Tyrannis - Kassel zeigt die jüngste Performance-Kreation des Regisseurs Ersan Mondtag
Das Ohne-Worte-Haus
von Michael Laages
Kassel, 10. Dezember 2015. Schwer zu sagen, wer oder was da mehr zu bestaunen war – das Theater in Kassel, nicht immer und notwendigerweise im Zentrum theatralischer Innovation, oder das Publikum, das sich da klaglos einem Experiment ausgesetzt hat, das durchaus auch andere Reaktionen hätte provozieren können ... "Tyrannis" aber, das in allererster Linie wortlose Projekt des noch nicht 30-jährigen Performance-Regisseurs Ersan Mondtag aus Berlin, schafft es immerhin auch jenseits gängiger Theater-Dramaturgien, die Kundschaft über etwas mehr als zwei Stunden hin eng in szenische Vorgänge hinein zu zwingen, deren Sinn und Zweck und Ziel im Nachhinein kaum zu bilanzieren sind.
Klar ist die Struktur – wir schauen in eine detailreich und real ausgestattete Wohnung. Das Wohnzimmer hat Esstisch, Sitzecke und Sofa, etwas weiter in die Tiefe der gedrungenen Kellerbühne im Kasseler Fridericianum hinein ist die Küche gebaut, mit Kühlschrank, Herd und Spüle; dahinter wiederum geht's hinaus auf die Veranda und hinein in den Wald. Aus dieser Wohnwelt führen Türen hinaus, ein Klo gibt's auch sowie ein später wichtig werdendes "geheimes Zimmer". Eine dem Anschein nach halbwegs normale Drei-Generationen-Familie scheint hier zu wohnen: Vater, Mutter, deren Mutter und zwei schon recht erwachsene Kinder. Alle, bis auf Oma, rothaarig – die familiären Routinen und Rituale bilden den Kern der Geschichte, Zähneputzen und aufs Klo gehen inklusive.
Schwebendes Schreiten im Oberstübchen
Papa hat mit der Axt einen Weihnachtsbaum geschlagen draußen im Wald, Mutti weckt erst alle und kocht dann. In Omas Zimmer gibt's einen kryptischen Altar, der Sohn scheint eine Art Hobby-Astronom zu sein, Sterne zieren die Tapete in seinem Zimmer und am Fenster steht ein Fernrohr. Die Tochter hingegen, fett über alle Maßen, liegt wie in Trance auf ihrem Sofa, stampft gern auf mit massivem Gewicht und muss von der Oma angekleidet werden. Am Esstisch erweist sich das Monstrum als Dirigentin – der Bruder spielt Klavier, die Oma geigt, und alle (bis auf die Mutter) singen eine traurig romantische Weise.
All diese Zimmer, diese Lebens-Räume, sehen wir auf den Video-Bildschirmen an den Wänden des realen Zimmers, übertragen von meist zwei Überwachungskameras pro Raum; auch auf dem Klo. Musik und Sound-Design des Jazz-Schlagzeugers Max Andrzejewski spielen eine enorme Rolle; akustische Schritte etwa lassen ahnen, dass alle Zimmer (und der Flur, von dem sie abgehen) in einem imaginären Obergeschoss liegen. Mit der Axt scheint Papa zuweilen auch in den Keller zu tapsen. Tapsen: ja – allem Personal hat Objekt-Stratege Mondtag eine Art schwebendes Schreiten verordnet; wie auf Eiern bewegt sich nur der Körper, der Kopf bleibt fast immer auf gleicher Höhe. Mama geht wie eine Maschine, Papa scheint fast umzufallen, wenn er sich an den Kühlschrank lehnt.
Die Fremde kommt
Und niemand spricht. Zu hören sind Vogelgezwitscher und Angstschreie aus dem Wald; das erste massive Geräusch ist die Klo-Spülung. Nach 20 Minuten. Und das bewundernswerte Publikum gibt sich mächtig Mühe, jedes Husten zu unterdrücken ...
Mehr als eine Stunde braucht's, bis tatsächlich etwas "passiert" – auf der Veranda steht eine fremde Frau. Fremd wirkt sie nicht wirklich – auffällig rote Haare hat auch sie. Beim Anblick dieser schönen Fremden fällt Papa um wie tot. Und alle, die sie sehen, stoßen spitze Schreie aus ... Doch sie kommt herein, bezieht das "geheime Zimmer" (das als einziges keiner Video-Überwachung unterliegt); sie macht sich breit im Familien-Verbund, bringt den Ablauf der Bad-und-Klo-Besuche durcheinander, nimmt gar Mamas Platz am Esstisch ein und macht Oma überflüssig bei der Hausmusik. Mama trinkt sich eins und tanzt besoffen, Oma weint zum Steinerweichen – das ist die einzige große Emotion des Abends.
Worum geht's?
Und die Kinder schlagen sich auf die Seite der Fremden – worauf Oma und Mama Schierlings-Giftbecher für alle drei mixen. Aber nur die eigenen Kinder ziehen sie tot aus dem Bann der Fremden ...
Und? Hier müssten eigentlich die Interpretationen beginnen, die Deutungen dessen, was wir sehen; auch die Debatten um den Titel: "Tyrannis". Aber was sagt der, was erzählt all das? Ein Drama um Generationen? Um die Verführung (und Zerstörung) durch "das Fremde"? Oder geht es nur um die Rituale des Alltags in unzugänglicher Umgebung? Mondtags Installation provoziert all diese Fragen – und ignoriert sie zugleich. Konzentriert ist die theatralische Konstruktion im Grunde nur auf die Vorgänge an sich; die absichtsvolle Wortlosigkeit verhindert letztlich auch jede vorder- und auch hinter- oder gar abgründige Suche nach Sinn. Konzentriert ist der Abend auf das anonym wirkende Ensemble – aber Kate Strong und Eva-Maria Keller, Mutter und Mutter der Mutter, Enrique Keils Vater, Jonas Grundner-Culemann als Sohn und Philipp Reinhardt (!) als Tochter sowie Sabrina Ceesay als fremd-schöne "Gästin" markieren in Mondtags Bewegungsstrategien auch das persönliche Profil.
Ein Talent!
Theater-Spezis entdecken natürlich die strukturellen Querverweise, besonders auf den Norweger Vegard Vinge, dessen verrätselt-verweigerndes 12-Sparten-Haus im Prater der Berliner Volksbühne für die engere Gemeinde zum Hipsten vom Hipsten avancierte. Mondtag hat in der Tat, nach ersten Assistenzen, dem Studium an der Münchner Falckenberg-Schule und ersten spektakulären Projekten dort, bei Vinge assistiert. Und in der Tat atmet die Ausstattung, von den Tapeten bis zum Fußboden im virtuellen Obergeschoss, viel Vinge; und die per Video überwachte Raum-Aufteilung sowieso. Wie den Norweger plagt auch Mondtag keine Scheu vor Langeweile; es gibt in den 130 Minuten von Kassel allemal genug Momente, in denen das Interesse am Fortgang der Dinge auch abreißen kann.
Deutlich aber ist (und ob einem das nun passt oder nicht) die brachiale Stil-Behauptung eines jungen Regisseurs. Das Maxim-Gorki-Theater in Berlin (auch sehr hip!), das Hamburger Thalia Theater und demnächst auch das Schauspiel Frankfurt (wo Mondtag zum Regie-Studio gehörte) entdecken und pflegen ein Talent. Kassel schließt mit und zu ihnen auf – Ersan Mondtag macht's möglich.
Tyrannis
Inszenierung, Bühne und Kostüme: Ersan Mondtag, Komposition und Sound-Design: Max Andrzejewski, Dramaturgie: Thomaspeter Goergen, Video & Schnitt: Jonas Grundner-Culemann.
Mit: Sabrina Ceesay, Jonas Grundner-Culemann, Enrique Keil, Eva-Maria Keller, Philipp Reinhardt, Kate Strong.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-kassel.de
Zuallererst bewundere man "die technische und choreografische Leistung" an diesem Abend, meint Bettina Fraschke in der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (12.12.2015). Aus der gespenstischen Anordnung entstehe jedoch kein wirklicher Horror: "Das wäre super gewesen. Doch dazu werden die dramatischen Stellschräubchen des Abends zu wenig festgedreht – selbst der Einbruch des Fremden in die Abgeschirmtheit der Familie und sogar Todesfälle lösen zu wenig Erschütterung aus." Im Programmblatt würden Themen wie "Selbstbezogenheit der Facebook-Welt, Rassismus und Fremdenangst aufgefächert – ob man den Bogen zu diesen aktuellen gesellschaftlichen Schmerzpunkten aber rein vom Bühnengeschehen her schlagen kann, sei dahingestellt." Trotzdem schön, "dass das Staatstheater so eine installative Theaterarbeit ermöglicht".
Was Ersan Mondtag mit "Tyrannis" zeige, sei "das Idyll von Soziopathen", "ein jeglicher Individualität entkleidetes Leben in Sprachlosigkeit und totaler (Selbst-)Überwachung", schreibt Joachim F. Tornau in der Frankfurter Rundschau (12.12.2015). Das Eindringen der Fremden könne man "als Parabel auf Pegida-Deutschland lesen." Wirklich neu sei "das Motiv der hermetisch abgeschlossenen Gemeinschaft, die von Fremden herausgefordert wird, nicht. Was 'Tyrannis' trotzdem zu einem sehr bemerkenswerten Projekt macht, ist die Form." Es seien neben den schauspielerischen Leistungen "die vielen exakt gearbeiteten Details und natürlich die Komik der kantigen Bewegungen, die dem mehr als zweistündigen Opus über die eine oder andere Länge hinweghelfen."
Kritiken zum Gastspiel der Inszenierung beim Berliner Theatertreffen 2016
Gunnar Decker schreibt im Neuen Deutschland (10.5.2016) mählich entnervt: "Aber was will Ersan Mondtag? Keine Ahnung, was ihn treibt, außer dem Drang, etwas zu fabrizieren, was auf der Konjunkturwelle des Theater schwimmt. Losgelöstes sinnfreies Spiel mit einer simplen moralischen Pointe - mein Gott! Dies markiert zweifellos einen neuen Tiefstand des ohnehin kaum mehr wirkliche Entdeckungen präsentierenden Berliner Theatertreffens."
Dirk Pilz erklärt auf der Website der Berliner Zeitung (9.5.2016), vom "ungestörten Abschnurren der Abläufe" dieser Bühnenfamilie ginge ein "seltsamer Trost" aus. Erst die unbekannte "Gästin" störe die Routine. "Weiße" sähen eine "Nicht-Weiße", eine "Fremde" und seien entsetzt. Als Form drehe "Tyrannis" den "herkömmlichen Bühnennaturalismus" um: "Wir schauen nicht durchs Schlüsselloch in ein fremdes Figurenleben, vielmehr ist es, als blicke uns an, was wir sehen." Auch sei die Inszenierung "ein Spiel über glückende oder missglückende Integration". Sowie ein interessanter Beitrag zur derzeitigen Debatte: "Was und wer die Kommenden und die schon Anwesenden sind, was fremd, was eigen bedeutet – es ist alles unklar, offen, verhandelbar."
Rüdiger Schaper schreibt auf derr Website des Berliner Tagesspiegel (9.5.2016): "Tyrannis" habe den Vorzug, "eine radikal strenge Form anzubieten und einen großen Resonanz- und Fantasieraum". Diese "verblüffend sauber gearbeitete, raffinierte Performance" stelle man sich als "Lagerraum für Horror" vor, "bedien dich, mach was draus". Das sei "die Stärke und auch die Schwäche der Mondtag-Schwarzmalerei". "Wo sind wir, wer sind die? Muss man das wissen? Ist es nicht eine Erlösung aus der Welt der falschen Faktizität und Nachrichtenlogik?"
Harald Asel schreibt auf rbb24, der Website des Rundfunk sBerlin Brandenburg (9.5.16): "Zu vorhersehbar, zu erkenntnisarm und für das Theatertreffen zu klein". Was hier das Grauen im Alltag behaupte, sei "wenig mehr als die kunstgewerbliche Arbeit eines talentierten Quereinsteigers, dem leider sein Thema abhanden kam".
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Im Übrigen: Die Stimmung fesselt, die Narration enttäuscht. Kaum doppelbödig, kaum rätselhaft. Handwerklich erstklassig, aber zu welchem Zweck?
Sind die ganzen Zimmerchen eigentlich permanent im tif installiert? Die haben ja wohl kaum auf der Seiten- oder Hinterbühne Platz.
Das lässt sich lesen als Kommentar auf das Scheitern des solidarischen Europas im Angesicht von Eurokrise und Flüchtlingszustrom. Oder als Bestandsaufnahme einer Welt, die ihre Mitte verloren hat, ihren Boden, ihren Bedeutungszusammenhang. Und doch griffe das zu kurz, so sehr existiert dieses Paralleluniversum für sich selbst, so selbstgenügsam und vollkommen ist es, so stark sein atmosphärischer Sog. Es ist sein eigener, selbst geschaffener Raum und seine spezifische, verlangsamte und non-lineare – Zeit. Mondtags Parallelgesellschaft ist von solcher Konsequenz, von so eigener Logik, dass Kennedys und selbst Vinges Setzungen fast karikaturesk wirken. Ersan Mondtag findet eine dezidiert eigene theatrale Sprache und Narration, die sich von allem emanzipiert, was als Inspiration gedient haben mag und die den Zuschauer hineinziehen in diesen so vertraut und zugleich so unendlich fremd wirkenden Albtraum. So hermetisch dieser Kosmos, so fest gefügt die vierte Wand ist, so immersiv ist diese Theatersprache, zieht sie den Zuschauer in sich hinein. Nicht jeden: Am Ende gibt es vernehmliche Buhs. Und vielleicht ist das Eintreten ist das Schreckensidyll auch nur Illusion, bleiben wir alle draußen. Oder drinnen. Ein Rätsel und ganz großes Theater.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/05/09/im-haus-der-toten-augen/
http://www.rbb-online.de/kultur/thema/2016/theatertreffen-berlin-2016/beitraege/kurz-check-tyrannis-staatstheater-kassel.html
vielen Dank für Ihre tolle Beschreibung von "Tyrannis". Besser hätte man diese oberflächliche, schlecht zusammengeklaute Pseudo-Kunst in ihrer Inhaltsleere nicht entlarven können als mit Ihrem Geraune. Und: besser passt ja wohl keine Produktion in den "Kritikermalkasten" von "innovative Form" meets politische Überkorrektheit.
Und dennoch: Warten wir ab. Ich denke, beispielsweise die "Stolpersteine" SIND eine Entdeckung.
Seien wir gespannt auf die Jury-Abschlussdiskussion, was es da an Erwiderungen zu hören geben wird.
Aber mich wundert trotzdem ein wenig die Heftigkeit, mit der sich hier und in einigen Kritiken die Ablehnung Bahn bricht. Gunnar Decker schreibt z.B.: "Aber was will Ersan Mondtag? Keine Ahnung, was ihn treibt, außer dem Drang, etwas zu fabrizieren, was auf der Konjunkturwelle des Theater (sic!) schwimmt." Und dann kommt noch der bereits zitierte Satz: "Dies markiert zweifellos einen neuen Tiefstand des ohnehin kaum mehr wirkliche Entdeckungen präsentierenden Berliner Theatertreffens."
Zum Einen ist es jetzt wirklich nicht so, dass man während "Tyrannis" ständig denkt: "Ah ja, das ist jetzt alles neuster Trend, das habe ich schon 100 Mal gesehen." Wo denn? Klar, gibt es Elemente, die die Arbeit mit anderen verbindet. Wie auch nicht? Auch Arbeiten von, sagen wir: Claus Peymann, Elmar Goerden, Elias Perrig und Tobias Wellemeyer verbindet eine ganze Menge, ohne das ständig die Eklektizismus-Keule geschwungen würde. Offenbar kommen nur bestimmte Form-Experimente in Eklektizismus-Verdacht, während das sogenannte "konventionelle" Theater seltsamerweise immer so vor sich hin wursteln darf, ohne dass jemand aufschriee: "Das haben wir schon 100 Mal gesehen."
Und was den Tiefstand der Entdeckungen betrifft: Da könnte man in den vergangenen Jahrzehnten noch ganz andere Beispiele finden. Eintagsfliegen etc. Aber was will Gunnar Decker? Keine Ahnung, was ihn treibt, außer dem Drang draufzuhauen. Es ist hier eine Ästhetik zu sehen, die jedenfalls nicht alltäglich ist, insofern ist sie bemerkenswert. Und man kann sie zur Diskussion stellen (sie findet ja gerade statt). Vielleicht ist sie inhaltsleer, vielleicht streberhaft, was weiß ich. Aber als Setzung ist sie erst einmal stark - nicht zuletzt weil die ästhetische Oberfläche sich sehr geschlossen, hermetisch und perfekt präsentiert. Und weil es nicht nur nachgespielte Susanne Kennedy ist.
Im Übrigen sehe ich auch nicht die simple Eindeutigkeit der Zeichen in "Tyrannis", die hier manche suggerieren. Ich bin während der Aufführung zum Beispiel gar nicht auf die Idee gekommen, die Gästin deswegen als Fremde zu sehen, weil diese "dunkle Hautfarbe" (Decker) hat. Ich dachte vielmehr darüber nach, ob sie vielleicht zur Familie gehört - ein uneheliches Kind? Denn auch sie hat ja die roten Haare. Die Beziehungen zwischen den Figuren behält etwas Diffuses. Oder eben Geheimnisvolles. Man muss dem Rätsel nicht auf die Spur kommen wollen, aber zu behaupten, es gebe hier keines, finde ich etwas denkfaul. Wie mir auch schon die Reduktion der Gästin-Figur auf ihre Hautfarbe sehr fragwürdig erscheint.
Ich bin mir auch zwei Tage nach der Aufführung nicht sicher, ob ich das Experiment "Tyrannis" für gelungen halte oder nicht. Und weil das so ist, empfinde ich die Einladung zum tt allemal als gerechtfertigt. Gerechtfertigter jedenfalls als das Elend der "Schiff der Träume"-Aufführung zur Eröffnung, bei der sich die Eklektizismus-Frage 1000-mal dringlicher stellt.
Ceterum censeo "Balkan macht frei" essere invitandum!
Denkfaul kann man nur sein, wenn man regelrecht zum Denken verführt wird, das tut dieser Abend nicht, da er nur mit sich selbst kokettiert. Klar ist das immer blöd, wenn man etwas blöd findet und die meisten ähnliche argumente haben und fast schon einen konsens biden... verstehe ich. nur ist es so, dass es weniger ärgert, wenn man etwas schon 1000-mal gesehen hat, sondern es ärgert, weil es sich für superneu und innovativ hält und dann obendrein kommentare kommen, dass dieser abend weiter geht als ving und co... wenn man viel bildende kunst, installation und performace gesehen hat, dann sieht man einfach anders auf diesen abend - vielleicht ist das auch ein phänomen in deutschland... und diese sache mit der hautfarbe, ENTSCHULDIGEN SIE!!! das will der abend eindeutig!!! Allein, weil der regisseur das in interviews und auch im programmheft sehr offenlegt, wie das mit der besetzung gemeint war- daher ist nicht decker das problem, sondern der der besetzt... dass sie selbst so toll nachdenken, liegt vielleicht auch in ihrem wohlwollen, meinen sie nicht?! und wenn es allein ausreicht sich bis zum schluss zu fragen, ob die arbeit gelungen ist oder nicht, dann bestätigen sich doch jene kritiken, die den tiefpunkt beschreiben, oder?
und der kleine seitenheb ihrerseits bekräftigt ihrer ganzen aussagen zuvor absolut überhaupt garnicht...
"ich werde lieber gehasst für jemand der ich bin, als geliebt zu werden, für jemand der ich nicht bin." hat schon mal in weiser mann gesagt...
"und diese sache mit der hautfarbe, ENTSCHULDIGEN SIE!!! das will der abend eindeutig!!! Allein, weil der regisseur das in interviews und auch im programmheft sehr offenlegt, wie das mit der besetzung gemeint war"
Hat er das wirklich so gesagt? Hmm, nun ja, dann ist vielleicht die Aufführung vieldeutiger, als ihr Regisseur es beabsichtigt hat? Oder ich liege schlicht daneben, und das Ganze ist doch etwas simpel gedacht. Ich will das ja gar nicht ausschließen. Ich will nur auch das Gegenteil nicht allzu voreilig ausschließen. Und ich halte es zumindest in diesem Fall für unangemessen, gleich ganze Tiefpunkte herbeizuschreiben. Das war ja jetzt nicht der "Faust" von Peter Stein. Denn der war wirklich ein Tiefpunkt der Theatergeschicht ;)
PS Dass ich so toll nachdenke, liegt nicht an meinem Wohlwollen, sondern schlicht daran, dass jeder, der sich schriftlich äußert, irgendwie der Meinung ist, dass er ganz toll nachdenken würde.
PPS @Stefan B. Ich habe mir übrigens kein Programmheft gekauft und bin jetzt fast froh drum. Was Sie von dem Programmheft berichten, klingt nicht gut. Ist das vielleicht der sogenannten Provinz geschuldet, dass die Dramaturgie glaubt, dem Publikum seine Erfahrungen erklären zu müssen?
Das Programmheft habe ich auch nicht. s steht ausführlich auf der Website des Theaters.
http://www.staatstheater-kassel.de/tyrannis,s1895.html
Ich finde aber schon, dass der Regisseur über eine bemerkenswerte Formensprache verfügt (die zumindest nicht alltäglich ist), nur fehlt es mir leider an einer Geschichte, die er damit erzählen will (das ist mir alles zu dünne). Dabei ist mir aber völlig schnuppe, ob er - offensichtlich - Film und Vorbilder zitiert, ob er sich ans "antike Theater" anlehnt oder nur an "Vegard Vinge", was das Staatstheater Kassel als Werbung für den Abend auf seine Homepage pinselt oder irgendwelche Redakteure (egal ob "Theatersoße" oder nicht) in ihre Zeitungen.
Ich hatte das Theatertreffen bislang nicht als das Forum der Weltneuheiten verstanden und auch weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart die dort präsentierten Inszenierungen (Ausnahmen ausgenommen) als wahnsinnig innovative Neuerfindungen des Theaters wahrgenommen. Das der hier diskutierte Abend aber aufgrund der sehr eigenen Ästhetik "bemerkenswert" ist und deshalb auch nachvollziehbar eingeladen wurde, kann man wohl kaum bestreiten (auch wenn er nicht jedem - mir auch nicht - gefällt).
Ich kann Sascha Krieger (#22) nur heftig zustimmen: offensichtlich lässt der Abend nicht kalt und bewegt - auch Tage nach der Aufführung - noch die Gemüter. Über keine andere Inszenierung des diesjährigen Theatertreffens lese ich so viele Reaktionen (gibt es überhaupt welche?).
In meinem ganz privaten Maßstab für einen guten Theaterabend ist das ein durchaus wichtiges Indiz: wenn ich an den folgenden Tagen an die Aufführung zurückdenke und mich das Gesehene beschäftigt (sei es auch im negativen), kann es so ganz schlecht nicht gewesen sein.
- Matthias Hartmann (Geld, Burgtheater)
- Rostocker Oberbürgermeister (Geld, Theater)
- Peymann (Stachel im Fleische)
- jedes "überzogene" Intendantengehalt
- Hallervorden (Blackfacing)
- Castorf (Mäusehirne)
- Brecht-Erben (Baal)
- Residenztheater (Baal)
- Budapest (Intendantenumbesetzung)
- [beliebig fortzusetzen]
Ich bitte Sie.
Man kann übrigens in der modernen Theaterwissenschaft einiges dazu finden. Genresynkretismus, Kreolisierung, interkulturelles Theater - wir haben es nicht erst heute und nicht nur im Performancebereich mit einer Vielzahl von Theaterformen zu tun. Selbst altgediente Theaterstrategen wie Brecht, Heiner Müller, Christoph Schlingensief, Frank Castorf, Robert Wilson, Christoph Marthaler, Herbert Fritsch, Michael Thalheimer oder Andreas Kriegenburg bedienten und bedienen sich da aus dem reichhaltigen Fundus der Kunst- und Kulturgeschichte. Jeder auf seine Weise, und sie werden mittlerweile selbst zitiert. Viele jüngere KollegInnen wie Vegard Vinge, Susanne Kennedy, Nurkan Erpulat u.a. tun es ihnen nach und entwickeln neue, eigene Formen, die über das bloße Zitieren hinausgehen. Und das ist das Problem, dass ich bei Mondtag sehe, der einen Mix aus Zitaten zur neuen Kunstform erhebt.
Ein Problem mit der fehlenden Sprache habe ich übrigens nicht, Herr Steckel. Auch Peter Handke und Franz Xaver Kroetz haben starke Theaterstücke ohne Worte verfasst. Mich stört nur, dass ich schon vorher im Ankündigungstext (der auf der TT-Website ist da noch viel eindeutiger) mit der Nase drauf gestoßen werde, an was mich das erinnern soll. Zitat: „Assoziationen an Horrorfilme und Computerspiele, David Lynch und Brüder Grimm, aber auch an Kleinbürgerenge à la Fassbinder und das verschämte Personal von Christoph Marthaler“.
Theater und bildende Kunst gehen schon länger Hand in Hand. Die Foreign Affairs werden im Juli mit William Kentridge sogar einem „Hybrid“-Künstler eine ganze Werkschau ausrichten. Videokunst, Kostüme und Bühnenbild sind nicht mehr nur dienende Accessoires. Bezeichnend für die oben genannten Regisseure ist, dass sie entweder selbst künstlerisch stark akzentuierte Bühnenbilder bauen, oder mit dafür bekannten Bühnenbildnern arbeiten. Kandinsky, Malewitsch, Schlemmer, Nitsch und Wilson gingen und gehen in ihren Werken für das Theater weit über das reine Bühnenbild hinaus. Neu ist heute lediglich, dass Theater immer mehr selbst bildende Kunst sein will. Man braucht auf der Bühne allerdings immer noch den Schauspieler, oder in einer Bühneninstallation das Publikum, das selbst zum Teil dieser künstlerisch gestalteten Bühnenwelt wird. Bei der voranschreitenden Reduktion und dem Wegfall jeglichen Narrativs, erübrigt sich das vermutlich aber auch recht bald. Was dann irgendwann übrig bleibt, wird man das neue schwarze Quadrat von Malewitsch nennen.
Zur Hautfarbe: Mir ist das nicht einmal aufgefallen. So plakativ ist das Mittel denn also nicht. Und natürlich steht sie für das/die Fremde, die aber auch eine Funktion des Inneren ist. Heißt: das "Fremde" entsteht dadurch das wir es als fremd definieren, es ist immer Teil der definierenden Instanz. Und natürlich ist es genau das, was Mondtag – neben unzäligen anderen Dingen.
Zum "Eklektizismus":
Lieber Stefan B., der in #31 gemachte Vorwurf ist ein bisschen widersprüchlich. Zum einen heißt es, es sei ein "Mix aus Zitaten", zum anderen, dass es über das bloße Zitieren nicht hinaus gehe. Wenn ich Zitate miteinander kombiniere (was Mondtag nicht tut, aber bleiben wir mal bei der Ausgangsthese) stelle ich sie in neue Zusammenhänge, lasse sie miteinander reagieren. Dadurch verändern sie sich zwangsläufig, von bloßem Zitieren kann also keine Rede sein. Ist das jetzt bloße Kopierkunst oder ein Mischmasch oder was? Letztlich get Mondtag mit seinem Ausgangsmaterial natürlich so um, wie wir es aus der Symphonik im Begriff der Durchführung kennen. Er arbeitet damit und erschafft daraus etwas, was nicht die Summe seiner Teile ist. Das täte er allein dadurch, dass er bloße Zitate neu kombinierte (was er wie gesagt nicht tut). Den Einführungstext auf der TT-Website als Kriterium anzuführen, ist dann schon reichlich abstrus.
Zum Hybrid-Begriff:
Hat Mondtag Inspirationsquellen, die von außerhalb des Theaters kommen? Klar. Die hat Castorf auch. Oder Thalheimer. Oder Fritsch. Sind das Hybridkünstler? Tyrannis ist natürlich keine Installation, es ist Theater. Theater in dem nicht gesprochen wird und wenig passiert, aber das was er tut, ist genuin theatral, wie Beckett theatral ist oder Ionescu. Maximale Reduktion: in Sprache, "Handlung", Zeit.
Und zuletzt noch zu #30:
Ich habe herzlich gelacht.
nochmal zum Eklektizismus. Ich wollte mit diesem Begriff gar nicht nach Mondtag schlagen, ich habe ihn nur von W. Behrens aufgenommen. Er ist aber zur Einordung (wenn man das machen will) durchaus anwendbar, genau wie die Begriffe Hybridkunst oder Genresynkretismus, die ich auch nicht erfunden habe. Und nur weil du es postulierst und es auf einer Bühne stattfindet, ist das noch lange kein Theater im herkömmlichen Sinne. Darüber kann man durchaus streiten. Nur weil nichts passiert (das Warten ist wie bei Beckett oder Vinge genauso Bestandteil der Inszenierung), oder weil es absurd wirkt wie bei Ionescu ist es nicht automatisch auch theatral. Auch weil dieser Begriff schon leicht überstrapaziert wirkt. Von den Wiener Aktionisten behauptet man auch nicht, sie hätten Theater gemacht, nur weil sie gesungen, gepisst, oder mit anderen Körperflüssigkeiten rumgenmacht haben, was ja auch auf so mancher Bühne passieren soll. Außerdem wäre dann jede Kunstform, in der sich etwas bewegt oder sich anderweitig zur Schau stellt, wie z.B. Zirkus, Kabarett oder Varieté auch Theater.
All das ist ja bei „Tyrannis" und bei anderen hybriden Inszenierungs-Stilen natürlich auch drin. Bei „Tyrannis“ wird dieser Anteil an anderen Kunstformen, wie Installation (Raumgestaltung), Musik, Film und Video aber bewusst ausgestellt und dazu noch auf andere Künstler verwiesen. Der Hinweis auf den Text auf der TT-Website ist nicht abstrus. Ich will damit auch gar nichts beweisen, sondern nur auf einen Widerspruch hindeuten. Will man nun originales Theater, oder ein bewusster Mix aus Kunstzitaten sein?
Und noch etwas zu Sinn, Unsinn oder eigener Logik, wie du es in deiner Kritik nennst. Ist „Tyrannis“ nun logisch, wird ein bestimmter Sinn verfolgt, oder ist es absurd wie Ionescu, märchenhaft wie Grimm und unerklärbar wie Lynch. Für mich ist es sehr wohl deutbar. Es gibt eine Trennung von Innen und Außen, von Zuschauerraum, Bühnenraum und einem Raum dahinter, der durch Birkenstämme (auch so ein Zitat) gekennzeichnet ist. Das ist sehr ironisch und bedeutet auch eine klare Abgrenzung zum herkömmlichen Theater. Aber irgendwelche Metaebenen, „Idyllen" (Wieso eigentlich Idyll?), Dystopien oder Albträume sehe ich da nicht.
1. Die "eigene Logik" findet sich auch bei den von dir genannten. Was bei Ionescos passiert ist absolut stringent und daher "logisch", ohne dass es unserer herkömmlichen Interpretation von Logik (oder Logik im philosophischen Sinn entspricht.+
2. Was ist Theater im herkömmlichen Sinn? Was fällt da überhaupt drunter? Ist Castorf Theater im "herkömmlichen Sinn"? Marthaler? Mitchell? Fritsch? Castellucci? Das schöne am Theater ist doch, dass es seine Grenzen immer wieder verschiebt und neu definiert. Kortner hätte Tyrannis ebenso wenig für Theater gehalten wie eine beliebige Castorf-Inszenierung, Peymann tut das vermutlich bis heute nicht. Natürlich sind bei den genannten die Einflüsse anderer Kunstformen stärker als im "herkömmlichen Theater", aber sie sind integriert in ein genuin theatrales Setting. Dass die gleichen Künstler*innen dieses Setting zuweilen verlassen (Kennedy und Castellucci sind Beispiele) und umgekehrt bildende Kunst mit Theater anreichern (in ihren Installationen), dass sie auch bewusst die settings vermischen, widerspricht dem nicht.
na ja, die "Herkömmlichkeits"-Frage könnte man auch in eine Bekömmlichkeits-Frage umdeuten. Aber egal. Natürlich trifft auch deine Feststellung zu, dass das Theater einem ständigen Wandel und einer Durchmischung mit anderen Kunstformen unterzogen ist und sich dabei immer auch bestimmte Geschmäcker und Fraktionen ausbilden. Nichts anderes habe ich auch gemeint. Im Speziellen ist das dann aber auch immer diskussionswürdig. Daher empfehle ich den Videoblog hier auf nk mit Pilz und Merck, der hat so was schön Ausgleichendes. http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12541:theatertreffen-2016-videoblog-tyrannis&catid=1564:festivaluebersicht-theatertreffen-2016&Itemid=100190
Wie wäre es mit der Formel:
"Eifrige Diskussion ungleich hohe Relevanz der Inszenierung."
?
Vielleicht belegen wir auch einfach noch einmal den Grundkurs "Über notwendige und hinreichende Bedingungen".
Ich wollte - zu dem (vielleicht irreführenden) "und" - lediglich anmerken, daß, fügt man den Gestalten des antiken Theaters die Sprachlosigkeit hinzu, sie nicht etwa schweigen wie Antigone, wenn sie den Bericht des Wächters von ihrer Verhaftung anhört, sondern sich vollständig auflösen. Sie sind die klassischen Vertreter eines Theaters der Worte.