Du bist nicht allein!

von Sabine Leucht

München, 2. Oktober 2014. Am Anfang hüpft ein weiß Vermummter, den man dennoch als Kristof Van Boven erkennt, wie ein Teletubby herum, ruft die Namen verschiedener Orte und demonstriert an der eigentlich schon gestorbenen Katja Bürkle symbolisch diverse Hinrichtungsarten. Am Ende ist es ein bisschen so wie in "The Lego Movie", weil die ganze Gruppe aus Münchner und Pekinger Akteuren im Marschrhythmus auf der Stelle stampft,  und auf der Klimax des dazu skandierten Begriffssammelsuriums aus Gemeinschaftsstiftendem ("Durchschnitt", "teilhaben", "Demonstration", "Gesetz") und Zwietracht-Säendem ("Fremdenhass", "seltsam", "anstarren") ruft man plötzlich ebenso lautstark "totally happy!"

Selbstverlust, Fanatismus, Jubelgebot

Und so heißt denn auch der Abend. Zugegeben: Beim Lego-Streifen lautet der Text des zentralen Gehirnwäschesongs leicht abgewandelt "Hier ist alles super, denn du bist nicht allein..." – doch das tut jetzt nichts zur Sache. Fest steht nur, dass dem, der Kinder hat, einiges, was hier gezeigt wird, bekannt vorkommt. Und das liegt vor allem an der Naivität, mit der sich die fünf Tänzer von Tian Gebings Paper Tiger Theater Studio und die fünf Schauspieler aus dem Ensemble der Münchner Kammerspiele einander und einem Thema genähert haben, das für Chinesen wie Deutsche historisch schwer belastet ist: Die Masse – und damit verbunden unter anderem der Selbstverlust, der Fanatismus, die Gewalt und das Jubelgebot.

totallyhappy 560 liuyin hTanzen in einem Meer aus Seide: "Totally Happy" © Liu Yin

Katja Bürkle führt einen in einer Art Meditations-Prolog ("Schließe bitte deine Augen...") über die Maximilianstraße bis zum Preysing Palais und von den schweren Stiefelschritten und "Sturm!" singenden Uniformen dort sehr viel weiter gen Osten, wo man 1972 in der alten Kaiserstadt Xi'an die Helden von Mao Zedongs großer proletarischer Kulturrevolution anschmachten kann. Doch so konkret wird die Inszenierung nur selten, mit der in Johan Simons letzter Münchner Spielzeit die von ihm eingeführte Tradition fortgeführt wird, bewunderte Künstler anderer Nationen und Sparten erst zum "Relations"-Festival einzuladen und dann auch mit ihnen zu koproduzieren.

In eigene Dramen verstrickt

Während die Zusammenarbeit mit China als erste außereuropäische ein Novum ist, ist der Mix von Tanz- und Sprechtheater für den ehemaligen Ballerino Simons längst ein alter Hut. Meg Stuart – die Choreografin des Jahres – hat bereits mit seinen Schauspielern gearbeitet. Und auch die Tanzproduktion des Jahres – Alain Platels Tauberbach - ist an den Kammerspielen entstanden.

Die unabhängige Gruppe aus China, die selbst bereits Künstler unterschiedlicher Sparten beherbergt, bringt nun aber die Körpersprache nicht einfach als eine Möglichkeit mit, wider alle Sprachbarrieren den für das Thema vielleicht erwünschten Gleichklang zu erzeugen. Zwar gibt es einige Zusammenballungen, sehr wenige synchrone Bewegungen und am Ende zwei Tutti im weitesten Sinne, viel öfter aber sind die Einzelnen auf dem mit cremefarbener und weißer Seide überzogenen Spielhallen-Quadrat in ihre eigenen Dramen verstrickt: meist mehr kryptisch-undurchschaubar als tänzerisch interessant. Es ist offensichtlich, dass sich einige der Chinesen sehr viel geschmeidiger bewegen – und lustig, dass man dem zu je einem Viertel winkenden, jubelnden, dirigierenden und verscheuchenden Wedeln ihrer Arme automatisch eine tiefere Bedeutung unterstellt als demselben Gewedel der Münchner. Ein Fremdheits-Bonus womöglich?

Saukomische Fehlübersetzung

Ansonsten aber ist "Totally Happy" überraschend textlastig und collagiert exotisch anmutende Natur- und Stammesgeschichten aus dem 4. Jahrhundert vor Christus, einen Kollektivselbstmord aus der Zukunft, viele geschichtliche Daten, Oktoberfest-Statistiken, Canetti-,  Toller- und Mao-Zitate ("Die Massen sind die wahren Helden")  zu einem bunten "Massen"-Allerlei, das trotz zweier beteiligter Dramaturgen auch szenisch eher unverbunden und unverbindlich bleibt. Man ahnt, welche Kennenlern-, Aufwärm- und Improvisationsübungen die Akteure gemacht haben dürften, denn vieles davon sieht man auch auf der Bühne.

Man bekommt mit, dass Edmund Telgenkämper offenbar prima Chinesisch gelernt hat und erlebt eine hinreichend durchgeknallte Sing-Animation und eine saukomische Szene, in der Christian Löber den akrobatischsten Tänzer rührend bemüht kopiert und verbal so grandios fehlübersetzt, dass man sicher ist: Dieser Zusammenprall der Kulturen muss Spaß gemacht haben! Eine gute Portion von diesem Spaß überträgt sich auch auf den Zuschauer. Tiefer aber geht die Sache nicht. Und was das Problem der Massen angeht und die Frage, wie das vermeintliche Rädchen-im-Getriebe-Land und die deutschen Mitläufer und Selbstoptimierer sich heute dazu verhalten, so ist man danach so schlau als wie zuvor.

 

Totally Happy (UA)
von Tian Gebing
Koproduktion mit Paper Tiger Theater Studio Peking und dem Goethe-Institut China
Regie: Tian Gebing, Bühne: Tian Gebing, Teresa Vergho, Kostüme: Teresa Vergho, Musik: Song Zhao, Video: Xiong Wei Chen, Licht: Christian Schweig, Dramaturgie: Jeroen Versteele, Christoph Lepschy.
Mit: Katja Bürkle, Lian Guodong, Gu Jiani, Marie Jung, Christian Löber, Edmund Telgenkämper, Kristof Van Boven, Liu Xiangjie, Wang Yanan, Gong Zhonghui.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Wohin gewitzter Umgang mit den Grenzen der Zensur führen kann, hat Gebing bereits gezeigt, als die Kammerspiele vor einem Jahr seine Produktion "Reading" einluden, so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (4.10.2014). "Auch 'Totally Happy' ist durchzogen von einem eigenwilligen, ungemein lichten Humor." Der werde dadurch verstärkt, dass auch kulturelle Unterschiede thematisiert werden. "Manches ist platt, wie das Bild einer gesichtslosen Masse in Schutzanzügen, aus der sich langsam die Individuen herausschälen." Manches der Körperbilder auf leerer, weißer Bühne ist von einer hier kaum vorstellbaren Unbekümmertheit, wie das Bild einer Masse unter einer Dusche aus Nebel. "Also aus Gas. Also Auschwitz." Aber: Nichts nehme man Gebing übel, weil die Akteure hinreißend seien. 

Immer wieder gebe es halb berührende, halb verstörende poetische Bilder zu bestaunen, schreibt Alexander Altmann im Münchner Merkur (4.10.2014). Etwa, wenn sich die helle Fallschirmseide, die das Tanzpodium bedeckt, von unten aufblähe wie ein wogendes Meer. Todernst gehe es nicht zu, es gebe einige hinreißend komische Szenen. "Und man verlässt das Theater nach einer etwas zu langen, aber oft faszinierend exotischen Aufführung schließlich doch als Glückskeks."

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