Unruhe im Fleisch

von Claude Bühler

Basel, 14. Februar 2020. Ein biederer Staatsanwalt, der plötzlich als axtschwingender Graf Öderland durch das Land zieht und eine diffuse Revolte anzettelt: 2015 brachte Volker Lösch mit Max Frischs Moritat die Pegida-Demos auf die Bühne. Das fast vergessene Stück "Graf Öderland" (1951/56) hält aber noch weitere Angebote für Theaterleute mit Sinn für tagesaktuelle Bezüge bereit: etwa der sinnlose Mord eines Bankangestellten, einfach weil ihn die Arbeit langweilte. Aber am Theater Basel verweigert sich Stefan Bachmann nun allem vordergründigen Thematisieren. Vor allem folgt er konsequent der Bezeichnung "Moritat": makaber, aber nicht realistisch, und gebrochen mit Frischs Dialogwitz. Und die 95 Minuten verfliegen in einem hypnotischen Bilderrausch.

Die Wirklichkeit des Traums

Ein kanaltiefer Riesentrichter von Bühnenbreite schafft eine Unterwelt, in die die Figuren als Abziehbilder ihrer bürgerlichen Existenz hinunter tänzeln, torkeln, rutschen. Ein surrealer Ort, vom dem überakustische Klänge an uns herangetragen werden. Keine realistische Lebenswelt, wie sie Frisch bebilderte mit der Wohnung des Staatsanwalts, der Gefängniszelle für den Bankangestellten, dem Regierungsgebäude für die Elite: Die sollen wir nur als Fantasie begreifen, von der erzählt wird. Die Wirklichkeit hier ist der Traum. Da enthüllen sich die wahren Dimensionen und Phänomene.

GrafOederland 2 560 BirgitHupfeld uAus dem Dunkeln schwebend: Thiemo Strutzenberger, Julius Schröder, Moritz von Treuenfels, Simon Zagermann, Steffen Höld, Mario Fuchs, Klaus Brömmelmeier, Linda Blümchen © Birgit Hupfeld

Gelegenheit auf Grand Guignol zu machen: Das Blut spritzt, wenn Staatsanwalt Martin seine Frau Elsa und ihren Liebhaber, den Verteidiger Dr. Hahn, ersticht (wie in Träumen üblich treten sie später wieder lebendig blutverschmiert auf). Oder wenn Inge ihrem Vater das Eingeweide aus dem Bauch holt. Bei Bachmann ist es aber nicht mehr wie bei Frisch die Enge der bürgerlichen Schweizer fünfziger Jahre, gegen die Öderland mit der Axt aufbegehrt. Vielmehr ist es die Unruhe im Fleisch, die sich sinnlos und rauschhaft Bahn bricht.

Stummfilm mit Rammstein-Begleitung

Und diese Unruhe wird hauptsächlich angefeuert von Angst. Der Staatsanwalt/Öderland hat Angst, sein Leben zu verpassen. Aber auch der Innenminister und der Kommissar reagieren panisch und despotisch, wenn der Bankangestellte in der Zelle seine Erfahrungen mit dem Kapitalismus ausbreitet. Sein Anwalt hat Angst, dass er kein anwendbares Motiv zu seiner Verteidigung findet. Der Bankangestellte selbst fürchtet die Alltagsöde in der Freiheit mehr noch als den Gefängnisaufenthalt. Mit der Angst als Triebfeder wirken Frischs eingestreute Gesellschaftskritiken nicht mehr als Publikumsbelehrung. Sie werden dynamisch in ihrem wahren Sinn herausgekehrt.

GrafOederland 3 560 BirgitHupfeld u Barbara Horvath, Thiemo Strutzenberger © Birgit Hupfeld

Das gleissende Licht lässt die Figuren im Kanal wie in expressionistischen Stummfilmen erscheinen. Die metallisch-roten Haare von Öderlands Helferin Inge erinnern an Teenie-Horrorfilme. Verschmitzt lässt Bachmann den Hellseher in Nosferatu-Posse vorbeistaksen. Der Abend ist gespickt mit solchen Anspielungen. Düster dräuen Sven Kaisers Keyboards. Wenn Öderlands Aufständische ihre Äxte in den Bühnenboden hauen, rockt die Live-Band im Rammstein-Stil.

John Travolta als Arturo Ui

Thiemo Strutzenberger als Titelfigur ist kein Bundesbeamter, bei dem plötzlich der Schalter auf Amok kippt: Sein Staatsanwalt ist von Beginn weg die Unruhe selbst und gefährlich unberechenbar. In rasend schnellem Lauf sondert er dunkel Unterschwelliges ab. Frischs Hornbrille sieht auf seinem Gesicht wie ein aufgesetztes Accessoire aus, das nicht passt, nie gepasst hat. Seine unzufriedenen Revoltierer fertigt er mit eiskalten Sentenzen ab. Seinem Fahrer, der auf ihn zielt, dreht er kurzerhand die Pistole gegen den eigenen Kopf. Vor der versammelten Staatselite markiert er den Arturo Ui mit John Travolta-Tanzposen. Allein seine Darstellung ist das Eintrittsgeld wert.

GrafOederland 1 560 BirgitHupfeld uMario Fuchs, Linda Blümchen, Julius Schröder, Thiemo Strutzenberger © Birgit Hupfeld

Überhaupt glänzt das Ensemble mit einer präzisen und lustvollen Leistung, beispielsweise wenn die versammelte Polit-Elite (vor dem Umsturz im Regierungsgebäude) den Text singend skandiert. Ein toller Regie-Einfall, der vor Tempoverlust und einem Absturz auf eine unpassende Bedeutungsebene rettet – und den man auch als Parodie auf Ulrich Rasches Inszenierungsstil sehen könnte.

Bachmann kann es sich leisten, die Aufführung zerbröseln zu lassen: Man hört einfach auf und Licht an, Endes des wüsten Traums, der Umsturz ist abgesagt. Die Aussage des Staatsanwalts "Man hat mich geträumt" ist nur folgerichtig in Bachmanns Inszenierung. Keine war so inspiriert und gekonnt in der bislang nicht ganz glücklichen Basler Saison. Und sicher hat keine so viel Spass gemacht.

Graf Öderland
Eine Moritat in zwölf Bildern von Max Frisch
Inszenierung: Stefan Bachmann, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Esther Geremus, Musik: Sven Kaiser, Körperarbeit: Sabina Perry, Licht: Roland Edrich, Dramaturgie: Barbara Sommer.
Mit: Linda Blümchen, Klaus Brömmelmeier, Steffen Höld, Barbara Horvath, Mario Fuchs, Julius Schröder, Thiemo Strutzenberger, Moritz von Treuenfels, Simon Zagermann, Musik-Ensemble: Thomas Byka, Michael Goldschmidt, Sven Kaiser, Sylvia Oelkrug.
Premiere am 14. Februar 2020
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Auch Theater-Tausendsassa Stefan Bachmann schafft es nicht, aus 'Graf Öderland' ein wirklich gutes Stück zu machen", schreibt Dominique Spirgi in der bz (17.2.2020). Aber es schaffe es "zusammen mit einem beherzt spielenden Darsteller- und Musikerensemble und getragen von einem bemerkenswerten Bühnenbild, einen vergnüglichen, zuweilen gar packenden Theaterabend hinzulegen".

Na­tür­lich plün­dere Bach­mann die Ar­chi­ve der Film­ge­schich­te und kratze nicht all­zu tief un­ter der zi­vi­li­sa­to­ri­schen Krus­te, schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.2.2020). "Aber er macht mit sei­nem kaum hun­dert­mi­nü­ti­gen Mo­ri­ta­ten­rei­gen den bei­na­he tot­ge­sag­ten Frisch fri­scher und le­ben­di­ger denn je."

"Das alles ist grosses Theater, gross in seiner Wirkung und gross im Verzicht auf jedwede Mittel, die nicht der Mensch und sein Körper sind", feiert Daniele Muscionico von der Neuen Zürcher Zeitung (18.2.2020) diese "formal starke Inszenierung" und widmet dem Regisseur Stefan Bachmann mit der Rezension zugleich ein Porträt.

Stimmen zum Gastspiel der Produktion auf dem Berliner Theatertreffen 2021 digital:

"Bachmanns Inszenierung ist von einem starken Sog", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (18.5.2021). "Ob Freiheitsdurst oder Blutrausch die Gefolgschaft von Martin/Graf Öderland antreibt, ist nie ganz klar – und eben das ist das Beunruhigende." Gegenüber der 3sat-Bildregie in der Stream-Aufbereitung ist die Kritikerin reserviert: "Die Kameraarbeit der Aufzeichnung verstärkt die Fokussierung mit Nahaufnahmen, sie nimmt dem Zuschauer die Anstrengung ab, sich zu orientieren. Das ist nicht immer von Vorteil, Bequemlichkeit kann die Aufmerksamkeit auch mindern."

Kommentare  
Graf Öderland, Basel: Nullnummer
Weshalb kann es sich "Stefan Bachmann leisten, die Aufführung zerbröseln zu lassen"? Ganz offensichtlich ist er hier mit der Arbeit nicht fertig geworden und mit dem Schluss dieses beunruhigend ambivalenten Stücks nicht klar gekommen, weil da eine Haltung der Regie gefordert ist.
Thiemo Strutzenbergers Anwalt hat in keinem Moment das gefährliche Potential eines Umsturzes, sei er nun innerlich oder äusserlich. Die Schauspieler bleiben in dieser Inszenierung durchwegs eindimensional, weit unter dem flirrend klugen, auf- und anregenden Ensemblespiel, das in den zwei vergangenen Spielzeiten am Theater Basel oft zu sehen war. Frischs Öderland verkommt hier, nach einem interessanten Anfang, zunehmend zur Nummernrevue ohne jegliche Aussage. Da hilft es auch nicht weiter, sich ironisch über den Text zu stellen und sich in schlechtes, chorisches Sprechen zu retten, das gegen den Rhythmus des Texts läuft. Die beliebige, (gut gespielte,) Live-Musik dient vor allem dazu, schlecht inszenierte Übergänge zuzukleistern.
Das einzig sehenswerte an diesem Abend ist die Bühne von Altmann. Schade, dass die Ära Beck in Basel so kurz war. Für solche aufwändigen Harmlosigkeiten muss man nicht mehr ins Theater.
Graf Öderland, Basel: Toll!
Ein großartiger Abend mit tollen Schauspielern und eindrucksvoller Live-Musik! Sehr zu empfehlen!
Graf Öderland, Tt Berlin: überraschend
Zwei tragende Säulen hat diese düstere Moritat: Zum einen Thiemo Strutzenberger in der Titelrolle des vermeintlich biederen Staatswanwalts, der sich in einen faschistoiden Axtmörder-Amoklauf und Führer einer neurechten Erweckungsbewegung hineinträumt. Blutverschmiert und schweißtriefend erwacht Strutzenberger am Ende der knapp anderthalb Stunden aus seinem Albtraumtrip. Für diese Leistung wird er beim digitalen Theatertreffen 2021 heute mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet.

Die zweite Säule des Abends ist das Trichter-Ungetüm: ein unverkennbares Bühnenbild von Olaf Altmann, allerdings nicht ganz so wuchtig wie bei seinen besten Zusammenarbeiten mit Michael Thalheimer. Wie das Kaninchen-Loch in „Alice im Wunderland“ saugt der schwarze Schlund die Figuren auf, lässt sie taumeln und zu Boden plumpsen, begleitet von der Live-Musik des Quartetts um Sven Kaiser, die meist geheimnisvoll wabert, im entscheidenden Moment aber auch im brachialen Rammstein-Stil dröhnt und röhrt.

Die Schauer-Geschichte in zwölf Bildern, die Max Frisch in den 1950er Jahren schrieb, wird heute nur noch selten gespielt. Zuletzt gelang Volker Lösch im Herbst 2015 am Staatsschauspiel Dresden eine aufsehenerregnde Parabel auf den Aufstieg von Pegida und die völkischen Erlösungsphantasien, die sich damals in der sächsischen Landeshauptstadt Bahn brachen. Seltsam, dass dieser mutige und kluge Zugriff auf den fast vergessenen Stoff damals bei der Auswahl für das Theatertreffen übergangen wurde. Ähnlich überraschend ist es, dass stattdessen nun Stefan Bachmanns „Graf Öderland“-Inszenierung zum Theatertreffen eingeladen wurde. Dieser Abend ist sicherlich eine sehenswerte Stadttheater-Inszenierung für das Repertoire, aber ihr fehlt das wirklich Besondere, das eine Einladung zum Festival der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen rechtfertigen würde.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/05/17/graf-oderland-stefan-bachmann-theater-basel-residenztheater-kritik/
Graf Öderland, TT Berlin: Museumsstück
Es sind starke Bilder, die Bachmann schafft, aber sie bleiben fern. Er entpolitisiert den Stoff, wo Lösch ihn ins Hier und Jetzt geholt hatte (und Frisch ihn durch aus als Kommentar auf die geschlossene Schweizer Gesellschaft der 1950er-Jahre meinte), versucht seine Essenz als Moritat herauszuarbeiten und macht ihn damit zu einemm zweifelllos faszinierenden aber doch distanziert zu betrachtendenn Museumsstück. Das führt vor allem gegen Ende beim Machtkampf des Rebellen Ödetrland mit der herrschenden Klasse zu einigen Reibungen, dort, wo sich das Politische nicht leugnen lässt. Bachmann sucht hier das Absurde, die grelle Satire, streift die Lächerlichkeit und verschüttet alles unter dem Effekt.

Die rhythmisch-musikalische Erzählung, diemalerisch-expressionistische Ästhetik, das von Altmanns Bühne erzwungene unsicher-künstlerische Spiel – sie geraten zm Selbstweck. Die Kanalratte Mensch, sie mutiert zum Requisit, das Bild ist pures Bild, dem Bezeichnenden fehlt das Bezeichnete. Die Enthebung aus der Realität wird absiolut und so gut uund präzise, wie hier gespielt witrd, so kalt lässt es zumindest den Betrachter der Aufzeichnung. So findet Bachmann denn auch keine Lösung für den reichlich improvisiert wirkenden Schluss – der Traum ist so perfekt und in sich selbbst verliebt, dass das Erwachen zum Problem wird. In welche Wirklichkeit hinein sollte das Aufwachen auch geschehen? So bleibt ein großartig anzuschauen und ob seiner handwerklichen Perfektion zu bewundernder Theateraabend, der vollkommmen hermetisch ist, wie hinter Glas erscheint, weil er vergessen hat, uns etwas sagen zu wollen, der keine Haltung zu benötigen meint, weil er sich selbst genügt. Ein Abend aus einer anderen Zeit.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2021/05/18/kanalratten-hinter-glas/
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