Kruso - Cornelia Crombholz inszeniert Lutz Seilers düster gestimmten Erfolgsroman in Magdeburg als launige Revue
Die Schiffbrüchigen gehen aus
von Matthias Schmidt
Magdeburg, 25. September 2015. Die Bühne – eine Insel. An der Rückwand ein riesiges Naturgemälde. Aus den Lautsprechern mystische Streicher. Nebel. Ein Land vor unserer Zeit. Robinsons Insel, Krusos Hiddensee. Die Uraufführung von Lutz Seilers Roman "Kruso" beginnt sehr atmosphärisch. Eine Grenzpatrouille mit Maschinenpistolen im Anschlag wird vor der Idylle durchs Bild geschoben. Der Zauber des Theaters: Wer den Roman gelesen hat, kann seinen zentralen Satz sehen: "Wer hier war, hat das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten." Wer das Buch nicht kennt, bekommt ihn bald darauf zu hören, dürfte ansonsten aber Schwierigkeiten haben zu verstehen, was die Insulaner antreibt.
Fluchtort Hiddensee
Lutz Seiler nimmt sich hunderte Seiten lang Zeit dafür, seine Leser einzuführen in die Inselwelt. Bewusst langsam baut er die Beziehung zwischen Ed, dem aus Halle nach Hiddensee "geflohenen" Studenten, und Kruso, dem charismatischen, aber immer auch leicht entrückten "König der Insel" auf. Ausführlich schildert er den Alltag im "Klausner", einem Betriebsferienheim, in dem sich im Sommer 1989 eine sonderbare Schar von Saisonkräften versammelt hat. Das Theater hat diese Zeit nicht, und so setzt Schauspieldirektorin Cornelia Crombholz auf das Gegenteil. Plakative Bilder, große Theatralik – bunt und vielfältig. Seilers vielschichtige – und ehrlicherweise auch nicht ganz unanstrengende – Sprache, die stets tiefere Bedeutungen anbietet, sie geht, um im Bild zu bleiben, am Strand der Bühneninsel baden.
Wenn Ed und Kruso gemeinsam beim Abwasch schuften, im Akkord klappernder Teller, klirrenden Bestecks und der Hektik, die aus Gastraum und Küche dröhnt, assoziiert man im Roman einen Maschinenraum oder das Ruderdeck einer Galeere. Auf jeden Fall nichts Heiteres. Auf der Bühne aber tritt "Klausner"-Direktor Krombach (Thomas Schneider) als Showmaster mit Glitzerjackett auf, und wir erleben eine Revue-Nummer aus Tanz, Geschrei und Klamauk. Soljanka ist fertig! Als Ausgleich für die Mühen pichelt das Personal "Rosenthaler Kadarka" und "Blauen Würger" in bester Rudi-Strahl-Manier. Auf der Strecke bleiben die Fallhöhe, das Bedrückende, der schleimige Dreck.
Festlandgeplapper
Es wird noch viele dieser lustigen Nummern geben, zum Beispiel am Strand in Zeitlupe Fußball spielende Wikinger, die zu einer Art Sakral-Techno irgendwas sprechen oder rappen. Man versteht es nicht so genau. Das ist hübsch gespielt und natürlich lustig. Man kann es sogar – mit gutem Willen – als Moment der Freiheit erleben, die sie suchen, die Wahl-Robinsons im Sommer 1989. Um diese Freiheit, eine Freiheit jenseits der DDR oder des Westens oder des Umbruchs, scheint es Cornelia Crombholz und Autorin Dagmar Borrmann hauptsächlich zu gehen. Sie wollen Freiheit größer und über den Sog des Westens in jenem Sommer hinaus denken. So wie Kruso im Roman.
Kruso verkörpert diese utopische Freiheit und will sie auf der Insel, seiner "Arche", nicht an das "Festlandgeplapper" von Flüchtenden und Demos in Berlin und Leipzig verlieren. Er ist das große Mysterium des Romans, der Geheimnisvolle, Unberechenbare, der Träumer. Typ edler Wilder, wenn auch psychisch angeknackst, seit seine Schwester in die Ostsee ging und nicht wiederkam.
Auf der Magdeburger Bühne ist Kruso (Raphael Kübler) nichts von all dem. Er deklamiert, er kämpft mit großer Geste und wirkt in diesem "Überspielen" wenig überzeugend. Jeder Satz ein Auftritt, alles nur gespielt. Seine enge Beziehung zu Ed (Raimund Widra), dem er seinen Traum mal predigt, mal einbläut, mal flüstert, man könnte beinahe von Liebe sprechen – Fehlanzeige. Exemplarisch dafür ist, wie die beiden sich einmal in größtmöglicher Distanz – links und rechts am Bühnenrand – gegenüber sitzen und einen Dialog aufsagen. Nähe geht anders. Erst als am Ende keine "Schiffbrüchigen", wie er die in irgendeiner Weise an der DDR Gescheiterten nennt, mehr zu seinem Vergabe-Ritual kommen, zeigt Kruso echte Gefühle: ihm fehlen die Worte. Manchmal ist Flüstern mehr als Schreien.
Mit Aktualitätszündfrosch: die Flüchtlinge gestern und heute
Ed und Kruso sind da längst allein im "Klausner", weil alle anderen dem Lockruf der schnellen Freiheit gefolgt sind. Hier vermisst man die enge Verbindung zwischen den beiden und ihr geradezu existentielles Ringen um die Arche und die Freiheit am meisten. Gestrichen. Weggekürzt. Irgendwie ist Kruso plötzlich verletzt und wird von einem sowjetischen Panzerkreuzer abgeholt. Ein farbenfrohes Bild, mit wehenden roten Fahnen, einem General (Krusos Vater) und ein bisschen Folklore.
Und weil das irgendwie kein Ende ist, meldet die Stimme aus dem Radio "Viola", dass immer mehr Flüchtlinge ankommen und in Turnhallen und Zelten untergebracht werden. Eine Heute-Analogie aus der Kalten, die nicht zündet. Also improvisiert "Viola" weiter, dass jetzt gleich dieser Lyriker aus Gera liest. Das ist sicher gut gemeint als Überleitung zur Premierenparty, Lutz Seiler saß ja im Raum, aber als Schlusswort deutlich zu albern.
Man muss jetzt doch mal sagen, dass Seilers Buch so nicht endet. Es endet auch nicht damit, dass die Grenzen geöffnet werden, nachdem Kruso auf das Schiff getragen wurde. Was seine Niederlage quasi besiegelt. Es endet mit dem Epilog "Edgars Bericht". Die Stimmung dieser 40 Seiten, in denen Ed von Krusos Tod berichtet und sich auf die Suche nach den unbekannten Ostsee-Toten macht, den ertrunkenen oder erschossenen oder von Schiffsschrauben zerrissenen DDR-Flüchtlingen, darunter Krusos Schwester Sonja, sie fehlt der nie langweiligen, aber wenig homogenen Inszenierung schmerzlich.
Kruso
Stück von Dagmar Borrmann nach dem Roman von Lutz Seiler
Regie: Cornelia Crombolz. Bühne und Kostüm: Marion Hauer. Musikalische Einrichtung: Nina Wurman. Dramaturgie: Oliver Lisewski.
Mit: Raimund Widra. Ralph Opferkuch. Raphael Kübler. Thomas Schneider. Sebastian Reck. Iris Albrecht. Wolfgang Boos. Alexander von Säbel. Oliver Chomik. Sonka Vogt. Heide Kalisch. Konstantin Marsch. Statisterie.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.theater-magdeburg.de
Die permanente Überwachung der Insel dominiere den Theaterabend ganz anders als dies im Buch zum Ausdruck komme, berichtet Gisela Begrich in der Magdeburger Volksstimme (28.9.15). Dadurch kippe das Geschehen, "welches nie die inhaltliche und ästhetische Komplexität des Romans über Bord wirft", hier und da "wie nebenher ab in die gegenwärtige Flüchtlingsproblematik". Die Inszenierung pendele ständig zwischen Szenen ausgelassener Tollerei, konzentriert geführten Dialogen und Bildern, "die das konkrete Geschehen überhöhen", so Begrich. "Die Bühnenversion von Borrmann/Crombholz widerspiegelt die ästhetische Struktur der Prosa auf anderer Ebene", hebe das "Deutungsgeheimnis" des Romans aber nicht auf.
Von "mit kunstgewerblicher Mühe aufs Sinnliche und Überrumpelnde zielendem Bildertheater" schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau (27. 9.2015). Die Ausstattung von Marion Hauer sei "ein bisschen Richtung Südsee abgedriftet, was gar nicht schlimm ist, weil doch die Realität hier nichts zu suchen hat". Die Regie mache aus Lutz Seidlers Roman einen Abend, der die besser "Edgar im Wunderland" hieße. "Am albernsten ist es leider dann, wenn es bedrohlich werden soll, dann nämlich, wenn uniformierte Statisten auf Schlauchbooten mit ihren Maschinengewehren ins Publikum zielen."
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Die vom Rezensenten vermißten, gestrichenen Passagen des Romans sind im Text ihrer Adaption vorhanden. Hier wurde also nicht zwischen Text und Inszenierung unterschieden. (Übrigens ließen sich auch Argumente für diese Entscheidung der Regie finden.)