Occupy History!

8. Oktober 2024. Was war noch mal im letzten Sommer? Im vorletzten Herbst? Die Erinnerung ist ein trickreiches Phänomen: Einerseits subjektiv, eigen und bemerkenswert unzuverlässig, gründen andererseits die großen Erzählungen der Gesellschaft auf ihr. Herbeizwingen lässt sie sich bekanntlich nicht. Gestalten aber schon. 

Von Atif Mohammed Nour Hussein

8. Oktober 2024. Mit dem Schreiben dieser Kolumne habe ich ungewöhnlich spät begonnen. Für die vergangenen habe ich mitunter drei, vier Wochen vorher die ersten Gedanken auf kleine Zettelchen notiert. Die wanderten dann zwischen Schreibtisch und Hosentaschen oder an den Spiegel geklebt so lange hin und her, bis sich irgendein Sinn ergab.

Jetzt sitze ich da und versuche mich zu erinnern, worüber ich schreiben wollte – und ob sich nicht doch schon der Ansatz für eine Idee, für ein Thema irgendwo verborgen haben könnte. Nichts. Ich erinnere mich nicht. Dieser Sommer war zu chaotisch, vollgestopft mit Ereignissen, die, jedes für sich genommen, Anlass genug wären, Berge von Papier zu beschreiben. Was aber war im Sommer des letzten Jahrs? Keine Ahnung … Vergessen. Nein, anders: Ich kann mich nicht erinnern.

Ich könnte jetzt schummeln und Timelines und Chats und Kontoauszüge und was nicht noch durchforsten, um diese übergroße Lücke zu füllen.

Jetzt also ein neuer Herbst. Ein gnadenloser. Wie den letzten Herbst möchte ich ihn, bevor er noch apokalyptischer wird, gleich schon wieder vergessen. Also den großen, den Weltherbst.

Den Schwersinn loswerden

Letzte Woche Freitag, im Theater, während einer zärtlichen Vorstellung von "Lethe daheim", einem "Abend vom Vergessen und Erinnern" von Franziska Dittrich und Luise Bose, wurden wir, das Publikum, gefragt, was wir gerne vergessen wollen würden. Und es gab das Versprechen, uns dabei nach Kräften zu unterstützen. Nichts, war mein erster Impuls. Dann folgten ein paar triviale Gedanken … Andere baten darum, ihre Kindheit oder ihren "Schwersinn" vergessen zu dürfen. Das war ein bemerkenswerter Moment. Es braucht nur eine Sekunde, um daran erinnert zu werden, dass ein Publikum aus einzelnen Personen besteht, dass deren individuelle Erfahrungen ihre Perspektive auf Welt determinieren und dass mitunter kein kollektiver Abgleich möglich ist.

Ein paar Stunden zuvor war ich mit zwei weiteren Zeitzeug*innen im Humboldtforum eingeladen, unsere Erinnerungen mit dem Palast der Republik zu teilen. Titel der Veranstaltung: Erinnerungs(bruch)stücke. Auch das in seiner öffentlichen Intimität ein bemerkenswerter Moment.

Ein neuer Palast

Der erste Redner/Zeitzeuge, Frank Reinecke, ist bildender Künstler. Er wurde 1974 als junger Soldat zum Bau des Palastes abkommandiert, weil er seine Eignung als Grenzsoldat mehrfach öffentlich selbst infrage stellte. Diese Erfahrung wurde zum Fundament seines Lebens. Ein Fundament, das er fortwährend überschreibt, bis zur Unkenntlichkeit überlagert und so einen neuen Palast schafft, der gänzlich andere Wahrheiten birgt. Bei Frank Reinecke sind das die Versuche des Staates (DDR), ihn zuzurichten, der Verrat durch ihm nahestehende Personen, die Ausgrenzung. In der bewussten Konfrontation mit diesen Vergangenheiten baut er sich und uns eine Gegenwart. Und dennoch sind es Wahrheiten, die meine Erlebnisse als Kind und später als jugendlich-leichtfertiger Mensch nicht zertrümmern, aber in einen Kontext setzen – und die durch den Bericht der Kunsthistorikerin Gabi Dolff-Bonekämper einen neuen Überbau erhalten.

Ihr Credo: "Occupy History – Sich nicht von Geschichte besetzen zu lassen, sondern selbst Geschichte zu erzählen". Sie sagt: "Mit der Schließung des Palastes hörte die Zuweisung neuer gesellschaftlicher Werte auf, und seine mögliche Denkmalwerdung wurde unterbrochen." Und zitiert Thomas Flierl, von 2001 bis 2006 Berliner Kultursenator: "Die Entscheidung, den Palast durch Nutzungsentzug vom gesellschaftlichen Wandel auszuschließen und durch Asbestentsorgung zu ruinieren, machte ihn retrospektiv zum Symbol des untergegangenen Staatswesens und suchte bewusst den Konflikt mit den kulturellen Erfahrungen der Ostdeutschen im Umgang mit diesem Gebäude. An die Stelle einer ignorierten kulturellen Erfahrung wurde das tradierte Bild einer idealistischen Vorvergangenheit gestellt: das Schloss."

Labor der Möglichkeiten 

Indem Gabi Dolff-Bonekämper zusammen mit vielen anderen dieser Wirklichkeit widersprach, setzte sie dem Erzwingen, das zu Zerstörende schon während es verschwindet zu vergessen, die Möglichkeit entgegen, diesen auf Unwiederbringlichkeit ausgerichteten Prozess als Transformation zu begreifen. Zu erinnern, dass sie und die anderen letztendlich doch erfolgreich waren, da ihr Wirken eine kulturelle und künstlerische "Zwischenpalastnutzung" der Palastruine (die sie konsequent "Rohbau" nannten) ermöglichte: in den Jahren 2004 und 2005 ein weltweit beachteter Erfolg, der neue erinnernswerte Tatsachen schuf.

Dass da jetzt diese gespenstische Steinhülle des Stadtschlosses – der Residenz Wilhelms II., des letzten deutschen Kaisers und Repräsentanten des Deutschen Imperialismus – steht, kann eine traurige Erkenntnis sein. Auch mag das Ergebnis dieser Verwandlung des alten Palastes der Republik in ein künstlerisches, allen offenstehendes Labor der Möglichkeiten nicht mehr sensuell erlebbar sein. Die Erinnerung an den Prozess allerdings könnte wegweisend wirken. Könnten sich alle, die als Protagonist*innen oder Teilhabende involviert waren, an die Kraft erinnern, die sie diesem Diktat des Vergessens entgegengestellt haben, ließe sich vielleicht auch weiterhin Utopisches denken. Vielleicht wieder nur "Zwischennutzungskonzepte".

Nahrung, Behausung, Bildung, Kunst

Entstehen unsere Erinnerungen nur aus Abgeschlossenem, nur aus Dingen und Tatsachen, derer wir uns irgendwie entledigt haben? Nur aus einem Das-war-mal, Das-kommt-nie-wieder? Eine Merkwürdigkeit in der Rhetorik von Entscheider*innen scheint doch zu sein, dass sie immerzu Planungssicherheit verlangen und gleichzeitig geschichts- und zukunftsvergessen immer wieder chaotische Zustände erschaffen. Chaos, aus dem nichts Neues, Gutes, Lebens- und Erinnernswertes mehr entstehen kann, nur Zerstörung.

Was wir tatsächlich brauchen, ist doch Nahrung, Behausung, Bildung, Kunst. In der Reihenfolge, aber gleichbedeutend. Dass diese basalen Notwendigkeiten das einzig zu Erinnernde sind, sollten wir vielleicht nicht stetig versuchen zu vergessen. Dafür brauche ich auch den vorletzten Sommer nicht mehr …

Kolumne: Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein ist Regisseur und Puppenbauer. In seiner Kolumne stöbert er zwischen Verschobenem und Ablagerungen im Überbau.

Kommentare  
Kolumne "Occupy History": Kunst brauchen
FESTgelegte (und festlegbare) Reihenfolgen reihen Dinge nebeneinander, die eben NICHT gleichbedeutend sind.
Wirklich gleichbedeutende Dinge kann man beliebig aufzählen und ihre memorierenden Aneinanderreihungen nach etwa musikalischen, rhythmischen, optischen Gesichtspunkten bilden, was dann, z.B. in der Literatur, Kunst sein kann.
Ja, wir brauchen als Menschen Nahrung zum Lebenserhalt. Ja, wir brauchen Behausung zu einem menschenwürdigen Lebensgefühl. Ja, wir brauchen Bildung - z.B. um lernen, zu können, was wir als Menschen brauchen. Ja, wir brauchen Kunst - z.B. um erinnert zu werden daran, was der Mensch undoder das Menschliche ist. Im Übrigen brauchen wir als Menschen auch Menschen! Wir brauchen sie näher oder ferner, aber wir brauchen sie als Regulativ unserer eigenen Menschlichkeit und auch zur eigenen Reifung an der beständigen Auseinandersetzung zwischen Ich und Gesellschaft aus x-Ichs...
Wir brauchen Frieden, um menschenwürdig an unseren Lebenserhalt durch Nahrungsaufnahme denken und arbeiten zu können, Frieden, um unsere Behausungen so gestalten zu können, dass ein Menschen würdiges Lebensgefühl uns sicher ist. Wir brauchen Bildung, um uns als Menschen in der Schöpfung ihrer würdig verorten zu können. Frieden, um Kunst genießen undoder machen zu können. Und manche von uns BRAUCHEN Kunst, weil sie das Gefühl haben, dass sie ohne Kunst nicht menschenwürdig leben können. Die Mehrzahl der Menschen braucht aber Kunst nicht, weil sie nicht das Gefühl haben, ohne Kunst nicht leben zu können... Den Luxus des Gefühls, Kunst zu brauchen zum Überleben, gleichwertig neben Nahrung und Behausung und Bildung, muss man sich eben erst einmal leisten können-

Wie so oft von Atif Mohammed Nour Hussein eine berührend anregende und dem Thema Theater würdige Kolumne. Danke.
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