Intime Räume - Wie das interaktive Netztheater den Zuschauer für sich entdeckt
Kopftheater aus der App
Berlin, 2. Juli 2020. Seit Monaten dürfen wir nicht mehr eng in Theatersälen zusammensitzen. Und auf absehbare Zeit wird das auch nicht wieder möglich sein. Doch das Theater findet im Netz neue Möglichkeiten der Kopräsenz, ja: der Kokreation! Ein Überblick über das interaktive Netztheater der letzten Monate.
Von Christian Rakow
Kopftheater aus der App
von Christian Rakow
2. Juli 2020. Die erste Erscheinung des Neuen ist der Schrecken. Auch im interaktiven Netztheater. Als Christopher Rüping seine experimentierfreudige Web-Serie "Dekalog" am Schauspielhaus Zürich startete, da haperte es technisch noch an allen Enden. Der Sprecherton des Solisten Thomas Wodianka kam mit Sekunden Verzögerung an, verhinderte den Schauspielgenuss. Und das Publikum im begleitenden Chat zeigte entsprechend Zähne und schüttete wonnig seine Häme aus. Für die folgenden Teile schalteten die Zürcher*innen den Chat zur Aufführung ab, das Publikum durfte fürderhin als anonymer Massenmensch am Geschehen teilhaben, mit den für die Serie charakteristischen Ted-Abstimmungen über den Verlauf der Geschichte.
Raus aus dem Schneckenhaus
Das hätte ein Lehrbeispiel für den Rückzug ins Schneckenhaus sein können, für die Fluchtbewegung eines Theaters, das sein Publikum allzu oft nur als Empfänger ernst nimmt und es stumm stellt, sobald es sich ungehörig aufführt. Wenn Rüping nicht weiter geforscht hätte. In Episode 8 war der Livechat wieder zurück: Hier begegnete man dem Tänzer und Performer Josh Johnson, der sich für seine Reflexion des Gebots "Du sollst nicht lügen" in den offenen Dialog mit den Anwesenden begab, und in der Weise, wie er ausgewählte Fragen von ihnen beantwortete, modellierte sich seine Figur. Plötzlich war das Publikum nicht mehr nur quantifizierbare Masse. Was hier entstand, war ein gehaltvolles Zusammenspiel und die Entdeckung des Publikums als Ko-Akteur, der das Skript des Abends substanziell mitgestaltet. Das Fanal eines feedbackstarken Theaters.
Die Frage nach dem Feedback nimmt sich zentral aus, wenn man über Theater im Netz nachdenkt. Am Beginn der Corona-Krise verwies Katja Grawinkel-Claassen das Netztheater an die "Kunst des Involvierens und Engagierens", wie sie im partizipativen Theater auch analog ausgebildet wurde. Nur wer einen "Rückkanal" schalte und also den Rezipient*innen als aktiven Koproduzent*innen von Bedeutung mitdenke, werde jene Gemeinschaftlichkeit gewinnen, von der Theater auch im analogen Raum zehrt.
Der Funken Gemeinschaftsgefühl
Seit diesem Appell hat sich einiges getan. Viel Theater ist in den letzten Monaten live fürs Netz produziert worden und meist wird dabei mindestens ein Nachgespräch über Zoom oder ähnliche Konferenz-Apps geschaltet, mitunter auch das Publikum zum Einschalten der Webcams aufgefordert, damit Reaktionen spürbar werden und ein Funken des vertrauten Gemeinschaftsgefühls aufglimmt (siehe den Überblickstext zu Zoom-Aufführungen von Sophie Diesselhorst). Gleichwohl lagern solche Mitmachangebote eher an der Peripherie des Kunstwerks, greifen nicht in die innere Werkgestalt ein.
In einer medialen Umgebung, in der resonanzstarke soziale Plattformen und Games die Landschaft prägen, ist womöglich mehr Teilhabe vonnöten. Hier kommen die interaktiven Experimente ins Spiel, die ihre Erzählungen für den Zugriff des Publikums öffnen.
Intimes Theater
Je gehaltvoller das Mitwirken, desto kleiner sind in der Regel die Zuschauergruppen. Eine Compagnie wie Nesterval aus Wien, die ähnlich wie die dänische Installationstheater-Gruppe Signa normalerweise in städtischen Räumen ihre "immersiven" Schauspielwelten baut, bringt in "Der Kreisky-Test" live 16 Zuschauer*innen mit 8 Performer*innen in einer Konferenzschalte zusammen, auf dass sie gemeinsam Frage-und-Antwort-Spiele beginnen, durch die eine Schar wackerer Sozialdemokrat*innen für ein utopisches Inselleben gekürt werden soll (hier unsere Nachtkritik).
Das exklusivste Erlebnis hatte ich in einer Hamburger Virtual-Reality-Produktion "Genesis" (von Alexander Schubert), in der ich gute zwanzig Minuten lang einen menschlichen Avatar mittels Sprachsteuerung durch eine alte Industriehalle navigierte, um sie/ihn dort Musik spielen oder mit Utensilien basteln zu lassen (bevor der Hamburger Server abstürzte; Kinderkrankheiten gehören zu dieser Pioniergeschichte des Netztheaters).
Die Bekenntnisse der Pilze
Das interaktive Theater ist, dort wo es auf qualitative Begegnung setzt, ein intimes Theater. Geradezu sinnbildlich wurde das in dem Vergemeinschaftungserlebnis "Hyphe" vom Schweizer onlinetheater.live: Auf einer eigens konstruierten Website, mit interaktiver Graphik eindrücklich visualisiert, fand man sich als kleiner Knotenpunkt in einem großen pilzartigen Gewebe wieder. Man suchte und fand seinen Alias-Namen und bemühte sich hernach, Kontakt mit anderen zu schließen, oder wie es in der Metaphorik dieses Ortes hieß, seine "Sporen" zu werfen, um Fäden (griech. Hyphen) zu spinnen.
Das Zusammenschalten der Spieler lief über Persönlichkeitstestfragen, die man wie in einem Chat zeitgleich mit seinem jeweils zugeschalteten Anonymus beantwortete: "Wann lacht Ihr über Euch?" – "Spinnen oder Kakerlaken?" Zu meditativer Musik kam das wie ein kleine intime Etüde daher, eine Reise in persönliche Vorlieben und Kindheitserinnerungen. Ein Eintauchen in einen Selbstbesinnungskokon mit der Möglichkeit, sich in den Antworten des unbekannten Gegenübers zu spiegeln. Aber bezweckt war im Ganzen doch mehr. Im Anschluss an den kurzen Austausch sollte man die Aufrichtigkeit der Dialogpartner einschätzen und bekam vom Operator ihre Bewertung zugespielt: "Leonie hält dich für den Inbegriff von Ehrlichkeit." Oho.
Was als charmantes und unverbindliches Begegnungsspiel im Medium des Texts begann, wurde bald mittels regelmäßiger Video-Intermezzos zu einer etwas wunderlichen Netiquette-Lektion. In diesen Zwischenspielen schaltete sich ein Vogelmensch ein, der zunächst über die Moralfreiheit der Pilze sinnierte, um später seine Maske herunterzureißen und die versammelten Teilnehmer*innen in forschen Appellen zur Preisgabe ihrer Anonymität aufzufordern: "Leute, lügen ist scheiße. Hyphe heißt: Ich bin ehrlich." Eine calvinistische Pointe: mit Bekenntnisfuror in die schöne neue Netzwelt.
Tatort Düsseldorf
Dass aus der entspannten Anonymität heraus tragfähige Gemeinschaftserfahrungen zu gewinnen sind, machen machina eX mit ihrem Krimi "Lockdown", für die Messenger-App Telegram verfasst, deutlich. In kleinen Dreiergruppen finden sich hier Spieler*innen, egal ob unter Klarnamen oder Alias, zusammen, die von einem Gesprächspartner namens Chris auf die Suche nach einer verschwundenen WG-Genossin geschickt werden. Chris mutete lange Zeit wie ein realer Dialogpartner an (er trägt das Profilbild des Schauspielers Jan Jaroszek), ist aber de facto ein programmierter Bot, der auf fixe Stichwörter hin neue Hinweise ausspielt und so den Fortgang der Geschichte garantiert.
Die weitestgehend über Textnachrichten angeleiteten Nachforschungen führen uns quer durch ein virtuelles Düsseldorf (das Spiel entstand für das dortige Forum Freies Theater). Man stöbert im Stadtplan, kontaktiert Personen via Telefonanruf, löst kleine Rechenaufgaben oder knackt Rätsel, um den Fall je nach Geschick der Gruppe in eineinhalb bis drei Stunden zu lösen.
Die Arbeiten von machina eX (die seit 2011 das Genre des Game Theaters entscheidend mitprägen) haben im analogen Raum stets einen Retro-Chic, geben sich mal mehr mal weniger augenzwinkernd als Hommage an klassische Computer-Adventures zu erkennen. Auch "Lockdown" umweht das vertraute "Back-to-the-Roots"-Gefühl. Hier ist Text das wesentliche Medium – wie in den Anfangsjahren der erzählerischen Computerspiele. Die graphische Aufbereitung bleibt sparsam, die Multimediaarbeit schlank. Mitunter empfängt man Sprachnachrichten und Fotos oder ruft telefonisch bei einem Anrufbeantworter an.
Der Ehrgeiz von machina eX liegt darin, die Vorgänge möglichst vollständig automatisiert ablaufen zu lassen, aus Liebe zum puristischen Game Design. Zwei Mitglieder aus dem Kollektiv überwachen als Abenddienst das Spielerlebnis der bis zu zehn parallelen Gruppen und können im Notfall mit Hilfsnachrichten eingreifen.
Retro und die Entzifferung der Stadt
Retro ist in. So auch beim Kollektiv Anna Kpok mit "Anna Kpok und die Dinge aus einer anderen Zeit". Es ist im Kern ein Textadventure, das mit weißer Pixelschrift auf schwarzem Grund nunmehr gänzlich nach alten MS-DOS-Benutzeroberflächen und also nach der Frühzeit des Adventure-Genres ausschaut. In der Erzählung stromert man durch ein verzaubert wirkendes Mülheim an der Ruhr, sammelt magische Gegenstände ein und trifft auf eigentümliche Zeitreisende aus Boccaccios "Dekameron" (die Arbeit lief als Beta-Version in der "Dekameron"-Reihe des Mülheimer Digital-Theaterbündnisses Ruhr.Vier).
Die live eingesprochene Geschichte wird den Spieler*innen via Zoom mittels der Funktion "Bildschirm teilen" vorgeführt. Knobeln müssen sie hier nicht, die Interaktion beschränkt sich auf die – in ihrer Relevanz nicht immer leicht einsehbaren – Wahlentscheidungen zwischen unterschiedlichen Alternativen (Wohin gehen wir? Was sammeln wir ein? A-B-C oder D?), die man nach Absprache in Zweier-Teams trifft.
Was besticht, ist die erzählerische Aufladung des gegebenen Ortes. Die Produktionsorte Mülheim bei Anna Kpok oder Düsseldorf bei machina eX erhalten als Schauplätze von fantastischen Räuberpistolen oder Krimis eine ganz eigenen Würde. Auch weil der Stadtraum hier nicht wie im "Tatort"-Sonntagskrimi immer schon als Kulisse gegeben ist, sondern erst aus der Erzählung heraus langsam entziffert werden muss. Allmählich erkennt man vertraute Örtlichkeiten wieder und findet sie durch die Geschichte seltsam verändert oder symbolisch überhöht vor. Ein Eldorado für Lokalpatrioten.
Das dämonische Birsfelden
Aufs Herrlichste kulminieren der Hang zu Retro und die Verzauberung des Lokalen in dem Mystery-Dreiteiler "Twin Speaks", den die Gruppe Vorschlag:Hammer Ende 2019 für das Roxy in der Baseler Vorstadt Birsfelden inszenierte und jetzt während der Corona-Schließzeit ebenfalls für die Messenger-App Telegram adaptierte. "Hat das Fremdenverkehrsbüro die Arbeit gefördert?", witzelte eine Zuschauerin im Nachrichtenaustausch, angesichts der vielen akribischen Ortsverweise und der expliziten Nennung des herausragenden Hotels und des einschlägigen Fitnessstudios.
Anders als bei machina eX hat man es in "Twin Speaks" nicht mit einem Game zu tun, sondern mit einer ziemlich aufwändig gestalteten, live moderierten Multimediaerzählung. Videofilme, Audiofiles, Soundtracks für Hintergrundatmosphären, Memes, Textnachrichten – alles wird aufgefahren, um die mysteriöse Ermordung des Teenagers Andreas Birsfelder vor uns zu bringen. In den Pausen zwischen den Teilen findet das Publikum wie beim Foyergespräch zusammen und kann sich live in der App über den mutmaßlichen Mörder und das Geschehen überhaupt austauschen.
Wie der Name schon nahelegt, wildert "Twin Speaks" mit Wonne beim Mystery-Klassiker "Twin Peaks" von David Lynch, borgt hier die Titelmusik, spielt dort auf Motive des Dämonismus an. In den Videos werden "Tatort"-Routinen auf die Schippe genommen, ein Hauch von Dada umweht die Dialoge der örtlichen Kommissarin und des angereisten Spezialagenten ("Rita, werden wir den Fall lösen?" – "Ich hoffe es." – "Da sind wir schon zu zweit.").
Erdung garantieren diverse Laienspieler*innen, die man wie für eine gute Bürgerbühne in Birsfelden angeworben hat. Und hier, wo die Erzählung etwa zu den Schulfreund*innen des fiktiven Toten blendet, entstehen sehr eindrückliche, handgemachte Szenen per Video: Jugendansichten aus dem Discoalltag oder eine gänzlich unpathetische, wiewohl bewegende Trauerfeier mit Klaviermusik, die die drei engsten Verbündeten von Andreas Birsfelder im Stillen abhalten.
Spieler im Schaufenster
"Ist das noch Theater, wenn sich Leute durch Hypertexte klicken oder sich automatisierten Narrativen hingeben?", frage ich Yves Regenass von machina eX beim Telefonat. Und Regenass erzählt von der Verschiebung der theatralen Aktivität, die er in solchen Netzarbeiten beobachtet: weg von der Bühne, hin zu den Mitspielenden. Die Zuschauer*innen imaginieren sich den Raum und füllen ihre Rolle darin je eigen aus.
So habe ich es in "Lockdown" erlebt: Wer sich aufs Spiel einlässt, wird zunehmend locker, witzelnd, ruft sich Missgeschick und Erfolgserlebnisse mit Smileys zu. Schon bald ist der Austausch von Messenger-Nachrichten persönlich koloriert in Tonfall und Einfallsgabe. Die Zuschauer*innen erfüllen das programmierte Skript und die daraus entstehenden Situationen mit Leben.
Dass das Zocken – zumindest potenziell – eine Theatralität besitzt, kennt man aus dem in der Gamer-Szene beliebten Genre der Let's Plays. Manche der interaktiven Theaterproduktionen stellen in dieser Tradition die Spielenden ins Schaufenster. Die über Zoom verbundenen Teams des Textadventures "Anna Kpok und die Dinge aus einer anderen Zeit" waren via YouTube-Livestream für andere Zuschauende sichtbar (und dort auch Gegenstand von Chat-Kommentaren). Ebenso erging es den Spieler*innen in "Bitte spiel mich!" beim Grazer Kollektiv Planetenparty, die einen Schauspieler als Avatar live durch eine WG lotsten, um – auch hier! – einen Mordfall aufzuklären. Auf YouTube konnte man den Hobbykommissar*innen bei ihren Nachforschungen zuschauen.
Im Vorstellungsraum
Aber es wäre zu kurz gegriffen, das Theater nur auf seinen sichtbaren Anteil zu reduzieren. Theater ist ja (gerade auch im Vergleich mit dem Film) die Kunst des Abwesenden. Es ist Vorstellungskunst, die das Nicht-Gegebene vors innere Auge rückt, die aus der Geste heraus eine Welt imaginieren lässt. Wer einen Eindruck vom großen Twitter-Event #Vorstellungsänderung vom Wiener Burgtheater erhaschte, weiß, dass ein durch diese Kunst geschultes Publikum in der Lage ist, sich aus minimalen künstlerischen Inputs heraus einen komplexen Theaterabend kollektiv vorzustellen (!), den es im Realraum während der Corona-Schließzeit selbstredend gar nicht gab (hier unsere Nachtkritik).
Das interaktive Netztheater verpflichtet sich nicht auf die Schauspielgeste, aber es nutzt sie im Verbund mit anderen Zeichen (Textzeichen vor allem). Mitunter stehen die Darbietungen näher an Lesungen (wie in den Textadventures), dann wieder gibt's Schauspielkunst in der Video-Nahansicht.
Es ist eine hybride Kunstform, die im Ganzen weniger auf das "Bühnengeschehen" denn auf die Fantasie der Zuschauer*innen baut. Man vernimmt in ihr einen fernen Nachhall jener Programmatik, die Bertolt Brecht schon in seiner Lehrstücktheorie entwarf: als es ihm um die Ermächtigung des Zuschauenden als Spielenden ging und um die erkenntnisstiftende Erfahrung des Selbertuns. Die direkten Vorläufer dieses neuen Genres sind Computerspiele, die gemäß Eric Zimmermans einschlägigem Diktum vom "ludischen Jahrhundert" (d.h. Jahrhundert der Spiele) mit ihrer Logik unsere Ära prägen. Noch geht die Konzentration stärker auf die Methodik (Wie können wir spielen?) als auf die Inhalte (Was wird im Spiel erzählt?). Die technische Tüftelei besticht, fürs Futter sorgt der gute alte Krimi. Aber wer erst einmal die Methode hat, der kann auch abheben.
Websites der Gruppen
www.nesterval.at
alexanderschubert.net
onlinetheater.live
www.machinaex.com
www.annakpok.de
planetenparty.at
Christian Rakow, geboren 1976 in Rostock, ist nachtkritik.de-Redakteur und Mitkurator der Konferenz Theater & Netz. Er studierte Germanistik und Philosophie in Rostock, Sheffield und Berlin und promovierte in Literaturwissenschaft (Deutsche Philologie) in Münster. Er schreibt u.a. für die Berliner Zeitung und Theater heute. Von 2016-2019 war er Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens.
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