Die Geschichte vom Fräulein Pollinger – Ödön von Horváths posthum erschienener Romanerstling für die Probebühne der Wiener Josefstadt adaptiert
"... wenn diese Schweinerei in Sarajewo nicht passiert wäre."
von Reinhard Kriechbaum
Wien, 15. Mai 2014. "Oft nützt im Leben der beste Wille nicht", sagt Eugen zu Agnes – ein herzensguter Mensch zu einer jungen Frau, die sich unter normalen Umständen auch nichts vorwerfen lassen müsste. Aber was sind schon normale Umstände, wenn beide nicht die leiseste Aussicht auf abgesicherte Existenz haben in Zeiten der Depresssion?
Die Geschichte vom Fräulein Pollinger ist eine kurze: Sie währt genau "sechsunddreißig Stunden". So der ursprüngliche Titel des Romanerstlings von Ödön von Horváth. Ein halbes Jahrhundert hat es gedauert bis zu seiner Veröffentlichung 1979. Da war der Autor der "Geschichten aus dem Wiener Wald" schon 31 Jahre lang tot.
Liebe mit einem Habenichts?
1928/29 war er schon ganz bei seinem Thema: beim Morast totaler Aussichtslosigkeit, in dem kurz aufleuchtende individuelle Hoffnungen augenblicklich versumpfen. Nicht anders ist es mit Agnes und Eugen. Sie arbeitslose Näherin aus der Oberpfalz, er arbeitsloser Kellner aus Wien. Sie laufen sich zufällig über den Weg in München, eine fast schüchterne, respektvolle, feinfühlige Annäherung, ein unerwarteter Abend im Seelen-Gleichklang: "... dass er nichts Ernstes denkt, sondern an sie", geht ihr durch den Kopf, wenn plötzlich "seine linke Hand auf ihrem linken Knie" liegt.
Was soll sie schon für Selbstwertgefühl haben, muss sie sich doch immer wieder einlassen auf Männer, um zu überleben. Das ist meilenweit weg von Prostitution, ist bloß Überlebensstrategie. Echte Liebe jetzt mit einem Habenichts? Das Fräulein Pollinger hat gelernt, dass die Welt "nach kaufmännischen Regeln" tickt. Und so sitzt sie am nächsten Tag einem Maler als Akt Modell für zwanzig Groschen die Stunde. Abends geht's mit einem Herrn mit Auto an den Starnberger See. Als Abendessen "ein Wienerschnitzel mit Gurkensalat", danach die unvermeidliche Gegenleistung. Der zurückhaltende Eugen wird versetzt vom "Mistvieh".
Unter der Folie des Originals
Auf der Probebühne der Josefstadt ist die kurze "Geschichte vom Fräulein Pollinger" jetzt ein Bühnen-Streiflicht, fast improvisierend belassen als ein Zwitterwesen zwischen Roman und Spiel. Raphaela Möst ist Agnes Pollinger, Matthias Franz Stein übernimmt die Männerrollen. Immer wieder ziehen sich die beiden an einen Lesetisch links oder ein Stehpult rechts zurück, die Geschichte bleibt über Strecken vorgelesenes "Hörbuch". Es werden nicht auf Biegen und Brechen Dialoge destilliert. Schön, dass diese Folie des literarischen Originals drüber gespannt bleibt. Und fein auch, dass Regisseur Fabian Alder sehr genau hinhört auf die vielen Boshaftigkeiten im Text. "Sechsunddreißig Stunden" ist nicht nur ein Sozial-Mikrodrama, sondern auch lustvolle Satire auf das, was aus Österreich und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geworden ist.
Matthias Franz Stein mit seiner recht heutigen Yuppie-Frisur versteht sich aufs breite Wienerisch, und gelegentlich darf er deftig karikieren. Aus dem Maler ist ein Videokünstler geworden, der sein Modell im Opiumrausch an der WC-Schüssel inszeniert: "Jetzt ist es verstörend." Die Romanfiguren landen unaufdringlich im Jetzt, sind deutlich moderner als der Röhren-Radioapparat, das einzige Ausstattungsstück. Die Musik – live-akustisch und -elektronisch – gliedert die Szenen und trägt nicht wenig zur Stimmungsmalerei bei. Und die Musiker müssen schon mal als Träger eines Videoscreens und in einer Szene auch als Text-Vorleser herhalten. Vieles wirkt locker arrangiert und erfreulich wenig bedeutungsschwer.
"Die Geschichte vom Fräulein Pollinger" ist in dieser Fassung eine Theater-Antwort mit Understatement gerade jetzt, wo länderauf-, länderab des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs gedacht wird. Ödön von Horváth war ein solcher "Kriegsjugendlicher": "Wir sind in der glücklichen Lage, glauben zu dürfen, illusionslos leben zu dürfen", schrieb er einmal und wirkt damit wie die Figuren seines ersten Romans. Auch dem eher positiv denkenden Eugen hat ja, so betont er immer wieder, der Krieg einen Strich durch die Karriere-Rechnung gemacht: Nichts da mit Tourismuswirtschaft in Afrika, wo er als Kellner "schon zehn Neger unter sich" hätte, "wenn diese Schweinerei in Sarajewo nicht passiert wäre".
Die Geschichte vom Fräulein Pollinger
von Ödön von Horváth
nach dem Roman "Sechsunddreißig Stunden", Bühnenfassung von Fabian Alder, Raphaela Möst und Barbara Nowotny
Regie: Fabian Alder, Bühnenbild und Kostüme: Armella Müller von Blon, Dramaturgie: Barbara Nowotny.
Mit: Raphaela Möst und Matthias Franz Stein, Musiker: Roman Britschgi, Oliver Roth.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.josefstadt.org
In der Wiener Zeitung (17.5.2014) schreibt Hans Haider, der Regisseur pumpe "in seiner halblustigen Horvátheske die Stationenfolge der wie durch ein Wunder beendeten weiblichen Leidensgeschichte optisch-rhythmisch auf". Wie es "die Mode wünscht", sehe man auch eine Castorf-Szene auf der Videowand. "Den überraschend wandelbaren Darstellern hätte als Regisseur ein schlichter Stichwortbringer gutgetan. Die 'historisch-sozialen Skizzen', die Mann-Frau-Dialoge sind stark genug."
Regisseur Fabian Alder habe aus Horváths posthum erschienenem Roman "Sechsunddreißig Stunden" eine lockere Mischung aus Vortrag und Spiel gefertigt, so Dorian Waller im Standard (21.5.2014). Matthias Franz Stein übernehme mit sichtlicher Darstellungsfreude die männlichen Rollen, das Zentrum der achtzigminütigen Aufführung bleibe aber stets Raphaela Möst. "Die Boshaftigkeiten Horváths bringt das Stück wunderbar zum Funkeln." Fazit: "Nicht jeder Einfall mag dabei zwingend notwendig erscheinen, in Summe tragen sie jedoch zum kurzweiligen Charakter dieser erfreulichen Produktion bei."
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