Niedergang im Karussell 

von Andreas Herrmann

Dresden, 16. Februar 2008. Wäre die Premiere im großen Schauspielhaus gewesen, so wäre das Publikum mit tagesaktueller Umnachtung konfrontiert: Der Samstag nach dem Jahrestag der Dresdner Zerstörung gerät alljährlich zum traurig-tumben Ideologiefestival und zur logistischen Bankrotterklärung für die gesamte Innenstadt. Also kein guter Tag für gutes Theater. Das Kleine Haus des sächsischen Staatstheaters auf der anderen Elbseite war so wirklich der geeignetere Ort für John von Düffels Dramaversion von Thomas Manns Nobelroman in der Regie von Hermann Schein.

Beide waren schon in Dresden präsent: von Düffel mit "Schlachthof 5", Schein inszenierte die Uraufführung von Katharina Gerickes "Vom Fluss". Nun also zusammen die fünfte Umsetzung seit der Uraufführung am Thalia Hamburg vor reichlich zwei Jahren, die sich auf das Wohl und Wehe vom scheiternden Thomas Buddenbrook, seinem kränkelndem Bruder Christian und der zweimal per brav-situierter Ehe ins Unglück geschickten Schwester Tony konzentriert. Charakterstärke und Kontoschwäche stehen in dysfunktionalem, aber direktem Zusammenhang, der Werte- und Sittenverfall wird human versinnbildlicht. Aber man darf sich nichts vormachen: Als neues Stück eines unbekannten Autors würde es kaum den Tisch eines Dramaturgen anders als gen Altpapierablage verlassen und keinen Regisseur oder Intendanten vom Hocker reißen.

Körpersprachliche Verfallsgeschichte
Dennoch lag eine selten gehobene Atmosphäre in der Luft, zumal das Staatsschauspiel nahezu all seine Zugpferde abgestellt hatte. Das zweistöckige Karussell, das Ausstatter Stefan Heyne als Elternhaus auf die Drehbühne zimmerte, ist einerseits als Spielort etwas beengt, ermöglicht aber viele Konstellationen, auch durch die doppelte Treppe auf den Oberrang. Der Rest der Bühne ist leer und schwarz, zumindest wenn Christian (Ahmad Mesgarha) nichts herumliegen lässt, und bietet Platz für raumgreifende Zu- und Abneigungsszenen.

So bleibt auch Thomas (Daniel Minetti) Raum für die Entwicklung zum Familiendespoten, der mit dem Abschied von der armen Anna ("Ich wünsche Dir alles Glück, meine liebe, gute, kleine Anna! Aber wirf Dich nicht weg, hörst Du? Wirf Dich nicht weg!") das kurze Glück mit seiner bezaubernden 300 000-Mitgift-Gerda (Anya Fischer) gegen den Senator-Posten eintauscht. Leidtragender ist vor allem sein in Liebesdingen konsequenterer Bruder Christian. Ahmad Mesgarha gelingen große Verzweiflungsakte, er bleibt ein Stachel im Fleisch der familiären Traditionen – und somit der eigentliche Moralapostel fernab von Religion.

Faible für lange Blickbeziehungen
Die Sympathiefigur gibt, wie zu erwarten, die Tony von Karina Plachetka: Eigentlich viel zu lebenslustig für Kompromisse in Form von drögen Männern aus Hamburg oder München, fügt sie sich zweimal dem vermeintlichen Familienglück und überlebt dennoch alle. Hermann Schein inszeniert, vor allem vor der Pause, tendenziell gelassen, ohne technischen Schnickschnack, mit einem Faible für lange Blickbeziehungen. Da hat er leichtes Spiel mit den spaßfreien Eltern. Konsul Jean Buddenbrook alias Albrecht Goette, der seiner Frau eröffnet, dass die Geschäfte schon lange nicht mehr gut laufen und seine Tochter zweimal gegen mögliche Geschäftsbeteiligungen austauscht, ist ideal besetzt: "Wir sind, meine liebe Tochter, nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten." Keiner kann Mannsche Sätze besser auf den Punkt bringen.

Helga Werner als Bethsy bleibt ein kühler souveräner Ruhepol, der nichts mehr beweisen muss. Beide scheiden unspektakulär. Stark ist Schein bei der subtilen Arbeit an einzelnen Charakteren, wobei ihm die der drei Geschwister Thomas, Christian und Tony richtig gut gelingen. Der Blick fürs Ganze ist ihm jedoch entglitten. Dafür gelingen ihm auch die Randfiguren prägend: Gerhard Hähndel als Bankier Kesselmeyer zum Beispiel, welcher noch weit energischer und gerissener als der Konsul und dessen missratener Schwiegersohn agiert.

Schrei' Dich frei
Oder Ralph Martin als eben jener Bendix Grünling: bitterböse und falsch, jede Geste, jedes Wort eine Kapitulation der Authentizität vor der Verstellung – manchmal zu krass überformt. Aber auch Kai Roloff, als kraftvoller Medizinstudent Morton Schwarzkopf derjenige, den die Heirat mit Grünling aus dem Spiel nimmt, überzeugt. Alle dürfen permanent schreien, hier wäre weniger Ausdauer mehr an Wirkung gewesen. Etliche kleinere Ungereimtheiten im Zusammenspiel sowie überdehnte Gesten und zu lange Auf- und Abtritte machen den Abend dennoch zwiespältig. Oft meint man, verschenkte Zeit für mehr Text zu spüren. Mit Licht oder Hintergrundmusik arbeitet Schein dezent bis gar nicht, nur der Leutnant (Alexander Bersutsky) darf die gelangweilte Millionärstochter (Anya Fischer muss nur singen und verführen) fiedelnd becircen.

Gestorben wird lautlos und hinter der Bühne – nur getrauert wird offen, schnell und wertfrei bis zur jeweiligen Testamentseröffnung. Finito ist bei Düffel mit dem doppelten Schlussstrich von Filius Hanno (Florian Hanke mit erstaunlich viel Gelassenheit – vor allem bei dem hysterischen Ausbruch von Vater Thomas) unterm Stammbaum im Familienbuch: "Ich dachte, es kommt nichts mehr." Recht hatte er.

Thomas Mann reüssiert in Dresden
Der Beifall eines selten so lokalprominent besetzten Premierenpublikums war lang und herzlich, aber nicht euphorisch. Den meisten gab es – vollkommen zurecht – für Karina Plachetka und Ahmad Mesghara, für die Regie war aber auch Dissonanz hörbar. Für auf- und abgeklärtes Gymnasiastenvolk, im Klassenverband immer eine sichere Zielgruppe für solcherart Adaptionen, hätte man einiges straffer und überspitzer bringen müssen – für moderne und spannende Klassiker gibt es aber selbst in der sächsischen Provinz gute Beispiele. So konnte Intendant Holk Freytag, der bei der Premierenfeier gestand, die "Buddenbrooks" erst mit 13 gelesen zu haben, sich auf die Schulter klopfen: Sein uraufgeführter "Zauberberg" – als noch unaufführbarer als die "Buddenbrooks" geltend – gelang männlich-sprachaffiner und darob nachhaltiger. Aber das war im Großen Haus – auf der an jenem Tag unwirtlichen Elbseite.

 

Buddenbrooks
nach Thomas Mann, Theaterfassung von John von Düffel.
Regie: Hermann Schein, Bühne und Kostüme: Stefan Heyne, Musik: Eckehard Mayer.
Mit: Albrecht Goette, Helga Werner, Daniel Minetti, Ahmad Mesgarha, Karina Plachetka, Anya Fischer, Florian Hanke, Thomas Martin, Gerhard Hähndel, Kai Roloff, Alexander Bersutsky.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

 In der Sächsischen Zeitung (18.2.2008) freut sich Gabriele Gorgas anlässlich der "Buddenbrooks"-Aufführung über ein "exzellent besetztes Ensemble", das – "speziell auch in der Regie von Hermann Schein" – die Wiederbegegnung mit Thomas Mann lohnen lasse: Das Publikum stehe "spürbar unter Spannung". Der Regisseur rücke "das Geschehen auch nah an die Zuschauer heran" und koste "spielerisch Sinnliches, Emotionales aus." Natürlich vermisse man manches vom Roman, entdecke dafür aber anderes. Sei die Gestalt des Hanno beispielsweise "nur noch skizzenhaft angelegt", rückten deutlich "in Textfassung und Inszenierung die Geschwister in den Blickpunkt". Mit ihren "großartigen Darstellern" rühre die Aufführung "an Herz und Verstand".

Bistra Klunker nennt in den Dresdener Neuen Nachrichten (18.2.2008) John von Düffels "Buddenbrooks"-Fassung eine "instinktsichere Komprimierung". Regie und Bühnenbild dagegen könne man "vereinfachend als solide bezeichnen, was 'berauschend' ausschließt, aber auch 'waghalsig'". Immerhin sei die Karussell-Idee des Bühnenbilds "klasse". Die "kleine zierliche Karina Plachetka als Tony" spiele "ihre Kollegen glatt an die Karussellwand. Kaum ist man in einer Tony-freien Szene im Theatersessel etwas träge hinuntergerutscht, kommt sie wieder und vermag eine naiv-kindische Präsenz zu verbreiten."

In der Freien Presse aus Chemnitz (18.2.2008) schreibt Gabriele Fleischer: Das als Wohnung und Kontor in zwei Ebenen dargestellte rotierende Bühnenbild von Stefan Heyne sei "ein Volltreffer". Eine "Symbolik, die dem Generationenroman um Aufstieg und Fall einer Lübecker Kaufmannsfamilie gerecht" werde. Der berühmte "Glücksgriff" sei Hermann Schein mit der Besetzung gelungen. "Peinlich genau zeichnen die Mimen die Charaktere, die Thomas Mann mit vielen Details verfeinert beschreibt." Allen voran "gewinnt Karina Plachetka mit ihrem unbekümmerten, aber dennoch von Widersprüchen begleiteten Auftreten die meisten Zuschauersympathien".

 

 

 

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