Schwestern der Schöpfung

von Frauke Adrians

27. Juni 2020. Dieses doofe Virus. Nicht nur, dass es Festivals killt und Uraufführungen ins Internet verbannt, jetzt löst es auch noch eine Art Schein-Schlafkrankheit aus. Im neuen kainkollektiv-Stück, das für die diesjährigen Ruhrfestspiele gedacht war und nun als überwiegend vorproduzierter Graphic-Novel-, Video- und Zoom-Mix auf YouTube Premiere hatte, beschließen alle Kinder der Welt, sich auf unabsehbare Zeit schlafend zu stellen. Sie haben keine Lust, die Fadenspiele der Erwachsenen weiterzuspinnen, die die Generationen und Länder verbinden. Sie entziehen sich, vielleicht, um die Erwachsenen zur Vernunft zu bringen.

Einswerden mit der Natur?

Wer dabei an Erich Kästners "Konferenz der Tiere" denkt, bei der Kinder und Tiere gemeinsame Sache machen, um den "Großen" das Kriegführen und Töten abzuerziehen, der liegt gar nicht so falsch. In einer kämpferisch fröhlichen Volte im Epilog des Stückes erst wird klar, was das diesmal ausschließlich weibliche Kollektiv mit dem Begriff Cyborg meint: keine Automatenmenschen, keine künstlichen Implantate, sondern das Einssein mit der Natur. "Sich verschwistern mit der Schöpfung", sich sogar Schmetterlings-DNA spritzen lassen in der Hoffnung, dass die eigenen Kinder Schmetterlingsmenschen werden: klingt völlig naiv und ist es auch, passt aber zur überdreht-optimistischen Schlussnote des "GAIA-Projekts" mit dazugehörigem Hashtag-Gewitter im Abspann. #FuckPatriarchy, #FuckRacism, #LeaveNoSpeciesBehind, #BlackLivesMatter, #NormalityIsALie – da ist für jede Aktivistin etwas dabei.

GAIA 1 560 SarahBigdeliShamloo u© kainkollektiv / SarahBigdeliShamloo

Zum Glück ist das Stück so verspielt und verhandelt seine Themen so selbstironisch, dass weder plakative Parolen noch eine gelegentliche Neigung zum Esoterischen der klugen Reflexion allzu sehr im Wege stehen. In Videosequenzen betrachten Künstlerinnen aus sechs Ländern – Tänzerin, Schauspielerin, Dirigentin, Sängerin, Zeichnerin, Autorin, Regisseurin – ihre Frauen- und Mutterrollen, berichten in drei Sprachen, in Wort, Bild und Ton, wie viel Selbstverleugnung und -verbiegung nötig ist, um den eigenen und fremden Ansprüchen gerecht zu werden, und befragen sich gegenseitig per Zoom-Konferenz – die einzigen Sequenzen mit Live-Charakter. Mit Theater hat das nur teilweise zu tun, mit Oper im engen Sinne gar nichts, aber die mit Graphic-Novel-Elementen durchwobenen Bilder entfalten ihre eigene Poesie.

Gaia2Mix aus Zoom und Graphic Novel © Screenshot

Lebens- und Todesgöttinnen

Neben Gaia werden noch weitere Erd- und Urmütter, Fruchtbarkeits-, Lebens- und Todesgöttinnen als Zeuginnen aufgerufen, um jahrtausendealte Weiblichkeitsklischees zu belegen; die Frauen des "GAIA-Projekts" fühlen sich angezogen und abgestoßen, genervt und fasziniert davon. Sie verkleiden und verfremden sich vor der Kamera mit bizarren, knallbunten Kostümen, übermalen und überzeichnen den weiblichen Körper, hüllen ihn in Schleier, Schmuck und Tüll – und kontrastieren diese schwelgerische, spielerische Üppigkeit mit dürren, bitteren, zornigen Worten über selbsterlebten Sexismus und Rassismus, über Ängste und Überforderung und nie erfüllte Wünsche. Diese Kontraste machen die eigentliche Stärke des Stückes aus.

Gaia3© Screenshot

Versöhnliche Zukunft

Die Schlusssequenz beginnt mit einer unoriginellen Tirade gegen Ödipus- und Marienkomplexe und ist insgesamt eher leichtgewichtig, aber in Corona-Zeiten tut ein optimistisches Ende ja ganz gut. Und die schlafenden Kinder überlegen es sich noch mal, ob sie nicht doch lieber aufwachen, das Virus überwinden und den Faden weiterspinnen wollen.

GAIA-Projekt – eine Cyborg-Oper
vom kainkollektiv
Regie: Mirjam Schmuck
Von und mit: Silvia Dierkes, Catherine Jodoin, Edith Nana Tchuninang Voges, Vanessa Chartrand-Rodrigue, Mirjam Schmuck, Sabrina Bohl, Sara Bigdeli Shamloo, Kerstin Pohle, Bianca Künzel, Zdravka Ivandija Kirigin, Hannah Busch.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten
Premiere online: 27. Juni 2020, letzte Aufführungen auf YouTube: 1. und 2. Juli, jeweils 20 Uhr
Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen und dem Theater Aufbau Kreuzberg (tak) Berlin

https://kainkollektiv.de

 

Kritikenrundschau

 "Ein assoziationsreiches, mäanderndes, filmisches Werk“ hat Christoph Ohrem erlebt, wie er auf Deutschlandfunk Kultur (27.6.2020) sagt. Das Online-Projekt komme eher wie ein Theater-Film daher – mehr Live-Elemente wären schön gewesen. Dabei würden durchaus "große Dinge zitiert, große Bilder aufgerufen, kulturelles Wissen abgefragt." Die stärksten Momente seien die, in denen die Performerinnen auf intime Art und Weise Weiblichkeit und feministische Diskurse reflektieren: Die Schilderung eigener Geburtserfahrungen oder der eigenen Erwartungen, wie eine Mutter zu sein habe, gehörten zu den stärksten, berührendsten Momenten. 

Der Abend frage, wie sich Künstlerinnen- und Mutter-Dasein verbinden lassen, so Christiane Enkeler auf SWR 2 (29.6.2020). Die Erwartungen an Frauen, über Generationen gefestigt, würden hinterfragt, ihre Selbstbilder durch Darstellung auf den Prüfstand gestellt. "Neben allem Aktivismus und politischem Statement" enthalte der Abend "große Poesie." Das Ziel sei es, "ein anderes Denken auszuprobieren".

"Eine verspielte. bunte, mitreißende und klug gedachte Inszenierung über weibliche Kräfte, die es zu bündeln gilt", so charakterisiert Dorothea Marcus auf WDR 5 (29.6.2020) den Abend. "Das sollte sich jede Frau angucken."

Kommentare  
GAIA, kainkollektiv: unruhig bleiben
Hallo Frauke Adrian, Nachtkritik- Leser*innen,
ich habe dieses Stück ganz anders empfunden, auch in Anbetracht Donna Haraways "Unruhig bleiben! Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän" (Duke University Press, 2016), das mit Grundlage des Stückes ist.

So ist es kein Spielen mit Frauenbildern und -klischees. Es geht darum, die Absurdität spürbar werden zu lassen, die gesellschaftlich auferlegte Rollenbilder (Frau, Mutter,...) mit sich bringen, wie sie die Individuen in Zweifel stürzen, sodass sie die Freiheit über sich selbst verlieren. Sie werden zu zappelnden Fliegen, in einem Netz. Gefangen.

Es geht demnach auch nicht um das Einswerden mit der Natur. Viel mehr noch soll es ein Aufdecken sein. Aufdecken, wie Instituionen, die Gesellschaft, Sexismen, Rassismen, kapitalistische Strukturen,[...], und nicht zu letzt auch der Lock- Down, der Umgang mit Regelungen in Zeiten der Corona- Krise, Natur bestimmen/ etwas zu Natürlichem machen. Individuen in ihre Identität einweisen, ihnen die Freiheit der Mitgestaltung rauben, ihren Körper konstruieren, sie entmächtigen, sie de-naturalisieren, in dem sie re-naturalisieren.
Diese Freiheit wiederzuerlangen, diese Macht über die eigene Identität, den eigenen Körper, das eigene Handeln, hat Haraway in ihrem "Cyborg- Manifest" möglich gemacht, durch die Entwerfung einer Cyborg- Theorie.

"Die Metaphorik der Cyborgs kann uns einen Weg aus dem Labyrinth der Dualismen weisen, in dem wir uns unsere Körper und Werkzeuge erklärt haben. Dies ist kein Traum einer gemeinsamen Sprache, sondern einer mächtigen, ungläubigen Vielzüngigkeit. Es ist eine mögliche Imagination einer Feministin, die in Zungen redet und dabei scharfzüngig genug ist, den Schaltkreisen der Superretter der Neuen Rechten Angst einzuflößen. Das bedeutet zugleich den Aufbau wie die Zerstörung von Maschinen, Identitäten, Kategorien, Verhältnissen, Räumen und Geschichten. Wenn auch beide in einem rituellen Tanz verbunden sind, wäre ich lieber eine Cyborg als eine Göttin." (aus: "A Cyborg- Manifesto" von Donna Haraway, erschienen in Socialist Review, 1985).

In GAIA sind die Darsteller*innen und Künstler*innen dabei ihren eigenen Cyborg zu entwerfen. Sie wählen die Form und das Aussehen ihres Körpers durch verschiedene Masken, Köstüme, Bewegungen, Musiken und Filmsequenzen. Sie konstruieren ihre eigene Identität, in dem sie ihre Geschichten erzählen - und zwar in ihrer selbstgewählten Weise, in ihrer Sprache. Und ja, deshalb ist es ein Theater, es ist ein Film, es ist eine Oper. Es ist alles zu gleich.

Doch vor allen Dingen schafft das kainkollektiv hier einen Raum. Einen Raum, den wir so noch nicht kennen, der aber immer mehr Teil unseres Alltags geworden ist und stetig wird. Mitunter auch verstärkt durch Digitalisierung, Zoom- Arbeitstreffen. Die binären Räume des Öffentlichen und Privaten verschieben sich, öffnen und schließen sich. Eine Mutter muss manchmal gleichzeitig Arbeitende, Mutter, Lebensparter*in - eine Superheld*in sein. Das ist herausfordernd. Aber auch eine Möglichkeit!

GAIA erschafft einen Raum, mit anderer Zeitlichkeit, in der das Entwerfen und Wirklich- Werden eines Cyborgs möglich werden kann. Alte Räume, alte Netze werden zerstört - wie Haraway schon schrieb - damit wir, aber vor allen Dingen unsere Kinder (die Kinder, dieser darstellenden Cyborg- Mütter) neue Netze spinnen können oder alte Netze umstricken, sie neu verbinden, sie zerschneiden, dekorieren können. Damit jede*r - insbesondere Kinder - die Möglichkeit haben, in einer nicht vorgerfertigten Welt zu leben, mitgestalten können. Es ist ein Beitrag zu einer gerechteren Welt.

Das kainkollektiv zeigt mit GAIA - auch insbesondere durch die Corona- Krise aufkommenden neuen Möglichkeiten - wie notwendig, überfällig, aber auch möglich das sein kann. Eine Zukunft, in der ich leben möchte. Aber eine versönliche keinesfalls. Es geht ums zerstören, sich befreien, ums Unruhig beleiben. Und das ist in jeder dieser Cyborg- Oper Sequenz spürbar.
GAIA-Projekt, kainkollektiv: Links
Vor den weiteren Online-Vorstellungen des GAIA Projektes von kainkollektiv heute und morgen um jeweils 20 Uhr hier eine Auswahl aus den zahlreichen Pressestimmen zu der Produktion:

Kulturkenner, 01.07.2020
https://kulturkenner.de/events/das-kainkollektiv-und-die-ruhrfestspiele-prasentieren-das-gaia-projekt-online

Deutschlandfunk, Kultur heute, 28.6. (Christiane Enkeler):
https://www.deutschlandfunk.de/kultur-heute.690.de.html

SWR2, SWR2 am Morgen, 29.6. (Christiane Enkeler):
https://www.swr.de/swr2/buehne/premiere-der-frauen-cyborg-oper-gaia-projekt-bei-den-ruhrfestspielen-100.html

WDR 5, Scala, 29.6. (Dorothea Marcus)
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-scala-buehne/audio-premiere-im-netz-gaia-projekt-eine-cyborg-oper-100.html

WDR 3 Tonart (inkl. Interview mit Mirjam Schmuck), 26.6.: https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-tonart/audio-gaia---eine-cyborg-oper-100.html

Deutschlandfunk Kultur Fazit, Samstag, 27.6. (Christoph Ohrem):
https://www.deutschlandfunkkultur.de/cyborg-oper-der-ruhrfestspiele-die-antike-und-die-ferne.1013.de.html?dram:article_id=479468

WDR 3 Mosaik, 29.6. (Christoph Ohrem):
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-mosaik/audio-ruhrfestspiele-mit-cyborg-oper-100.html

WAZ, Britta Heidemann, 28.06.2020
https://www.waz.de/kultur/ruhrfestspiele-zeigt-das-virtuelle-gaia-projekt-id229405522.html

➡️How to watch it?
You can watch the performances on YouTube.July 1st, 8pm: https://www.youtube.com/watch?v=5Is1Pngms1g&feature=youtu.be

July 2nd, 8pm: https://www.youtube.com/watch?v=-kry7ISBXYc&feature=youtu.be

There will be also a talk after each performance on zoom. The Link to the room will be in the video Info in YouTube.

Ruhrfestspiele Recklinghausen

Tak Theater Aufbau Kreuzberg

www.kainkollektiv.de

#gaia #kainkollektiv #ruhrfestspiele2020 #freiszene #digitaltheater #digitaltheatre
GAIA, kainkollektiv: ein weiterer Faden
Auch ich habe mich im Rahmen eines kleinen Überblickstextes über 4 feministische Online-Theaterprojekte in Zeiten von Corona mit dem wunderbaren GAIA-Projekt beschäftigt:

https://affective-societies.de/2020/zeitgenossenschaft/theater-in-zeiten-von-corona-ii-female-worldmaking/
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