nachtkritikstream - Die Theater-Videoserie "Spielplanänderung" von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (mit Nachgespräch)
"Spielplanänderung" von der FAZ
9. November 2020. Mit der Serie "Spielplanänderung" hat der Theaterredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Simon Strauß eine Debatte in Gang gesetzt: über die Dominanz von Klassikern auf Theater-Spielplänen, die vermeintliche oder tatsächliche Verengung des Kanons auf wenige Leuchttürme wie Shakespeare, Goethe, Schiller oder Tschechow.
Diverse Künstler*innen, Journalist*innen und Kulturscharschaffende brachen eine Lanze für aus ihrer Sicht zu Unrecht vergessene Stücke. Der Serie startete im Januar 2019 im FAZ-Feuilleton, kam in diesem Jahr als Buch heraus und wird nunmehr mit einer Videoreihe und einer Veranstaltung an der Berliner Volksbühne fortgesetzt.
Im nachtkritikstream präsentieren wir bis heute Abend um 22 Uhr die ersten vier Videos der FAZ-Theaterserie und wollen zugleich die Debatte in einem Kritiker*innengespräch heute um 20 Uhr aufgreifen. Simon Strauß kommt zum Zoom-Gespräch mit den nachtkritik-Redeakteur*innen Simone Kaempf und Janis El-Bira. Wer dem Talk mit Fragen beitreten und im Ansschlussgespräch mitdiskutieren will, ist im Zoom-Webinar herzlich willkommen.
Das Gespräch vom 9.11. zum Nachschauen
Die einzelnen Beiträge der von Florian Hofmann mitverantworteten Video-Serie werden von Charlotte Bernstorff, Kevin Hanschke und Simon Strauß redaktionell betreut und moderiert. Zu sehen sind Filme zu den Stücken "Glaube und Heimat" von Karl Schönherr, "Der Dibbuk" von Salomon Ansky, "Gabriel" von George Sand und "Automatenbüffet" von Anna Gmeyner. Im Intro-Film werden die Macher*innen ihren Ansatz vorstellen.
Im Auftakttext zur FAZ-Serie "Spielpanänderung" vom 11. Januar 2019 schreibt Simon Strauß:
Nehmen wir an, wir könnten einen Spielplan frei bestimmen, ohne auf Zuschauerzahlen, Besetzungszwänge oder wohlfeile Spielzeitmotti zu achten. Das einzige Kriterium wäre, dass er ausgefallen literarisch sein müsste, sich distinkt unterscheiden von den "Altprogrammen" mit ihren "Woyzecks", "Macbeths" und "Handlungsreisenden". (…)
Was könnte man also spielen? Das ist die Ausgangsfrage einer Serie, die im Laufe des neuen Jahres den Versuch unternehmen will, zu Unrecht vergessene Theaterstücke, die sich zur Aufführung in einem Theater der Gegenwart eignen, ausfindig zu machen und vorzustellen. Es geht dabei nicht um Kuriositäten, um Abseitiges und Traditionsverfangenes, sondern um – nach unserer Ansicht – zentrale Werke, die in den Kanon und auf die Bühnen gehören, weil sie unserer Zeit etwas zu sagen und ästhetisch Aufregendes zu bieten haben.
Spielplanänderung: Die Theater-Videoserie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Ein Projekt von Simon Strauß und Florian Hofmann
Produktion, Kamera und Schnitt: Florian Hofmann, Redaktion und Hosts: Charlotte Bernstorff, Kevin Hanschke und Simon Strauß.
Schauspiel: Jonathan Berlin, Marie Domnig, Konstantin Gries, Marcel Herrnsdorf, Anna Platen, Jeff Wilbusch und Julia Windischbauer. Mit: Nehle Balkhausen, Deborah Feldman, Barbara Frey, Annabelle Hirsch, Andreas Karlaganis, Laura Laabs, Nina Queer, Sasha Marianna Salzmann, Antonio Sola Santiago, Zino Wey.
Mit Videomaterial von "Automatenbüffet" am Burgtheater Wien, "Glaube und Heimat" am Berliner Ensemble, "Der Dibuk" des National Center for Jewish Film (NCJF) und "unorthodox" von Netflix.
Mit freundlicher Unterstützung des Tropen-Verlags, National Center for Jewish Film (NCJF) und SC Lurich.
www.faz.net
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(Werter Chris, nein, bezahlte Werbung ist das nicht. Sonst wäre das deutlich ausgewiesen. Uns interessiert die Debatte, die die #Spielplanänderung anstoßen will, deshalb gibt es dazu auch ein Zoom-Gespräch um 20 Uhr. Und uns interessiert die Videoserie als Versuch, theaterkritische Positionen ins Bewegtbild zu bringen. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
So weit ich recherchieren konnte, gibt es keine integrale Übersetzung des Stücks GABRIEL von George Sand ins Deutsche.
Durch Annabelle Hirsch darauf aufmerksam geworden habe ich eine angefertigt. Wer Lust hat, sie zu lesen, kann sie beim Rowohlt-Verlag anfordern. Viel Spaß!
1. Ich finde auch, dass das eine sehr anregende Kritiker-Interaktion war und das so etwas sowohl einer weiterführenden Kritik als kulturjournalistischer Disziplin dienlich ist, als auch ein Stachel im Fleisch einer Literaturwissenschaft sein kann, die in der Tat sich gern etwas modisch verhält und damit ihren Fokus, was Theatertexte anlangt, immer mehr verengt. Was insbesondere der Dramatik nicht gut tut.
2. Ich mochte und mag uneingeschränkt die Leidenschaftlichkeit und Originalität mit der Simon Strauss als Berufs-Theaterzuschauer seinen persönlichen Neigungen folgt und versucht, ganz konsequent zu klären, was ihm im Theater seiner Zeit fehlt. Das so vieles hat, manches bis zum Überdruss, und nach seinem Empfinden trotzdem etwas ausgeschlossen hat. Ohne Not ausgeschlossen hat. Ich finde es bemerkenswert, dass Simon auch unter Kritik seiner KritikerInnen konsequent darauf besteht, dass ihm das zusteht, betroffen Ich zu sagen, wenn ihm etwas am Theater seiner Zeit fehlt. Damit nimmt er die Position des Publikums ein, ohne sich in es hineinzuversetzen. Find ich irgendwie vorbildlich...
3. Für die meisten Hinweise seiner Serie war ich sehr dankbar und vor allem bei „Gabriel“ von George Sand hatte ich schon beim Lesen gewettet, dass das aufgenommen werden wird. (Das Stück ist übrigens – soweit ich erinnere - im Schriftverkehr zwischen George Sand und Gustav Flaubert angelegentlich thematisiert.) Was es so heutig macht, ist m.E. nicht unbedingt der Tatsache geschuldet, dass sich ihm die heutigen Gender-, Identitäts- und Sexualdebatten mit Leichtigkeit ins dramaturgische Bett legen können. Was es auch heute noch heutig macht, ist, dass George Sand hier eine Protagonistin erfunden hat, deren Schmerzen über Fremdbestimmung und deren Lust an souveräner Maskerade, die der Gesellschaft den Zwang, den sie dem Individuum auferlegt, wieder zurückgibt, Sand selbst minutiös genau kannte... Sie hat sich die grundsätzliche Lebenserfahrung ihrer Protagonistin nicht geborgt aus Büchern, Filmen, Dokumenten oder Erzählungen Dritter... Auch Erfindungen von Stoffen gründen - bestenfalls - in Lebenserfahrung des Autors/der Autorin. Und durch genau so etwas entstehen „überzeitliche Berührungsmöglichkeiten“. Und genau solche „überzeitlichen Berührungsmöglichkeiten“ ersehnt das Publikum. Weil es sich dann eingebunden fühlt in seine eigene Geschichte und damit in eine Zukunft. Das heutige Theater kann ihm gewiss viele Berührungsmöglichkeiten bieten – überzeitliche werden ihm jedoch zu selten geboten. Ich vermute: v i e l zu selten.
4. Ich kann aus eigener Schreiberfahrung mit meinem dramaturgischen Willen sagen: Dem Theater mit aller Individualmacht einen Widerstand mit dem dramatischen Text entgegensetzen zu wollen, ist die einzige Entschuldigung dem eigenen Selbsterhaltungstrieb gegenüber, überhaupt Dramatik zu schreiben. Und ja: Dafür ist die Herstellung einer E n t f e r n u n g, der die Nähe zum Heute durch Probieren und nicht durch Konzeptionieren abgerungen (sic!) werden muss, entscheidend. Und nein: Der Widerstand bleibt nicht bestehen, wenn man selbst den eigenen Text inszeniert. Sobald man den Text selbst inszeniert, ist der Widerstand und damit seine Utopie gebrochen.
Pkt.5 bis Ende Fortsetzung
6. Lieber Konstantin Küspert: Ich fand die Perser auch immer toll – aber es hätte mich als Dramatikerin nie gereizt, sie zu überschreiben – Ich wollte einfach eine ANDERE Perspektive – nein, mehrere andere Perspektiven, also meine Perspektive – auf dieselbe Zeit und dieselben Orte und auf die wesentlichen Personen, auch auf die damals – vermutlich aus Gründen - verschwiegenen. Deshalb heißen meine Perser auch „482-Die Perser in Elam“ – sozusagen Xerxes allein zu Haus, zwischen den Kriegen... hat trotzdem niemanden interessiert. Keinen Verlag. Und kein Theater. Und keinen Regisseur. Also sind die seit 2010 unveröffentlicht und ungespielt und bleiben es, bis ein Theater den Mut hat, das zu machen und ein/e weise/r DramaturgIn in einer Leseprobe sagt: Bitteschön, Sie haben das Wort als Welteröffnerin... – Sieht aber so aus, als würde ich das nicht mehr erleben. Nebbich, auch gut.
7. Man kann einer Literaturwissenschaft nicht vorwerfen, dass sie nicht hinreichend Gegenwartsdramatik debattiert (entschuldigung, ich weiß nicht mehr, WER von Euch das genau gesagt/eingebracht hat in die Diskussion?), wenn die Verlage keine Dramatik außerhalb von Theater-Verwertungszusammenhängen (die betonte als Lebensrealität -zurecht, Konstantin) drucken, weiß die Literaturwissenschaft nur von jener Dramatik, die im Hochschulbetrieb selbst produziert wird oder am Theater zumindest uraufgeführt wird.
8. Man kann der Literaturwissenschaft nicht vorwerfen, dass sie nicht die zahlreichen Autoren-Konkurrenzen an den Theatern zum Anlass nimmt, wissenschaftliche Schnellschüsse zu produzieren, weil sie mit dem Text-Auswurf-Tempo des Theaters als Wissenschaft seriös gar nicht mithalten kann... Sie sollte aber auch mal laut sagen, dass sie das auch nicht WILL. Als Wissenschaft, die schließlich auf Seriosität ihrer Untersuchungen und Forschungsergebnisse wert legt.
9. Die wichtige Frage von Christian an Simon: „Welche implizite Form von Kritik an Regie steckt in Deiner Kanonbesichtigung?“ sollte unbedingt festgehalten werden und Thema einer neuen Runde sein. Garantiert sehr ergiebig bei schön offenem Ausgang der Diskussion!!!
Beim nächsten Mal bin ich vielleicht schneller mutig – Gute Nacht
Mir ging es in erster Linie darum das Stück auf die Bühne zu bringen... interessant, daß offensichtlich schon Verlage involviert sind... Ich freue mich natürlich, wenn das Stück und die Autorin endlich auch im deutschsprachigen Raum die nötige Aufmerksamkeit bekommt und würde mich auch freuen, wenn man unserer Pionierarbeit dann ebenso Aufmerksamkeit schenkt - trotz dieser schwierigen Corona-Zeit gerade. Demnächst: in Ihrem Theater!