Blog - Empathie-Schulung, konkrete Hilfe oder Flagge zeigen: Wie die Theater sich in der Flüchtlingsdebatte positionieren
Ist das noch Kunst oder ist das schon Sozialarbeit?
Berlin, 2. September 2015. Leide wie ein Flüchtling! Ruft das Bochumer Schauspielhaus und stellt auf seinem Gelände ab heute einen LKW auf, in den das Publikum sich zusammenpferchen darf. Anlass ist der tragische Fund eines Lasters mit 71 Leichen Ende August in Österreich. Am Tag nach dem Unglück habe das Theater ein Anruf des Spediteurs Gerard Graf erreicht, der in seinem Fuhrpark einen LKW des gleichen Typs besitze, verkündet es in einer Pressemitteilung: "Gerard Graf war so schockiert und betroffen, dass er sich mit der Bitte an das Schauspielhaus Bochum wandte, eine Aktion in die Wege zu leiten, die nachvollziehbar macht, was Menschen bereit sind für ein Leben in Sicherheit in Kauf zu nehmen."
Es geht hier um ein Thema, das momentan nur auf der Ebene der medialen Inszenierung debattiert wird; im wirklichen Leben stehen praktische Hilfsbereitschaft und praktischer Fremdenhass einander unversöhnlich gegenüber. Ist es in dieser gesellschaftlichen Situation weiterführend, das Thema derart emotionalisierend anzupacken? Er wolle die Aktion ausdrücklich nicht als Inszenierung oder Kunst verstanden wissen, sagt der leitende Dramaturg des Bochumer Schauspielhauses Olaf Kröck dem Spiegel: Sie sei humanitär motiviert.
Das passt zu dem, was Trendsetter Matthias Lilienthal im Mai im Rahmen eines Podiumsgesprächs bei der Konferenz "Theater und Netz" zum Thema "Artivismus" in die Runde flapste: "Gute Sozialarbeit ist mir lieber als schlechte Kunst."
Vielerorts ist das Theater gerade bereit, seinen Kunst-Nimbus abzulegen, um sich im Real-Getümmel zu bewähren, notfalls mit boulevardesker Gewalt. Aber auch unaufgeregt, so wie in der Dresdner Gartenstadt Hellerau, die mit ihrem Festspielhaus ein traditioneller Ort der Avantgarde ist.
Das bekommt in Pegida-Dresden eine neue Bedeutung, wo es avantgardistisch ist, sich als Ort der Willkommenskultur zu präsentieren, wie es der Festspielhaus-Hellerau-Intendant Dieter Jaenicke tut. Er hat die Räume seines Theaters teilweise zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert. Eine syrische Familie lebt bereits in Hellerau, weitere Geflüchtete sollen aufgenommen werden, wenn es nach Jaenicke geht. Dem Berliner Tagesspiegel sagte er, er wolle ein "positives Modell" schaffen, und: "Wir haben von Anfang an die Position vertreten: Wir wollen das Thema nicht nur intellektuell und künstlerisch verarbeiten, sondern selber konkrete Angebote machen."
Im Interview mit dem Berliner Tagesspiegel sagt die Intendantin des Maxim Gorki-Theaters Shermin Langhoff: "Was wir als Theater ganz praktisch leisten können und leisten, ist Visa-Anträge zu stellen, Arbeitserlaubnisse einzuholen, eben Hürden nicht zu scheuen als Institution. Wir können Flüchtlingsfamilien in Stücke einladen, mit Einführungsworkshops. Wir können den Refugee Impulse Club und andere Eigeninitiativen unterstützen."
Doch auch abseits solcher eher aktivistischen Ansätze fühlen die Theater sich offenbar bemüßigt, sich des breit diskutierten Themas anzunehmen; jeder nach seiner Façon. Claus Peymanns Berliner Ensemble überschreibt seine Pressemitteilung von heute vormittag in gewohnt großkotzigem Duktus: "Das BE hilft Flüchtlingen“ und kündigt ein Freikartenkontingent für Flüchtlinge, eine Benefiz-Vorstellung und eine Auktion an, macht außerdem darauf aufmerksam, dass auf dem Theater eine Flagge mit der Aufschrift "Wo Häuser brennen, brennen auch Menschen" gehisst worden sei.
Das Theater im sachsen-anhaltischen Eisleben kündigt im Rahmen einer "interkulturellen Woche" eine szenische Lesung von Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen" an. An sich ein alter Hut, wird das Stück doch seit seiner Uraufführung rauf- und runterinszeniert. Aber in Eisleben, dieser einstigen, mittlerweile arg geschrumpften Industriestadt, wo viel typisches Pegida-Klientel zu Hause ist und wo das kleine, immer mal wieder bedrohte Theater sein Programm wacker mit Kleists "Zerbrochenem Krug" und Frayns "Der nackte Wahnsinn" aufrechterhält, ist es schon eine Besonderheit.
"Die Aktualität des Stücks steht außer Frage, wie die Polarisierung unserer Gesellschaft in 'Willkommen-Heißende' und 'Brandsatz-Schmeißende' traurig beweist“" heißt es in der Pressemitteilung des Theaters Eisleben. Der Eintritt zu der Lesung ist frei. Man will das Publikum, unbedingt. Und, das ist die wichtige Gemeinsamkeit all dieser vier Aktionen, die nur wenige von vielen sind: Sie wollen von den Zuschauern nicht wissen: Wie war's? Sondern: Was meint ihr, wie könnte es weitergehen?
Das bedeutet eine Mitverantwortung des Publikums. Und nur, wenn auch wir uns – nicht nur physisch ins Theater, sondern auch gedanklich – auf den Weg machen, ist es möglich, dass sich das Engagement der Theater nicht als Trendstrebertum entpuppt, sondern als Stabilisator, als Wiederermöglicher von Debatten, bestenfalls unter Beteiligung vieler "neuer Deutscher".
(Sophie Diesselhorst)
Mehr zum Thema Theater und Refugees welcome:
- In seiner Kolumne "Experte des Monats" kommentierte Dirk Pilz am 25. August die deutsche Flüchtlingspolitik
-Im Mai 2015 machte Sophie Diesselhorst sich grundsätzliche Gedanken über Das Theater mit den Flüchtlingen
-Im Januar 2015 interviewten Christian Rakow und Sophie Diesselhorst die Dresdner Intendanten Wilfried Schulz und Dieter Jaenicke zu der Frage: Was kann Theater in der Hauptstadt der Pegida ausrichten?
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Eigentlich müßten - der Authentizität wegen - die im Bochumer Lastwagen das originale Flüchtlingsfeeling erprobenden gruselgeilen Zuschauer am Ende allmählich tatsächlich erstickt werden. Nur dann wäre das Authentische dieser Lebenserfahrung wirklich real erfahrbar. (...) Leider kämen die Zuschauer dann um die Currywurst mit Bier in Pappbechern, die vermutlich neben diesem Event-Theater angeboten werden.
Gibt es eigentlich irgendeine Perversion, die von diesen (...) "Theatermacher"-Hirnen als indiskutabel abgelehnt werden könnte? Vermutlich nicht - diese "Künstler" schrecken ja nicht mal mehr vor der Leichenfledderei von tatsächlichen Toten zurück. Die unsäglich aufgeblasene, pseudointellektuelle und präpotente Dummschwätzerei, die sich moralisierend um solche "kritischen""Events" bei der nachtkritik rankt, ist mit dem Ausdruck "spätrömische Dekadenz" nicht einmal annähernd beschrieben.
„Wohin nur wend ich meinen Schritt,
Dem Ekel zu entfliehen?“
Goethe, Tasso
Dazu fällt mir noch ein Format ein, dass sich bereits mit größerem Aufwand an Ähnliches gewagt hat und das nicht minder blauäugig: http://www.zdf.de/auf-der-flucht-das-experiment/auf-der-flucht-das-experiment-28982654.html
Die Idee des Nachvollziehbar-Machens der Situation dieser Personen, die bei der Flucht gestorben sind, finde ich schrecklich. Bereits bestehende Betroffenheit führt dadurch zu einer potentierten Betroffenheit von uns Menschen, die wir priviliegiert sind und dies nicht aushalten können! Wie kann man nur glauben, sich durch soetwas in irgendeiner Form solidarisch zu verhalten?
Ich habe in der Hinsicht nur Unverständnis für den Spediteur und das Schauspiel Bochum übrig.
Zu wünschen wäre, dass es mehr Aktionen vom Schauspielhaus gäbe wie beim Spielzeiteröffnungsfest, bei dem Institutionen und Organisationen, die Flüchtlingen in Bochum bereits helfen, sich vorstellen konnten.
Bilder und Videos unserer kurzen Aktion finden sie über jede Suchmaschine.
Olaf Kröck, Geschäftsführender Dramaturg am Schauspielhaus Bochum
https://myrightisyourright.de/de/home
Auch etliche Berliner Theater (Ballhaus, Gorki, Grips, Schaubühne, Parkaue sind engagiert.
Sehr unterstützenswert!!!
Wie undifferenziert und kurzsichtig. Ist man gar nicht gewöhnt von Ihnen. Da muss Sie ja was richtig getroffen haben. Aber so unrecht hat T. doch gar nicht.
Tatsächlich hatte ich nach dem Lesen des 1. Teils von T.'s Posting gedacht, jetzt hat 'Inga' sich also mal wieder einen neuen Namen zugelegt, wurde ja auch Zeit - solange wie Sie sich hier schon tummeln. Aber nein - oder?
Und es bedarf einer weltweiten Bewegung den Priestern, Imanen, Mullahs es zu verwehren, aus Menschen Zombies zu machen. Diesen Verkündern des Glaubens muss es unterbunden werden, Ihren jeweiligen Gott als den Einzigen zu verkünden und seinen "Willen" mordend und jede Zivilastion negierend durchzusetzen und dabei den Mördern und Zombies, die sie erschaffen, Absolution zu geben. Wir stehen mit der Schneeschaufel in der Hand einer auf uns zurasenden Lawine entgegen. Wir schauen zu, wie Kriege gegen die Menschlichkeit geführt werden, Länder verwüstet und Heimat zerstört wird, wie Familien und Menschen millionenfach gefoltert und ermordet werden. Daneben halte ich die Frage darüber wie wir Schlepper behindern können oder Flüchtlinge unterbringen können nur für Fragen an der Symptomatik.
Auch verstehe ich nicht, wie Sie jetzt vom Thema Geflüchtete auf das Thema des IS kommen. Das sind in meinen Augen zwei völlig verschiedene Themengebiete, einerseits die Fundamentalisierung von Religionen (JEDER Religion übrigens). Und andererseits die Flucht von Menschen, häufig vor Kriegen, welche, oftmals vom Westen mit Rüstung unterstützt, weltweit geführt werden.
In diesem Zusammenhang verstehe ich auch die Rechnung von #5 nicht ganz. Die eigentliche Thematik wird verschoben, denn was sind z.B. 10 Milliarden für Menschenleben gegen 10 und mehr Milliarden für Rüstungsgeschäfte?
Ich teile Ihre Auffassung zu #5, und selbst wenn es 1 Mio Einwanderer werden, das Land kann es nicht nur verkraften, sondern wird noch positive wirtschaftliche und demografische Effekte zeitigen, worum es jetzt erst einmal gar nicht geht.
Und unser Verteidigungsetat beträgt 32 Mrd Euro, also mit ebenso viel Luft, wie die Etats für Agrarsubventionen und die Förderung völlig widersinniger Windparks.
Wenn man nur in einer Kosten-Nutzen-Rechnung denkt, dann dürften nach manchem wohl auch nur gut verdiendende Akademiker bzw. Steuerzahler einwandern. Ich dachte aber mal, dass Asyl ein Menschenrecht sei. Warum also soll der Bund da nicht ein paar Milliarden an die Kommunen abgeben?
Schauen wir, wie sich unsere Gesellschaft in den nächsten zehn Jahren wandelt, was ihr zu wünschen ist. Und natürlich werden auch die Akademiker kommen. Es sind doch alle vom Krieg betroffen.
Und, ich habe nichts gegen grünen Strom, so lange er nicht so hoch subventioniert wird. Denn die Subventionen kommen nicht bei den Verbrauchern an, sondern bei den Produzenten. Aber das gehört nur ganz entfernt hierher. Immerhin würden neu verteilte Staatsetats dazu führen, dass mehr Geld für Bildung zur Verfügung stünde. Wenn also in jeder Schule ein hauptamtlicher Theaterlehrer mit Theater als Wahlkunstfach im Angebot tätig wäre, von den Ländern finanziert, vom Bund gefördert, müssten wir uns auch keine Sorge mehr um die Zukunft der Theater machen, vermute ich.
In unserer Gesellschaft ist es zur Mode geworden sich zu entrüsten. Diese Entrüstung hat zum Zweck andere zu veranlassen, dass der Grund für die eigene Entrüstung doch bitte verschwindet.
Inga, sie beklagen sich darüber, dass der politische Wille nicht mehr im Parlament, sondern zB in den Ausschüssen formuliert und in Kraft gesetzt wird. Wir leben in einer parlamentarischen Demokratie. Die von Parteien getragen wird. Sind sie in einer Partei? Bemühen sie sich um Anerkennung Ihrer politischen Ansichten? Oder entrüsten sie sich?
Den Flüchtlingen hier muß man helfen. Punkt. Herr wird man der Situation aber nur, wenn die Kriege aufhören. Und da setzt mein vorheriger Kommentar an.
@ wolfgangk: Ja, von Parteien getragen. Aber wenn diese bzw. die Parlamente von Lobbyisten des Kapitals bestürmt werden, wen vertreten diese Parteien denn dann noch? Und kann man da dann noch von gesellschaftlicher Beteiligung sprechen?
Sie schreiben davon, dass die Kriege aufhören müssen. Ja, aber da geht es doch nicht nur um den IS, oder? So verzerren Sie meines Erachtens die Situation. Ausserdem, woher kommen denn die wirtschaftlichen Ungleichgewichte? Werden nicht genau deswegen Kriege geführt? Und wie kommen Sie darauf, dass der Grund für die Flucht eines Afrikaners (auch auf diesem Kontinent gibt es übrigens Länder) die Bevölkerungsexplosion sei? Das meinen Sie jetzt doch nicht ernst. Es geht doch auch in Afrika vor allem um die fortgesetzte Ausbeutung durch den globalen Kapitalismus, Stichwort: Landgrabbing usw.