In den Lücken pulsiert das Leben

29. März 2023. Samuel Finzi hat seine Memoiren vorgelegt. Zumindest einen ersten Teil. Es geht um Kindheit und Jugend des Schauspielers, der mit Regisseur Dimiter Gotscheff brillierte, an der Volksbühne spielte und heute vor allem Film und Fernsehen macht. Das Heranwachsen im sozialistischen Bulgarien, die erste Liebe, der Aufbruch nach Deutschland: wenig Show, viel Erlebtes.

Von Christian Rakow

29. März 2023. Er war der Mann, der aus dem Nebel kam. Und der den Nebel förmlich durch sich hindurchströmen ließ. In einem zu großen Sakko über zu hängenden Schultern. Alles an ihm war flüchtig, war schon vorüber, schon ausgezehrt, schon abgelebt. Nur seine warme, immer leicht singende Stimme, die wollte mit uns verweilen, mit seinen Zuschauern, während wir den Mann mit letzten Taschenspielertricks wieder entschwinden sahen. Iwanow war das, 2005 an der Berliner Volksbühne. Samuel Finzi für die Ewigkeit. Bei Regisseur Dimiter Gotscheff, dem Regisseur seines Lebens.

In der Gotscheff-Familie

In diesen Tagen sieht man Finzi auf Fotos neben John Malkovich. Die beiden haben gerade den Streifen "Seneca" abgedreht. Wie Finzi jetzt überhaupt viel in Film und Fernsehen stattfindet, 2019 moderierte er die Gala der Berlinale. Im Theater vermisst man ihn. Dort, wo er Teil der unvergleichlichen Gotscheff-Familie war, mit einer Partnerin wie Almut Zilcher und natürlich Edel-Spezi Wolfram Koch, wo sie zusammen ihr entkerntes, puristisches, durch und durch ungeschütztes Spiel auf praktisch leeren Bühnen entwickelten, voll melancholischem Witz, voll Weisheit, mit dem Rücken zur Welt und mit der Stirn. Wie es Eulen können. In Düsseldorf, in Hamburg und in Bochum waren sie (während der legendär kurzen, wilden Haußmann-Intendanz) und immer wieder bis zu Gotscheffs Tod 2013 in Berlin, am Deutschen Theater und eben an der Volksbühne. 

Cover FinziSamuel Finzi © Rafaela Pröll

Jetzt hat Finzi im Ullstein-Verlag Memoiren vorgelegt, einen ersten Teil zumindest. Denn wie der Titel leise andeutet, geht es in "Samuels Buch" vor allem um Kindheit und Jugend, also um Samuel, den Knaben, "Sancho" genannt, Spross einer jüdischen Familie, sein Vater selbst ein führender Schauspieler Bulgariens, seine Mutter renommierte Pianistin. Es geht um das Heranwachsen in Sofia, um Samuels Zeit auf der sozialistischen Eliteschule, deren Schirmherrin Ljudmilla Schiwkowa war, die Tochter des bulgarischen Staatsoberhaupts, die später bei einem mysteriösen Unfall verstarb. Es geht um erste unschuldige Liebschaften, erste Besuche im Westen bei Verwandten in Paris und um eine Klassenfahrt nach Griechenland, ein "Rendezvous mit dem Kapitalismus", wo die Pubertierenden heimlich ein Pornokino aufsuchen.

Erstaunlich wenig geht es um Theater. Benno Bessons 1975er Shakespeare-Produktion in Sofia "Wie es euch gefällt" wird gestreift, vor allem weil Samuel als Neunjähriger dort die "tiefe, warme männliche Stimme" des Übersetzers bemerkt, der ein paar Tage darauf mit Vater in seiner Küche hockt und sich ihm als "Mitko" vorstellt: "Viel später wurde dieser Mitko einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, auf der Bühne und darüber hinaus. Jahrelang sah ich zu, wie seine Mähne grau und grauer und schließlich silbern wurde. Der Mann in der Küche war der Regisseur Dimiter Gotscheff." Ein anderer Regisseur, der Finzi im Jahr 1989 nach Deutschland holt, womit das Buch endet, bleibt hingegen namenlos erwähnt: Es war Ivan Stanev, wie man sich anderswo anlesen muss. Wer nach einem Who is Who sucht oder nach launigen Anekdoten aus der Künstlerwelt, wird in diesem Buch nicht fündig.

Emilia, die erste

Als "autobiographischen Roman" bezeichnet Finzi seine Erinnerungen im Untertitel. Und das meint wohl weniger eine belletristische Fabulierfreude oder einen Grenzgang zwischen Dichtung und Wahrheit, als vielmehr eine gewisse Vorsicht gegen das Gedächtnis für die eigene Biographie, die Finzi behutsam und in bewusst offenen Episoden und kleinen Momenten nachzeichnet. "Aber habe ich sie jemals geküsst? Ich müsste es eigentlich wissen. War ich nicht mutig genug? Hätte ich's denn sein müssen, mit dreizehn? Oder war ich schon vierzehn?", schreibt Finzi über seine erste Liebe, Emilia, die er auf besagter Eliteschule kennenlernte. Einprägsamer als die körperliche Erfahrung sind dem Schreiber die äußeren Umstände: wie Emilia stets von einem Chauffeur mit schwarzer Limousine kutschiert wurde, wie immer eine von Emilias Freundinnen quasi als Anstandsdame die beiden auf Spaziergängen begleitete, wie sich ein Kindergeburtstag bei Emilia wie ein "Staatsempfang" anfühlte. Sie war die Enkelin von Staatsoberhaupt Todor Schiwkow.

Cover FinziDas Coverfoto des Buches zeigt Samuel Finzi beim Kopfstand umringt von jungen Menschen in Sommerkleidung, Freundinnen und Freunden womöglich. Das Bild ist auf den Kopf gedreht, sodass es ausschaut, als balanciere Finzi den Erdboden auf seinem Haupt – halb Klassenclown, halb ein Atlas, der die Welt schultern möchte. In seiner Erzählung selbst nimmt sich Finzi dagegen weit zurück, macht nirgends groß Aufhebens. Nicht um sich, nicht um das Künstlermilieu seiner Eltern, nicht um antisemitische Erfahrungen zu Schulzeiten, nicht um den staatlichen Verdacht, dem er als Kind von gehobener bürgerlicher Herkunft ausgesetzt war. Schon gar nicht um Schauspielerfahrungen, die er sich irgendwann in einer Jugendtheatergruppe erwarb, und nicht um seine Improvisation zu Wehrdienstzeiten, als er sich depressiv stellte, um in eine erträglichere Kompanie versetzt zu werden. Das Buch ist Understatement pur. Alles wirkt leicht hin schraffiert, nichts groß ausgedeutet, nichts auf "Oh schau, da sieht man schon den kommenden Künstler!" angelegt. Eigentlich ziemlich "normalo"; für einen Menschen mit Ostblockherkunft kommen Heimatgefühle auf.

Der Aufbruch nach Deutschland

Irgendwann mit Dreiundzwanzig steht der Aufbruch nach Deutschland bevor. "Meine Kenntnisse der deutschen Sprache waren bis dahin begrenzt", schreibt Finzi. "Neben dem scheinbar sehr wichtigen Wort 'endlich', das ich im Pornokino in Athen gelernt hatte, kannte ich nur noch 'bitte schön' und 'danke schön'. Das hatte ich von DDR-Touristen am Schwarzen Meer aufgeschnappt." Und dann erinnert sich Finzi, wie er im Schauspielstudium mit den wenigen Vokabeln einen Deutschen mimte, der sich von einem Masseur im türkischen Bad durchkneten ließ: "Bitte schön", "danke schön", bis er vor lauter Schmerz zu singen anfing: "Oh, Tannenbaum". Da sieht man für Momente schon die 90er Jahre und die Volksbühne und die ganze lässige Skurrilität vor sich. Aber Finzi nüchtert die Szene sogleich aus: "Nicht im Mindesten ahnte ich, dass ich sehr bald mein Leben unter diesen Menschen verbringen würde, über die ich mich lustig machte", beschließt er seine Erinnerung und eigentlich auch das Buch. Prosaisch geradezu. Es ist fast wie auf der Bühne: Kein Wort zu viel, keine Requisiten, nur ein Fingerzeig. Und in den Lücken pulsiert das Leben.

 

Samuels Buch. Ein autobiographischer Roman
von Samuel Finzi
Ullstein Buchverlage, 224 Seiten

 

 

 

Kommentare  
Samuel Finzi: Verkehrt im Kopfstand
Bei der Auswahl des Coverfotos hat Finzi bestimmt an "Kommt ein Pferd in die Bar" gedacht. In dem Stück spielt er einen abgewrackten, jüdischen Alleinunterhalter, der irgendwann erzählt, dass er als Kind immer den ganzen Tag auf den Händen gelaufen ist, weil das die einzige Möglichkeit war, seine Mutter, eine Überlebende der Shoa, zum Lachen zu bringen. Finzi macht das dann auch vor und filmt sich dabei selbst verkehrt herum, im Video sieht man ihn live und das Publikum auf dem Kopf stehend- genau wie auf dem Foto aus seiner Jugend. Die Aufführung läuft schon im fünften Jahr am DT in Berlin. Was Finzi da spielt, wie er sein ganzes Inneres an diesem Abend verschenkt, schwarzen Abgründe der Verzweiflung, immer komisch, immer tänzerisch, eine solche erotische Verführungskunst mitten hinein in die Hölle des Menschseins, so virtuos, so schön, das ist eine Sternstunde der Schauspielkunst. Wer es noch nicht gesehen hat: unbedingt anschauen, falls es noch läuft! https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=15719&Itemid=100190
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