Bert Neumanns letzter Raum

von Esther Slevogt

Berlin, 6. November 2015. Vielleicht ist ein Schlüssel das Gemälde Der tote Christus im Grabe von Hans Holbein (d.J.). Der 1497 in Augsburg geborene Maler lässt darauf in das Grab Christi wie in ein Terrarium blicken, in dem ein elendig ausgemergelter, toter Körper mit ersten Verwesungsmerkmalen liegt. Seht, scheint das Bild zu sagen: auf dieses Stück Sterblichkeit habt ihr Menschlein eure Erlösungshoffnung gerichtet. Eine Reproduktion des Gemäldes taucht wie ein Kassiber in den fast sechs Stunden, die dieser Abend dauert, immer wieder auf. Und es prangt auch hoch oben über der Volksbühne. Am Ende trägt es Alexander Scheer, der in Frank Castorfs Adaption der "Brüder Karamasow" den mittleren Bruder Iwan spielt (und dabei dem Holbein'schen Christus erschreckend ähnlich sieht), als eine Art megalomanes Selfie mit sich herum.

karamasow4 560 Thomas AurinDer tote Christus und sein Wiedergänger Alexander Scheer © Thomas AurinDostojewski soll, als er das Bild 1867 im Kunstmuseum in Basel sah, beinahe einen epileptischen Anfall erlitten haben. Dieses Bild habe die Kraft, allen Glauben auszulöschen, legt Dostojewski später dem Fürsten Myschkin in den Mund, der Hauptfigur seines Romans "Der Idiot". Und darum geht es nun, in den "Brüdern Karamasow", die in diesem Sommer bei den Wiener Festwochen herausgekommen sind und jetzt Berliner Premiere feierten: um den ausgelöschten Glauben. Den ausgelöschten Glauben an Gott und die an seine Stelle getretenen Heilsversprechen der Ideologien.

Wir sind schließlich bei Frank Castorf, der es unter den total allerletzten Fragen eben nicht macht, an denen das Personal seiner Inszenierungen sich abarbeiten muss. Der auch die Zuschauer packt, einkerkert und seinen Exerzitien ausliefert, bis ihnen die Sinne schwinden. Wenn er sie nicht mitreißt und das Schwimmen lehrt im river of no return durch das Universum seiner Gedanken und Obsessionen.

Himmel und Hölle, Wolken und Riesenkissen

Und wir sind noch einmal in einem Raum-Gesamtkunstwerk von Bert Neumann. Als der Abend in Wien herauskam, war das noch Castorf-Neumann-Festival-Business as usual. Weil zwei Schauspieler erkrankten, war der Dostojewski-Marathon in Wien jedoch nur ein einziges Mal zu sehen. Und zwar am 29. Mai. Fast genau zwei Monate später starb Bert Neumann völlig überraschend. Und jetzt ist deshalb alles anders. Die Volksbühne hat die schwarze Flagge mit ihrem (von Neumann entworfenen) Logo auf Halbmast gesetzt. Der Tod der Utopie hat jetzt auch noch das Gesicht des toten Chefbühnenbildners, dessen Porträt mit einer kurzen Würdigung für den "Künstler und Freund" von Frank Castorf in einem Schaukasten vor dem Theater hängt. Drinnen ist ein schwarzer Höllenhimmel das letzte Bert-Neumann-Bühnengesamtkunstwerk, das es jemals geben wird.Neumann Raum 560 VolksbuhneBert Neumanns letzter Einheitsbühnenraum © Volksbühne via Twitter

Schon 2002 hatte Neumann für Castorfs Dostojewski-Adapation "Der Idiot" die Trennung von Bühne und Zuschauerraum aufgehoben und die Volksbühne zur "Neustadt" umgebaut: Mit Bar, Reisebüro, Supermarkt und Friseursalon. Die Zuschauer saßen in übereinandergestapelten Kabinen auf der Drehbühne, die sie in die jeweilige Richtung des Geschehens drehte. Jetzt, für Castorfs Inszenierung von Dostojewskis letztem Roman "Die Brüder Karamasow", ist der Unterschied zwischen Bühne und Zuschauerraum wieder eingeebnet. Im riesigen entstuhlten Theaterraum scheinen auch Himmel und Hölle untrennbar verschmolzen: Die sonst holzgetäfelten Wände sind mit schwarz-schimmerndem Lametta verhängt und auf dem grau asphaltierten, steil abfallenden Boden liegen schwarze Riesenkissen, die wie Wolken aussehen, die aus einem verbrannten Himmel auf die Erde stürzten.

Die Kinder von Coca Cola

Hier dürfen die Zuschauer sitzen. Gravitation und Körperschwere zieht sie im Laufe der Stunden immer tiefer in diese massigen wie formlosen Säcke hinein, während die mäandernde Handlung am linken Rand des Raumes an ihnen vorbeigespült wird. Ganz oben, über dem Rang, eine riesige Leuchtreklame: Coca Cola in kyrillischen Buchstaben. Von dort fällt das Bild steil ab: über einen schwarzen Bretterverhau, in dem sich eine Art Bordell befindet, tiefer, wo Verschläge aus rohem Holz ein Tunnelsystem bilden, durch das man (via Live-Kamera) immer wieder die Protagonisten hetzen sieht und reden hört. Ein weiterer Holzverschlag beherbergt eine Sauna. Dann folgt ein Teich, der zum Garten des Karamasow'schen Hauses gehört, das am anderen Ende der steil abfallenden Endmoränenlandschaft liegt, die Bert Neumann als Parcours für die Handlung entwarf: eine eher bedrückende Datsche aus dunklem Holz. karamasow6 560 Thomas AurinLametta, Holzlatten, Wasser: in Bert Neumann Zwischenwelten © Thomas Aurin

Und so werden die Figuren (deren Ähnlichkeit mit dem Personal des Romans manchmal nur zufällig ist) als Kinder von Karamasow und Coca Cola in diesem Raum wie Jojos hin- und hergespielt, verhandeln sie heulend und zähneklappernd die abgewrackten Utopien zwischen Religion und Kommunismus vor der Folie unserer hoffnungslosen Gegenwart. Darin ist dieser Abend auch ein Schauspielerfest. Doch zuallererst ist er ein Epitaph für Bert Neumann.