Der Lappen muss weitergehen, das Leben muss hoch!

von Stefan Keim

Bielefeld, 17. März 2016. Serien sind das narrative Leitmedium, die neuen Romane, komplexer und anspruchsvoller als Filme. Längst schaut man sie nicht mehr im Fernsehen zu festgelegten Sendezeiten, sondern nach eigenem Belieben in Mediatheken, auf DVD und BluRay. Streamingdienste produzieren längst eigene Reihen, die exklusiv bei ihnen laufen. Wie die Philip-K.-Dick-Verfilmung "The Man in the High Castle" von Amazon Prime. Kaum eine Horrorserie ist so vielschichtig, toll besetzt und von intertextuellen Verweisen durchsetzt wie "Penny Dreadful", die in Deutschland nur auf Netflix zu sehen ist.

Keine Berührungsängste

Es ist klar, dass so ein Hype am Theater nicht vorbei geht. Nur steht dem spezifischen Seriengenuss auf der Bühne einiges entgegen. Man kann nicht einfach die nächste Folge anklicken oder sich gar die ganze Nacht um die Ohren hauen. Dennoch faszinieren die Möglichkeiten der Serienästhetik, der lange Erzählatem, die Möglichkeit, eine Geschichte und Charaktere kontinuierlich weiter zu entwickeln. Der Autor David Gieselmann, der ausgezeichnete Dialoge schreibt und noch keine Berührungsängste zu unterhaltenden Formaten entwickelt hat, hat nun im Theater Bielefeld eine Serie begonnen. Die erste Folge dauert eine Stunde, die perfekte Episodenlänge, die zweite steht Anfang April auf dem Spielplan, zwei weitere sollen im September folgen. Das klingt nicht nur nach einer netten Spielerei, sondern einer – bei allem Spaß im Detail – ernsthaften Unternehmung.

SissyMurnau1 560 Philipp Ottendoerfer uSerienpersonal vor psychedelischem Hintergrund: Carmen Priego, Doreen Nixdorf, Guido Wachter und Thomas Wolff © Philipp Ottendoerfer

Sexuell, seelisch oder beides

Ein Mysterium ist Grundlage der Handlung: Sissy Murnau ist verschwunden. Schon der Name der Schauspielerin wirkt wie ein doppeltes Phantom der Filmgeschichte. Sissy ist klar, Friedrich Wilhelm Murnau war einer der bedeutendsten Regisseure des deutschen Stummfilms ("Nosferatu") und wurde 1888 in Bielefeld geboren. Fast alle Charaktere, die in der ersten Folge auftreten, haben eine ziemlich innige Beziehung zu Sissy gehabt, sexuell, seelisch oder beides. Zwei homosexuelle Paare sind die Hauptpersonen. Die autoritäre, attraktive Regisseurin und Theaterleiterin Hanna (Carmen Priego) trägt den gleichen Vornamen wie ihre Lebensgefährtin, eine leicht verpeilte Schauspielerin, die ihre Aggressionen nicht im Griff hat (Doreen Nixdorf). Die Namensgleichheit könnte Stoff für mysteriöse, traumartige Verstrickungen im David-Lynch-Stil sein. Gieselmann beutet sie in der ersten Folge allerdings nur für ein bisschen Klamauk aus. Manche Wortwitze sind aber doch gelungen: "Der Lappen muss weitergehen, das Leben muss hoch!", sagt die Regisseurin einmal.

Das Männerpaar ist verheiratet. Mabon (Guido Wachter) ist Life-Coach und Finanzberater, sein Mann Leopold Landschaftsarchitekt. Der Schauspieler Thomas Wolff hat als einziger eine zweite große Rolle, den ermittelnden Kommissar POK Hansen. Mit den blitzartigen Verwandlungen – zum Teil direkt vor dem Publikum – kann er seine grandiosen komödiantischen Fähigkeiten ausspielen. Wie überhaupt das Ensemble mit großer Spielfreude und Präzision bei der Sache ist. Das zweite Rätsel der ersten Folge heißt Nara. Dahinter scheint sich eine Art Paradies zu verbergen, eine andere Dimension. Leopold will dort unbedingt hin, die Episode 1 trägt den Titel "Ich möchte glauben". Was ein bisschen an Fox Mulder in "Akte X" erinnert.

Klatschen, Schmunzeln, Gehen

Das Problem ist nur: Alles ist ein Witz. Nichts berührt. Ob Sissy Murnau noch lebt, wohin sie verschwunden ist, bleibt völlig schnurz. Eine gute Serie macht süchtig. Ich werde nie vergessen, wie in einem Dortmunder Mietshaus entsetzte Schreie aus mehreren Wohnungen klangen, als Captain Jean-Luc Picard vom Raumschiff Enterprise in einen Borg verwandelt wurde. Und die Folge zu Ende war. Nach "Sissy Murnau" klatscht man, schmunzelt und geht. Und freut sich auf die nächste Folge "Penny Dreadful" zu Hause.

Henner Kallmeyers oberflächliche Inszenierung erfüllt ein gängiges Vorurteil dem Theater gegenüber: Spannende Erzählformate kann es einfach nicht. Nicht weil die Schauspieler dafür fehlten, die beweisen das Gegenteil, wenn sie in Filmen mitwirken. Sondern weil Regisseure und Autoren sich zu selten darauf einlassen. Die Ironie führt in diesem Fall nicht weit, denn die Zeit, in der man sich über Fernsehserien lustig machen konnte, ist längst vorbei. Ein heiteres Stündchen ist dem Theater Bielefeld gelungen. Den Anspruch, eine "Serie im Theater" zu entwickeln, hat es verfehlt.

 

Sissy Murnau – Die Serie im Theater, Folge 1: Ich möchte glauben
von David Gieselmann
Inszenierung: Henner Kallmeyer, Bühne und Kostüme: Jürgen Höth, Musik: Wendelin Hejny. Dramaturgie: Katrin Enders.
Mit:  Doreen Nixdorf, Carmen Priego, Guido Wachter, Thomas Wolff
Dauer: 1 Stunde ohne Pause

www.theater-bielefeld.de

 

Kritikenrundschau

"Sissy Murnau" wird Stadtgespräch. Ganz gewiss," schreibt Antje Dossmann in der Neuen Westfälischen (19.3.206). Wer sich diesen Blockbuster entgehen lasse, "der verpasst
etwas und wird zudem niemals zu den 'Eingeweihten' zählen, was ein zentraler Topos dieser neuen Serie am Theater Bielefeld ist. Schon die 1. Folge 'Ich möchte glauben' des von David Gieselmann konzipierten und am Donnerstagabend unter großem Beifall und Gelächter zur Uraufführung gebrachten Produktion machte seriensüchtig." Die Kritikerin beeindruckt vor allem, was "an dramatischem Stoff entfaltet wird in dieser mit herrlichen Slapstickeinlagen angereicherten und überhaupt von Henner Kallmeyer einfach elegant und witzig in Szene gesetzten ersten Folge von 'Sissy Murnau'. Hingehen, wie gesagt."

"Der Plot ist vielversprechend", schreibt Birgit Hörttrich im Westfalenblatt (19.3.2016). Das Darstellerquartett mit Doreen Nixdorf, Carmen Priego, Guido Wachter und Thomas Wolff hat aus ihrer Sicht "die Qualität, Kult zu werden: Ihnen gelingt es, den leicht schrägen Charakteren Profil zu geben, Wiedererkennungswert, kurz: Serienleben einzuhauchen." Alle vier Schauspieler seien mit Leidenschaft bei der Sache, und machten "Folge 1 zu einer Liebeserklärung an das Serienformat und das Theater gleichermaßen."

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