Villa Weltenwust

von Dorothea Marcus

Dortmund, 15. April 2016. Die Welt hat sich in eine rasend Bilder ausspeiende, Netzhaut angreifende und Gehirn durchlöchernde Maschinerie verwandelt. Wie soll man das im Kopf nur irgendwie klarkriegen: den Terror der gleichzeitigen Ereignisse, die wir uns süchtig permanent medial zuführen. Die einschüchternde Rechthaberei der nebeneinander existierenden Parallelleben. Die zunehmende Unübersichtlichkeit des Lebens bei seiner gleichzeitig wachsenden Totaltransparenz. Schöne neue Welt.

Die Villa im Megastore

Der Dortmunder Intendant Kay Voges versucht, ihr in seiner neuen Arbeit "Die Borderline Prozession" in einer Art Gesamtkunstwerk, einer gewaltigen Musik-, Kunst-, Theater- und Filminstallation beizukommen. Zunächst darf der Zuschauer in der großen Megastore-Halle, in die das Schauspiel Dortmund aus Renovierungsgründen gezogen ist, noch selbst herumgehen und die Bühne bewundern: eine detailreich ausgestattete Villa mit zehn Zimmern in gediegenem Mittelstands-Retro-Schick. Auf der einen Zuschauerseite liegen die Innenräume: Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Bad, Dachterrasse, Garten, Fitnesskeller. Auf der anderen Seite sind die grauen, einsamen Außenräume: Bushaltestelle, Parkplatz, Kiosk. Man kann selbst entscheiden, welchen Ausschnitt man mit eigenen Augen sieht, darf die Perspektive jederzeit frei wechseln.

Borderline3 560 Birgit Hupfeld uIm Retro-Setting: Friederike Tiefenbacher, Frank Genser, Caroline Hanke, Bettina Lieder.
© Birgit Hupfeld

Und dann beginnt eine Prozession mit 23 Darstellern ums Haus, als wollten sie die irre gewordenen Weltgeister bannen. "Oh give me the words, that tell me nothing, that tell me everything" singen sie andächtig, schwenken Weihrauch, spielen Trompete, tragen Lämpchen wie Kerzen, vor ihnen schreitet der Dolly Grip und zieht bedächtig einen Kamerawagen, dirigiert vom danebenlaufenden Regisseur Voges. Zu den Worten der Genesis bevölkern sie nach und nach das Haus.

Im ersten Teil, "Alltag", beherrschen schöne, langsame Bilder die Szene, eine Edward-Hopper-Poesie der stummen Vereinzelung. Zunächst nimmt keiner Kontakt auf. Ein dicker Mann isst Frühstück. Eine Frau streichelt Farne. Der Mann auf der Terrasse guckt ins Teleskop. Auf der anderen Seite sitzt ein Flüchtling an der Bushaltestelle, irrt ein Mann orientierungslos: inszenierte, atmosphärische Stillleben über die Grenzen von Drinnen und Draußen, inspiriert vom Fotokünstler Gregory Crewdson.

Unheimliche Arrangements

Nach und nach kommen Mitspieler in die Zimmer: der dicke, essende Mann guckt eine Frau verliebt an. Ein Paar putzt die Zähne. Ein Mann sieht seiner Frau beim Schlafen zu. Ein Maskenmann irrt durch Türen und setzt sich mit aufs Sofa. Später wird er von der Frau verprügelt. Ein Mann im String tanzt vor Glitzervorhang. Ein Flüchtling in Anzug sitzt an der Bushaltestelle. Fast banale Alltagsarrangements, die durch die Gleichzeitigkeit suggestiv, sehnsüchtig und unheimlich wirken: das vorbeirasende Leben – teils betrachtet vom jeweiligen Sitzplatz aus, teils abgefilmt vom Kamerablick.

Auf großen Bildschirmen sieht man, wie er alle Geschichten omnipräsent kurz streift, die sich bei der nächsten Kamerarunde wieder verändert haben. Auf den Bildschirmen werden immer wieder Textausschnitte geblendet, die zeitversetzt auch von Schauspielern gesprochen werden. Gilles Deleuze spricht über unsere beschränkte Wahrnehmung. Dante über den Weg in einem dunklen Wald. Das AfD-Programm von heimatorientierter Theaterkunst. Nach einer Stunde werden wir aufgefordert, die Perspektive zu wechseln.

Borderline1 560 Birgit Hupfeld uHinter jeder Wand eine neue Wirklichkeit: Eva Verena Müller, Thomas Kaschel.
© Birgit Hupfeld

Dann folgt die "Krise", die sich vorher nur durch ein seltenes Donnern und eine kleine Folterszene im Whirlpool angekündigt hat. Effektsicher werden durch den grandios verschränkten Musikteppich (T.D. Finck von Finckenstein) die Emotionen aufgewühlt, dramaturgisch gekonnt Geschwindigkeit, Musikrausch und Bilderstakkato gesteigert: Der banale Alltag ist zur Festung geworden, bewacht von durch Masken entstellte Soldaten, ein Kriegsveteran humpelt mit Knarre und schießt um sich, die Kioskbesitzerin lässt die Jalousien herunter, ein Paar fällt übereinander her, eine Frau wird im Auto vergewaltigt, während der Mann am Steuer sie nicht einmal bemerkt und Francois Hollande spricht vom Kriegszustand: Jederzeit könnte das behagliche Drinnen zuende, der Firnis der Zivilisation durchbrochen sein.

Überforderungsgesellschaft mit zwanzig Lolitas

Es ist unmöglich, alles zu erzählen, die Überforderung ist Konzept in dieser verstörenden Lebens-Geisterbahn, die jeden auf sich selbst zurückwirft. "Clean the set", ruft der Regisseur und lässt die Zimmer leeren, die Halle zur Ruhe kommen, ein blonder, kitschiger Engel schreitet versöhnlich durch das Elend – auf einmal bricht Selbstironie durch die pathetischen Untergangsvisionen. Zwanzig Lolitas in blauen Kleidchen tollen durchs Haus als fleischgewordene Verheißung auf ewige Jugend, sie tragen einen toten Napoleon, denn Kriegsherren sind out – die starken Bilder verenden in popkultureller Beliebigkeit, das ist dann zum Schluss etwas schade.

Dennoch: Kay Voges hat in Dortmund einen großen Abend geschaffen, eine philosophische Welt-Installation über das Draußen und das Drinnen, Arm und Reich, Grenzen und Übergänge. Darüber, wie Bilder und Worte den Blick auf das Echte verstellen können. Eine grandiose Meditation über die Gleichzeitigkeit, über die man eigentlich nicht schreiben kann, weil man sich hineinbegeben muss.

 

Die Borderline Prozession. Ein Loop um das, was uns trennt
von Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin
Regie: Kay Voges, Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Kostüme: Mona Ulrich, Komposition/Live-Musik: T.D. Finck von Finckenstein, Video-Art: Mario Simon, Live-Kamera: Jonas Schmieter, Dramaturgie: Dirk Baumann, Alexander Kerlin.
Mit: Andreas Beck, Ekkehard Freye, Frank Genser, Caroline Hanke, Marlena Keil, Bettina Lieder, Eva Verena Müller, Peer Oscar Musinowski, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth sowie Paulina Alpen, Amelie Barth, Carl Bruchhäuser, Thomas Kaschel, Nils Kretschmer, Anja Kunzmann, Lorenz Nolting, David Vormweg, Michael Wischniowski, Raafat Daboul.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, zwei Pausen

www.theaterdo.de

 

Wie das Borderline Prozession-Gastspiel beim Berliner Theatertreffen ankam, lesen Sie hier.

 

Kritikenrundschau

Regisseur Voges und seine Dramaturgen haben Miniszenen entwickelt voll "schmerzhafter Schönheit", so Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (28.4.2016), als würde jedes Ereignis erst dann "wirklich", wenn die Kamera es einfängt und auf Leinwand bannt. "Absolut beeindruckend ist, wie das Spiel fürs Publikum und das für die Kamera perfekt harmonieren – so als wären Kino und Theater nie getrennte Künste gewesen." Der technisch perfekte Bilderreigen lulle ein, die bedeutungsschwere Kombination aus Filmmusik und nachdenklichem Text beginne nach dem Anfang aber langsam zu nerven. Fazit: "Inhaltlich bleibt das Konzept sicherlich ausbaufähig. Als Formexperiment aber, als Reflexion über eine Theaterästhetik des Internet-Zeitalters setzt der Abend definitiv einen Standard."

"Manchmal fühlt man sich wie in einem Seminar für Wahrnehmungsphilosophie, übersetzt in ein prachtvolles Schauspiel", schreibt Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (18.4.2016). Voges arrangiere "einen Bilderrausch, bei dem alles im Moment geschieht, nichts aus der Konserve kommt, selbst die geisterhaften Momente, bei denen auf dem Bildschirm Aufnahmen von vor fünf Minuten eingeblendet werden, so dass Menschen sich verdoppeln oder verdreifachen". Zwar würden die gegenwärtigen Zustände finster gezeichnet, dennoch biete der Abend auch Momente des Trostes und der Leichtigkeit. "Voges hat sein Totaltheater perfektioniert. Was hier geschieht, ist aufregend, überraschend und frisch."

"Ein großer Abend", findet auch Arnold Hohmann auf derwesten.de (18.4.2016), auch wenn ihn das Ende nicht überzeugt. "Drei aufregende Stunden lang" webe Voges einen monströsen "Bilderteppich über die Gleichzeitigkeit des Seins, ein Gesamtkunstwerk aus szenischen Situationen, aus Musik, Zitaten und mobiler Video-Kamera".

Pressestimmen zum Gastspiel beim Berliner Theatertreffen 2017:

"'Borderline Prozession' schafft ein neues Genre – das gespielte multimediale Programmheft", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (9.5.2017). "Bertolt Brecht, Donald Trump, das alte Testament. Die Posaunen von Jericho. (…) Dirigiert von Kay Voges, dem Bonaparte aus dem Ruhrgebiet." Technisch-logistisch sei es "ein Riesending, doch zu sauber, zu clever. So oberflächlich wie die Oberflächen, die 'Borderline Prozession' angreift“, so Schaper: „Es geht um alles, und im Grunde passiert nichts."

Eine "stumpfe Gegenwartsbeschwörung, eine Anbetung der Gleichzeitigkeit" hat Dirk Pilz erlebt und schreibt in der Berliner Zeitung (9.5.2017): "Das ergibt ein Total-Theater, das nie auf den Gedanken kommt, seine eigene Weltwahrnehmung zu hinterfragen, das die Rede von der medialen Überforderung blindlings wiederkäut, das Wirklichkeitsabmalen schon für Gestalten, das Zitieren bereits für Begreifen hält."

Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (10.5.2017) möchte diese Produktion "nicht verpasst haben: ein inhaltlich zwar etwas verquastes, mitunter auch kitschiges, optisch aber superbombastisches, die Wahrnehmung multimedial auf höchstem Technikniveau aus den Angeln hebendes, die Sinne hypnotisierendes Mashup- und Totaltheater in live produzierten Bildern und Textzitaten. Ganz große Hightech-Oper in Endlosschleife. Prädikat: bemerkenswert."

Man könne "sich aufregen", was Kay Voges "hier an Bedeutungsvollem übereinanderstapelt und dann gleich wieder wegwischt, wie er Wissen, Bildung, Hochkultur häppchenweise einstreut, das hat etwas Großspuriges", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (12.5.2017). "Und dennoch entsteht in diesem Andeuten von Geschichten, in diesem Fluten von Bildern, in dem Hochtunen von Stimmungen – auch von Panik und Bedrohung – , in den Verweisen auf Tagespolitik durchaus eine Zustandsbeschreibung, in der man sich wiederfinden kann. Das unaufgeräumte Hirn, durch das dieser Trip hier geht, könnte das eigene sein."

Pressestimmen zum Gastspiel beim Berliner Theatertreffen 2017:

"Nirgends ist Ruhe an diesem Abend, alles in Aufregung. Es ist viel Hysterie, viel Groteskes, Überzeichnetes, nirgends ohrensesselhafte Erinnerungsgemütlichkeit", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (15.5.2017). Der Abend locke den Betrachter ins Netz der Erinnerungsstimmen, auf dass er sich darin verfange, sich aufrege, nach neuen, anderen Verknüpfungen suche. "Die Inszenierung erteilt seinem Zuschauer einen Auftrag: Das Erinnern hat gerade erst angefangen, es ist keine bloße Ost- oder Westaufgabe, es ist die Aufgabe eines jeden."

ein monströser Bilderteppich über die Gleichzeitigkeit des Seins, ein Gesamtkunstwerk aus szenischen Situationen, aus Musik, Zitaten und mobiler Video-Kamera

Die Gleichzeitigkeit des Seins | WAZ.de - Lesen Sie mehr auf:
http://www.derwesten.de/kultur/die-gleichzeitigkeit-des-seins-aimp-id11743986.html#plx410217548

ein monströser Bilderteppich über die Gleichzeitigkeit des Seins, ein Gesamtkunstwerk aus szenischen Situationen, aus Musik, Zitaten und mobiler Video-Kamera

Die Gleichzeitigkeit des Seins | WAZ.de - Lesen Sie mehr auf:
http://www.derwesten.de/kultur/die-gleichzeitigkeit-des-seins-aimp-id11743986.html#plx410217548auf derwesten.de (18.4.2016)

Kommentare  
Borderline Prozession, Dortmund: Link
Siehe:

"Was so wenig schmeichelhaft klingt, ist dabei nicht nur ein Problem der Generation Y, sondern das des kulturellen Zeitgeistes insgesamt. Dieser
charakterisiert sich durch eine Affinität zur Kopie und weist eine regelrechte Bruch-Aversion auf. Die Kopie ist die höchste Form der Orientierung am Bestehenden und zugleich ein Offenbarungseid, ja «der Tod», wie es da Vinci ausdrückte. In dem Masse, wie kopiert wird, lässt sich die fehlende Veränderungsdynamik einer Gesellschaft messen. Der Plagiator kopiert nicht nur aus Faulheit, sondern weil er schlicht keinen Sinn darin sieht, eigene Fussstapfen zu hinterlassen. Er sagt «dito», und «ganz meine Rede». Für ihn ist alles gut, so wie es ist. Jede Kopie ist eine Kapitulation vor der Autorität des Anerkannten."

(Quelle: http://www.nzz.ch/meinung/kommentare/generation-y-generation-fake-ld.10863)
Borderline Prozession, Dortmund: nicht verstehen, sondern erleben
Überfordert wäre ich, wenn ich versuchte, das alles zu verstehen. Doch im Programmheft heißt es so schön: "Es gibt nichts zu verstehen, aber viel zu erleben." Für mich war die Premiere ein einzigartiges Erlebnis, das noch lange nachwirkt. Während der 3,5 Stunden (!) taucht man immer tiefer ein in diese Welt.
Borderline Prozession, Dortmund: Videobericht
"Eine Kamera kreist ständig um das Haus, projiziert Bilder in Endlosschleife auf Leinwände - der Zuschauer kann gleichzeitig das Geschehen innen und außen mitverfolgen und zwischendurch seinen Platz wechseln. Dreieinhalb Stunden ungewöhnliches Musiktheater in der Lagerhalle, ein Kunstwerk zwischen Performance und Installation."

3sat-Mediathek-Link: http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=58724
Borderline Prozession, Dortmund: nix Neues
Was ist denn dran jetzt neu? Das habe ich bei Katie Mitchell schon vor 7 Jahren gesehen.
Die Borderline Prozession, Dortmund: Frage
Was ist "popkulturelle Beliebigkeit"?
Borderline Prozession, Dortmund: sprachforschend gedeutet
Ich weiß nicht, was damit gemeint ist, finde aber die #5 Fragestellung interessant: Grammatikalisch grob besehen- Sprachforscher können das sicher dezidiert erörtern, haben wir es mit einem Substantiv, einem substantivierten ehemaligen Verb, das sich aus „nach Belieben, je nach Geschmack, zufällig wählen“ gebildet wurde und durch den Anhang „keit“ an die Substantivierung dies als Gewohnheit, als allgemein üblich, kennzeichnet. Schon die Grammatik zeigt hier: das Verb, welches Handeln kenzzeichnet, ist schon bis zur Unkenntlichkeit hinter Substantivierungen verschwunden... „Beliebigkeit“ in unserem heute möglichen Verständnis von Sprachwissen, wäre demnach die allgemein üblich gewordene Gewohnheit, Entscheidungen kausaler, nominaler, zeitlicher und örtlicher Natur nach persönlichem Gusto, bevorzugt zufällig, eben "beliebig" zu treffen. Das Attribut „popkulturelle“ würde dann bedeuten, dass diese „Beliebigkeit“ genannte Entscheidungsgewohnheit eine Gewohnheit ist, die man ursprünglich der Popkultur entlehnt hat; von ihr angenommen und allgemein, gesamtgesellschaftlich in die Kultur eines mehr oder weniger großen Kulturkreises übertragen hat. Die Beliebigkeit als Wahlverfahren in bewusst oder unbewusst anstehenden Entscheidungsprozessen verdrängt dann alle anderen Möglichkeiten, Auswahl und Entscheidungen zu treffen. Ich weiß nicht, ob das prinzipiell der Fall ist. Ich würde sagen, dass Beliebigkeit zu jeder Zeit als bequemerer Weg zu Auswahl und Entscheidungen zu kommen bevorzugt wurde und werden wird. Man müsste für eine Erklärung des zitierten Begriffpaares genauer prüfen, welche Philosophien genau hinter der Popkultur, wie wir sie wohl im Moment allgemein interpretieren als Begriff, stehen. Und ob sie für uns heute und im Moment noch genauso gültig sind und sein können wie etwa ab Ende der 60er Jahre in Amerika beginnend bis höchstens Ende der 80er Jahre im wesentlichen global gültig geworden. Ganz oder in Teilen. Ich meine, das ist in Gänze nicht mehr der Fall. Und das diese Philosophien in den Teilen, die ihre Gültigkeit behalten haben für unsere Zeit, nicht korrekt erfasst und beschrieben werden. Auch nicht in der zeitgenössischen Philosophie und Kulturwissenschaft. Weil sie, wenn überhaupt, ahistorisch betrachtet werden wie Moden. Nicht wie etwas dialektisch bedingt Gewordenes und Vergangenes, sich in gegenwärtigen Philosophien Auflösendes. Vielleicht ist ein Grund für diese ahistorische - beliebige - Betrachtungsweise, dass es bis heute viele gern so haben oder hätten, dass die Popkultur weiter allgemeiner kultureller Konsens ist, weil sie die Popkultur persönlich oder überliefert durch ihre Elterngeneration als angenehm empfunden haben aus verschiedensten Gründen. – Ein weites Feld, das diese Ihre Frage eröffnet. Über Kommentarspalten nicht seriös zu beackern.
Borderline Prozession, Dortmund: Gewucher der Verstörung
Was ist hier passiert? Ein verwirrendes, überforderndes, flirrendes Mit-, Über-, Durcheinander von kaum mehr zu zählenden Ebenen, visuellen, akustischen, gedanklichen und, ja, emotionalen. Hier ist alles live. Regisseur Kay Voges läuft durch die Szene und gibt Anweisungen, Texte werden eingespielt und eingesprochen, die Tonspur jeden Abend neu abgemischt, alles ist hier und jetzt und nicht reproduzierbar. Der Zuschauer wohnt der Produktion der Bilder bei und verliert sich doch immer wieder in und stößt sich an ihnen, Illusion und Wahrheit bilden ein unsicheres, nicht zu trennendes Paar. Hier stülpt sich alles auf- und ineinander und ist doch nichts aufgesetzt, ein fast natürlich, ja, organisch zu nennendes Gewucher der unentwirrbaren Verstörung, die wir Leben und Welt nennen. Roosevelt und Bach, Deleuze und Mahler, alles ist eins und entzweit, ein Astronaut irrt verständnislos durch ein konstruiertes und doch irgendwie gewachsenes Universum, das Bilder produziert, unaufhörlich, obsessiv, Bilder, unter denen wir wählen müssen und vielleicht nur scheinbar können. Wer trägt die Verantwortung, was ist das Ich, das am Schluss abbricht, was kann es ausrichten, was sollte es versuchen. Es sind Fragen, die auftauchen, sich visualisieren, sich brutal brechen und natürlich nicht beantwortet werden oder werden können. Sie entlassen uns in eine Nacht, die taghell ist. Oder einen stockfinsteren Tag. Vielleicht beides, je nachdem, welches Bild man wählt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/07/02/vom-bild-das-wir-uns-machen/
Die Borderline Prozession, Dortmund: überwältigend
Ein ungemein spannender, größenwahnsinniger und überwältigender Theaterabend, auf allen Ebenen: Auge, Ohr, Hirn und Herz. Bin froh, daß ich es endlich sehen konnte, ein besonderes Ereignis. Proppevoll und standing ovations.
Borderline Prozession, TT Berlin: nix neues
Spannend war hier gar nichts. Immer das gleiche, das hätte man nach einer Viertelstunde kapiert. Trotzdem noch eine Stunde bis zur Pause. Dem Regisseur dürfte man durchgehend zusehen, wie er noch wild zur Technikregie gestikulierend im letzten Moment versuchte was zu retten, aber das wirkte nur hilflos. Im zweiten Teil das gleiche, aber es wurde mal geschossen. Sonst halt ständig schlaue Texte zu schrecklich klischeehafter Musik. Die Texte werden halt aufgesagt. Na und? Im dritten Teil ein paar Witzchen. Da wüsste wohl jemand schon auf der Probe, dass der Fall verloren war. Nur die Theatertreffen Jury hat es nicht gemerkt. Zuviel Fritsch macht eben blind.
Borderline Prozession, TT Berlin: VR noch besser
Die Slots zu diesem Stück, die kürzlich auf der (sehr inspirierenden!- danke Böll-Stiftung!) Konferenz Theater und Netz präsentiert wurden, haben da noch toller gearbeitet. Für alle, die keinen Platz dafür bekamen ein Erfahrungsbericht, gewiss sehr subjektiv: Man hüpft laseresiert erst einmal verhältnismäßig lange, auch wenn man schnell hüpft!, durch eine überaus gut gemachte VR bis man einen VR-Zuschauerraum erreicht. Dabei kann man durch Wände zum Beispiel. Dann geht man links und rechts, wenn man will, die Gassen ab, kann in der rechnerprogrammierten VR-Bühnenlandschaft Treppen steigen, herunterspringen und über Erdlöchern oder tiefen Abgründen nur deshalb stehen, weil ein lieber Mensch durch Anfassen einen daran erinnert, dass man in echt ja nur auf einem richtigen Boden steht und alles Supergefährliche im Körpergefühl ganz ohne Bungeesprungsicherung nur durch die Brille gesehen eingebildet, ja gefakt!!!, ist. Und wenn man dann ebenso gelangweilt wie durch echte ordentlich aufgeräumte durch die VR-Theater-Gassen läuft, kann man sich ausgerechnet in die Borderline-Prozession vom Voges hereinbeamen. Und sich auf diese Art VR-"Erinnerungen" (Das ist jetzt wieder eine "Stückerinnerung") an exakt dessen Digital-umschlichenes bespieltes Puppenhaus "erinnern". Weil die Erinnerung so kostbar gemacht ist, natürlich wie an eine ungeheure Kostbarkeit. Ich meine, in Träumen ist es ja anders, man kann auch fallen, fliegen, in sehr gefährlichen Situationen etwa sein etc. - ABER man kann sicher sein, dass man sich bei allem, an das man sich erinnert, man selbst bestimmt, woran man sich erinnert, auch wenn man es gar nicht so autoritär bemerkt, weil es das in jedem Fall eigene Hirn auswählt. Hier ist das jedoch anders. Hier muss ich mich in der VR an Kay Voges Inszenierung erinnern, die ich nicht einmal begehrte in echt zu sehen! - Während all dessen wird ein Text eingesprochen, der klingt, als hätte eine Heilpraktikerin einen aus sämtlichen deutschsprachrigen Affirmationssprüchen der Schweizerischen Vergesellschaftlichen Psychotherapeuten zusammengeboteten Flow an den Mann oder die Frau auf der Yogamatte zu bringen...
Schlussfolgerung aus der Probe-Erfahrung:
Die Potentiale von VR - weiß ich seither - sind enorm für das Theater! - Sobald das Theater nämlich damit durch ist, sind diese Potenziale erstklassig als ausbaufähig, um Foltermethoden aus der Programmier-Methode zu generieren. -
Und das meine ich - so leid es mir tut und so wenig das begriffen werden wird von den begeistert sich ausprobierenden Nerds - t o t ernst.
Bei der Slot-Probe sind Händchenhalter dabei, wenn das Standard würde jedoch nicht. Und die geboostete Körpererfahrung kann bei sehr wahrnehmungsdurchlässigen Menschen - Kinder sind solche zum Beispiel und ich gestehe offen, ICH funktioniere da schon lebenslang wie ein Kind - zu Herzrhythmusstörungen, Kammerflimmern usw. führen. Und zwar, weil sich das Gehirn an das fremdbestimmende Körpererfahrungserlebnis erinnert... Bitte liebe VR-Theater-Befeuerer, bedenkt das VOR einem Einsatz und auch VOR der Investition in diese Technik. Und BEVOR Programmiererdramaturgen mit herzlich gerner EU-Förderung in Theaterstellenpläne eingearbeitet werden. - Danke für ein kurzes Innehalten -auch wenn das die Gamebranche ungerne hören wird - sie liest das hier ja nicht.
Borderline Prozession, tt 2017: Namedropping
Der technische Aufwand ist immens. Der Mut, weit abseits des klassischen Stadtheater-Repertoires ein Gesamtkunstwerk aus Musik-, Kunst-, Theater- und Filminstallation auszuprobieren, ist respektabel. Statt eines dramaturgisch überzeugenden Musik- und Zitatengewitters bekommt das Publikum zu viel Namedropping, lieblos aneinander gereihte, teils auch nur pseudo-philosophische Versatzstücke um die Ohren gehauen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/05/08/tt-2017-die-borderline-prozession-mit-versatzstuecken-und-name-dropping-in-schoeneweide/
Borderline Prozession, tt17: Link-Hinweise
Radio Eins:

https://www.radioeins.de/programm/sendungen/mofr1013/_/die-borderline-prozession.html


Berliner Morgenpost:

https://www.morgenpost.de/kultur/article210507315/Wie-im-Rausch-Ein-Theater-das-alles-will-und-schafft.html

Der Tagesspiegel:

http://www.tagesspiegel.de/kultur/theatertreffen-borderline-prozession-nichts-so-richtig-und-alles-zugleich/19756990.html
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