Erik Neutsch, Bühnenfassung Dagmar Borrmann
Regie: Cornelia Crombholz, Bühne/Kostüme: Marion Hauer, Dramaturgie: Oliver Bierschenk.
Mit: Oliver Chomik, Thomas Schneider, Timo Hastenpflug, Klaus Philipp, Konstantin Lindhorst, Raimund Widra, Sonka Vogt, Sebastian Reck, Konstantin Marsch, Alexander von Säbel, Franziska Reincke.
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause
www.theater-magdeburg.de
Kritikenrundschau
"Dass es gelingt, hier eine Baustelle (die ja nebenher sinnbildlich für das Projekt Sozialismus steht) nicht putzig, sondern als stampfenden, holpernden, atmenden Organismus auf die Bühne zu bringen, ist das staunenswerte Ergebnis einer gelungenen Teamarbeit", schreibt Andreas Montag in der Mitteldeutschen Zeitung (29.9.2014). "Und wenn man denn noch etwas hervorheben sollte an dieser Theater-Arbeit: Die Konsequenz der jungen Ingenieurin Katja Klee (Sonka Vogt), ihre Liebe zum verheirateten Parteisekretär Horrath (Raimund Widra) zu leben, ist ebenso großartig und überzeugend gespielt wie der Verrat, den Horrath an dieser Liebe begeht." Wolle man dieser Tage etwas über den Stand der ostdeutschen Dinge erfahren und wie es zu allem kam, so Montag: "Im Magdeburger Schauspiel ist es abzuholen."
"'Spur der Steine' war ein überaus unterhaltsamer Theaterabend, den man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte. Eine historische Aufarbeitung von DDR-Geschichte war er nicht", schreibt Rolf-Dietmar Schmidt zum Schluss seiner Rezension in der Magdeburger Volksstimme (29.9.2014). Vorher hat er von einem Abend "voller Humor, jeder Menge musikalischer, kabarettistischer, ja sogar tänzerischer Anspielungen" geschwärmt. Die Rollen seien den Agierenden auf den Leib geschrieben, "sie verkörpern förmlich diese unbändige Lust jugendlichen Willens, sich am Schaffen von Neuem, dem Bewältigen von Herausforderungen zu beweisen".
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1. Eine neue Etappe Magdeburger Theaterarbeit mit diesem Stoff zu eröffnen anstatt mit "Romeo und Julia" oder "Iphigenie" zeugt von Mut und programmatischer Intention, die auf die Region und ihre Geschichte zielt. Die deren DDR-Jahrzehnte nicht einfach als ein ununterbrochenes Unrecht betrachtet, sondern nach den historischen Widersprüchen fragt, die das zu Recht gestorbene Land bewegten. Das wäre zu würdigen gewesen.
2. Die Premiere war ein immenser Publikumserfolg, er war enthusiastisch und dauerte mehr als zehn Minuten. Das hätte nicht verschwiegen werden dürfen. Während der Vorstellung herrschten, besonders im zweiten Teil, angespannte Stille und (nicht in jedem Fall ganz gerechtfertigt - aber wer will da pingelig sein?) große Heiterkeit. Von Langeweile war wirklich nichts zu spüren.
3. Meisterhaft war, wie auf einer Bühne ohne Drehscheibe und Versenkung industrielles Arbeiten gezeigt wurde. Das meint nicht nur die Genialität der technischen und logistischen Lösungen, sondern vor allem auch die von der Rezensentin übersehene Tatsache, daß alles, die Bewegungsabläufe der Darsteller ebenso wie der Einsatz der Bühnenbau-Elemente, eine theatralisch-zeichenhafte, eine wirklich poetische Qualität gewannen. Natürlich auch ein großes Verdienst der Bühnenbildnerin.
4. Die Inszenierung insgesamt vermittelt ästhetisch den Eindruck einer großen - gelegentlich, besonders im Musikeinsatz, allerdings überdrehten! - Leichtigkeit, Eleganz und Heiterkeit. Diese Ästhetik ist Vorzug und Problem zugleich. Sie ist einerseits die Brücke, über die das Publikum geht, um sich dann auch den Inhalten zu öffnen. Sie überspielt tendenziell andererseits die Tiefe und Ernsthaftigkeit mancher Konflikte. Man mag einen DDR-Parteisekretär unkonventionell jung, temperamentvoll, ja kapriziös besetzen und spielen - er muß am Ende mehr sein als ein tangotanzender Springinsfeld. Dieser Horrath steht vor der Wahl, entweder ein politisches oder ein menschliches Schwein zu werden. Entweder seine große Aufgabe Schkona und alles, was sie bedeutet, preiszugeben - oder seine Liebe zu verraten. Das ist eine klassisch tragische Situation, Recht steht gegen Recht, Verrat gegen Verrat. (Es ist vielleicht das einzige wirkliche Problem der sehr guten Bühnenfassung, nur den einen Verrat gesehen, Horraths Ausweglosigkeit nicht ganz in dieser Dimension erfaßt zu haben).
Wie aber soll ein junger Schauspieler von heute diese existenzielle Dimension der Figur erfassen und in sein Spiel tranformieren können, der DDR und stalinistische Rituale nur vom Hörensagen kennt? Man kann ja erkennen, daß es versucht wird. Aber muß man als Rezensentin nicht auch reflektieren, daß junge Schauspieler - der Horrath-Darsteller steht hier für mehrere! - hier vor einer immensen Schwierigkeit stehen?
ein sachsenanhaltiner
Für die Regie: Beide Daumen runter!
Der Kern: "[...] Das bringt das Publikum schnell in "So'-Hocker hat ich auch mal"-Stimmung und zum Szenenapplaus für den Pionierchor mit Winkelementen. Doch nichts geht wirklich in die Tiefe [...] Crombholz liefert Wohlfühl-Retro mit Westschlagern."
Ein Kompliment den teilweise sehr jungen Schauspielern für ihr überzeugendes Einfühlen in eine ihnen so fremde Zeit und Gesellschaft. Ein Theaterabend, an dem ich lachen und weinen konnte. Und dem Publikum um mich herum erging es ebenso.
Aufführung unbedingt ansehen!
zu 1. ob nun das ganze auch ohne technik gelang, ist an dieser stelle vollkommen irrelevant... auf kleinen bühnen gibt es auch keine drehschreiben, dafür aber spannende und auch tiefgreifende abende. und ob es an den jungen schauspielern liegt, die sich nicht in die figuren des ostens hinein versetzen können, ist hier auch vollkommen egal. was ist denn das für eine entschuldigung für einen platten abend, der nur auf unterhaltung setzt.
(Liebe/r neu-leipzigerin, aus reinen Arbeitskapazitäts-Gründen haben wir uns eine Grenze der zu berücksichtigenden Stimmen gesetzt – da fällt leider immer mal wieder was unter den Tisch. Wenn es die ND-Kritik online gibt, laden wir Sie herzlich ein, sie hier im Thread zu posten. Mit freundlichen Grüßen, Sophie Diesselhorst für die Redaktion)