Dantons Tod - Martin Pfaff holt Georg Büchners Drama in Detmold ganz nah an uns heran
Auf dem Leichentuch von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
von Sascha Westphal
Detmold, 6. Mai 2016. Ein Vorhang in den Farben der französischen Nationalflagge hängt von Bühnenhimmel herab und bedeckt auch gleich noch die gesamte Vorderbühne. Seine besten Tage hat er allerdings schon hinter sich. Die Farben leuchten längst nicht mehr, und nicht nur auf dem weißen Streifen zeichnen sich deutlich Flecken ab. Das Banner der französischen Revolution war nun einmal von Anfang an ein riesiges Leichentuch. Das wissen natürlich auch Georg Danton, seine Frau Julie und seine engsten Vertrauten Camille Desmoulins, Philippeau und Herault-Séchelles, und sie ahnen ebenso, dass ihre Zeit sich mehr und mehr dem Ende zuneigt.
Die Macht liegt in diesen ersten Apriltagen des Jahres 1794 schon in den Händen anderer. Aber nichtsdestotrotz spazieren Danton und die anderen vorerst leichten Schrittes über die Trikolore. Deren Farben sind zumindest in diesem Moment noch der Grund, auf dem sie stehen.
Kein Wort ist nur ein Wort
Mit der alles verdeckenden Flagge hat Mathias Rümmler einen extrem aufgeladenen Raum für Martin Pfaffs Inszenierung von Georg Büchners fatalistischem Revolutionsdrama geschaffen. An diesem Ort ist kein Schritt nur ein Schritt und kein Wort nur ein Wort. Alles, was wir heute über die französische Revolution und die Zeit seither wissen, ist in diesem auf den ersten Blick so simplen Bühnenbild präsent. Die Fahne und ihre Farben reichen aus der Vergangenheit heraus in unsere Gegenwart. Pfaff und Rümmler verstehen Büchners Stück nicht als ein Historiendrama. Für sie ist es eher ein zeitloses Lehrstück über Ereignisse und Vorgänge, die sich zu den unterschiedlichsten Zeiten und an den unterschiedlichsten Orten wiederholen.
So treten Markus Hottgenroth, Stephanie Pardula, Lukas Schrenk, Robert Oschmann und Marie Luisa Kerkhoff zu Beginn zwar schon in den Kostümen von Danton, Julie, Camille, Philippeau und Herault-Séchelles auf. Aber die Texte, die sie zunächst sprechen, stammen von Peter Handke: "Statt Sie könnten wir unter gewissen Voraussetzungen auch wir sagen." Vor dem zweiten "Wir" machen die fünf allerdings eine sehr lange Pause. Es ist ein großer, ein folgenschwerer Schritt, der von dem "Sie" zum "wir" führt. Vielleicht weniger für die Spieler auf der Bühne, aber für das Publikum ganz gewiss. Dabei geht es keineswegs um eine Beschimpfung, die bei Handke durch das "wir" einfacher wird, und auch nicht um eine einfache Form von Einfühlung. Identifikation ist nicht Pfaffs Intention. Er will vielmehr einen gemeinsamen Denkprozess anstoßen. Die oben auf der Bühne und die unten im Saal sollen eins werden in der Reflexion der Geschehnisse, die 1794 zu der Hinrichtung von Danton und seinen Verbündeten führen mussten – wobei dieses "mussten" mit einem großen Fragezeichen versehen ist.
Bei Büchner heißt es einmal: "Setzt die Leute aus dem Theater auf die Gasse!" Bei Martin Pfaff dreht sich dieser Satz um: "Setzt die Leute aus der Gasse ins Theater!" Denn in diesem ganz besonderen Raum, der die Zeit überwindet, in dem das Vergangene wieder Gegenwart sein kann, eröffnen sich neue Perspektiven für das Sehen wie das Denken. Wie von Handke beschrieben und gefordert, spricht und spielt Pfaffs Ensemble immer wieder direkt zum Publikum. Markus Hottgenroths Danton und Hartmut Jonas’ Robespierre mögen die Antagonisten des Stücks sein, aber ihre Ansprechpartner sind die Zuschauer. Und sie sind wiederum deren Spiegel.
Die Müdigkeitsgesellschaft
Das Spiel von Hottgenroth und Jonas wirkt trotz ihrer leicht historisierenden Kostüme vollkommen gegenwärtig. Beide verkörpern Facetten heutiger psychologischer Zustände. Hottgenroths Danton befindet sich in einem Stadium fortwährender Müdigkeit. Er ist überfordert von den Umständen und traumatisiert von allem, was er getan hat. Nicht zufällig ist sein hellbrauner Leinenmantel bis fast zur Hüfte mit roter Farbe, Blut, getränkt. Ihm fehlt die Kraft und der Wille etwas zu verändern. Selbst wenn Hottgenroth seine sonst meist sanfte, leicht ermattete Stimme dann doch einmal lautstark erhebt, schwingt in seiner Intonation eine tiefe Skepsis mit. Die Worte kommen noch über seine Lippen, aber sie haben keine Kraft mehr. Auch Jonas’ Robespierre ist offensichtlich ein Überforderter. Wenn er alleine ist, bricht dieser Kämpfer der Tugend regelrecht zusammen. Dann verfolgen ihn unsichtbare Geister, die ihn hetzen und zerstören. Seine Reden sind keine Alternativen zu Dantons Fatalismus. Sie sind nur dessen Kehrseite, Hyperaktivität, die genauso ins Leere führt. Die Ideale der Revolution und ihre Hoffnungen gehen den gleichen Weg wie der Schrecken und die Tugend, über alle legt sich das dreifarbige Leichentuch.
Dantons Tod
von Georg Büchner
Regie: Martin Pfaff; Ausstattung: Mathias Rümmler; Dramaturgie: Christian Katzschmann; Musik: Frank Niebuhr.
Mit: Markus Hottgenroth, Hartmut Jonas, Marie Luisa Kerkhoff, Henry Klinder, Recardo Koppe, Robert Oschmann, Stephanie Pardula, Lukas Schrenk, Karoline Stegemann, Adrian Thomser. Dauer: 2 Stunden 5 Minuten, keine Pause
www.landestheater-detmold.de
Ilse Franz-Nevermann von der Lippischen Landes-Zeitung (9.5.2016) lobt die Schauspieler: "Markus Hottgenroth und Hartmut Jonas erweisen sich in der Regie von Schauspieldirektor Martin Pfaff als faszinierende und ebenbürtige Kontrahenten", Henri Klinder sei ein "großartiger" 'Simon'. Mit der Inzsenierung scheint die Kritikerin aber nicht ganz warm zu werden: "Immer wieder wird das Publikum einbezogen und – damit es auch jeder merkt – mehrfach durch gleißendes Scheinwerferlicht 'erfreut'. Dazu ein Kommentar Kurt Tucholskys: 'Sag mal, liebes Publikum – bis du wirklich so dumm?'"
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