In Anmut sterben

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 7. Mai 2016. Nein, das verkündet wahrlich nichts Gutes: der dunkelrote Vorhang im Bühnenhintergrund, der sich Millimeter um Millimeter bedrohlich nach vorne schiebt, begleitet von flüsternden, metallisch sirrenden Elektroklängen. Dann sieht man plötzlich nackte Füße, die unterm Vorhang hervorlugen, und langsam schält sich ein großer, kräftiger Mann heraus, der, ansonsten nackt, in einem mehrlagigen, schwarzen Tüllrock steckt, der ihn wie einen Schutzwall umgibt: Peter Kurth alias Willy Loman, der gescheiterte, lebensmüde Vertreter einer New Yorker Firma, dem Arthur Miller schon im Titel das baldige Ende voraussagte. So beginnt Robert Borgmanns Inszenierung des US-amerikanischen Bühnenklassikers von 1949 "Tod eines Handlungsreisenden" im Stuttgarter Schauspielhaus.

Wie er dasteht, mit hängenden Schultern, als ruhe darauf die ganze Last dieser Welt, wirkt es, als hätte Miller Kurth die Rolle auf den Leib geschrieben, diesem großen schweren Mann, dessen Bühnenpräsenz per se Melancholie verstrahlt. Jedes seiner Worte, authentisch und natürlich gesprochen, kündet von Traurigkeit, Resignation, Hoffnungslosigkeit.

Todeines1 560 Julian Roeder uEine Familie in Auflösung: Susanne Böwe, Peter Kurth, Manolo Bertling, Manuel Harder
© Julian Röder

Und welche erbarmungslose Einsamkeit umgibt ihn auf der meist völlig leer bleibenden Bühne, die nur Scheinwerfer-Leisten rahmen. In der Weite des Raumes verlieren sich die Menschen, und ihre Lebenslügen werden noch schärfer gezeichnet. Bloß nicht die Wahrheit sagen: Ob es sich um Lomans Suizidversuche handelt, die Ehefrau Linda den Söhnen Biff und Happy verschweigt, oder – das inszeniert Borgmann in den Text hinein – um die verkappte Homosexualität von Happy oder um die Diebstahldelikte von Biff, der aus der Spur geriet, nachdem er seinen Vater beim Seitensprung ertappt hatte. Und immer wieder schiebt sich der rote Vorhang nach vorne und nach hinten, ganz langsam, so das man‘s kaum bemerkt, verschluckt Personen und gibt sie wieder frei. Manchmal öffnet er sich plötzlich in die irreale Welt, die Halluzinationen des Willy Lomans. Unterm Lebensdruck träumt er sich in die Vergangenheit, aus der sich langsam Schuldgefühle formieren, die immer mehr zum Alptraum werden.

Der widerlegte Traum

Die Geistererscheinung von Willis verstorbenem Bruder Ben, dem erfolgreichen, reichen Aufsteiger, kleidet Borgmann ins Perücken- und Gehrock-Outfit des 18. Jahrhunderts, der europäischen Kolonialzeit in Nordamerika, als der Mythos vom freien Land entstand, von der besten aller Welten, in der jeder etwas werden kann. Und der mit Willy Lomann erbarmungslos widerlegt wird: Für ihn mündet der American Way of Life nicht in Freiheit und Wohlstand, sondern in Demütigungen und Jobverlust kurz vor dem Ruhestand. Auch wenn das Häuschen fast abgezahlt ist: "Ne 25-jährige Hypothek zu überleben, das ist schon was", sagt Willy resigniert. Er gehört zu den Ausgebeuteten, die das kapitalistische Wirtschaftssystem zum alten Eisen wirft, wenn sie keinen Nutzen mehr bringen. So kippt ihn sein Chef nach der Kündigung vom Rollstuhl wie Müll. Und Nachbar Charly wirft ihm die Almosen herablassend vor die Füße.

Die beiden Livemusiker, die der leeren Bühne sanfte monotone Klanglandschaften gegenüberstellen, bringen immer wieder "Sometimes I feel like a motherless child" ins Spiel, ein berühmter Spiritual afrikanischer Sklaven, der von Einsamkeit und der Sehnsucht nach Freiheit spricht. Ein Lied der ausgebeuteten, gequälten Menschen, der grausamen Kehrseite des American Dream. "Desire" prangt irgendwann in Leuchtziffern über der Bühne. Die Sehnsucht nach der Erfüllung des Verheißenen ist omnipräsent, scheitert aber an der Realität, verpuppt sich in Lebenslügen, die aus dem Familienverband eine Hölle auf Erden machen.

Alle kämpfen – und verlieren

Aber das ist die Qualität dieser Inszenierung: Sie macht die Protagonisten nicht lächerlich – selbst sein merkwürdiges Tüllrock-Outfit trägt Kurth mit Würde. Sie alle kämpfen. Susanne Böwes Linda, das ergraute Hausmütterchen, die ihren ganzen Lebenssinn auf den Mann gesetzt hat und nun die Söhne vollblubbert mit abgestandenen Phrasen, Willy habe sein Leben für die Zukunft der Söhne geopfert undsoweiter. Und die Söhne, die um die Liebe des Vaters buhlen und einen Brüderkampf fechten: Biff (Manuel Harder), der die Wahrheit ans Licht holen will, Happy (Manolo Bertling), der das mit Gewalt verhindern will.

Es gibt keinen Ausweg. Biff wird scheitern wie sein Vater. Wird nicht seinen Lebenstraum vom Farmerleben nachgehen, sondern in der Stadt untergehen. An selber Stelle wie zuvor der Vater sitzt er mutterseelenallein auf der Bühne – und seine längst fällige Aussprache mit dem Vater findet ohne letzteren statt. Das Ende des Dramas, die Dialoge der Familie an Lomans Grab und Lindas Erkenntnis, dass Willys Lebensversicherung ihr Schuldenfreiheit gewährt, kommt aus dem Off. Und Peter Kurth tanzt dazu einen so grazilen Tanz, wie er eben mit so einem kräftigen Körper möglich ist. Wie der Schwan im berühmten Ballett: sterbend in Anmut und opferbereit. Ein Bild so traurig, so erschütternd, so schön.

 

Tod eines Handlungsreisenden
von Arthur Miller
Deutsch von Katrin Janecke
Regie und Bühne: Robert Borgmann, Kostüme: Birgit Bungum, Musik: webermichelson, Video: Lianne van de Laar, Licht: Gregor Roth, Dramaturgie: Jan Hein.
Mit: Manolo Bertling, Susanne Böwe, Manuel Harder, Birgit Unterweger, Robert Kuchenbuch, Peter Kurth, Elmar Roloff, Sven Michelson, Philipp Weber.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Nicole Golombek von den Stuttgarter Nachrichten (9.5.2016) ist zunächst begeistert. Wie aktuell und tragisch das 1949 uraufgeführte Stück heute noch ist, sehe man bis zur Pause in Robert Borgmanns fein gearbeiteter Inszenierung. Aber: "Geradezu geschwätzig geht es nach der Pause zu." Borgmann verliere sich in prätentiösem Aktionismus. Dass Menschen im Alter ausgemustert werden, stelle er mit Neonschrift auf einem Podest grell aus: "Desire, Begehren, auf der einen Seite, auf der Rückseite in Großbuchstaben Capitalism." Die Kritikerin ist am Ende enttäuscht, "da Borgmann nur eine von zwei Stunden lang auf seine Klugheit und Subtilität vertraut – und auf seine fabelhaften Schauspieler."

Wie Borgmann Millers Drama neu ausleuchte und in ein surreales Traumspiel verwandele, entwickelt einen ganz eigentümlichen Sog, findet Otto Paul Burkhardt von der Südwest Presse (9.5.2016). Obwohl Borgmann werknah erzähle, blende er Traumsequenzen ein, in denen die Zeit still steht. "Kurzum: Borgmann findet für den oft verfilmten Klassiker eine ungewöhnliche, stille Lesart, die tiefer lotet. Nicht alles trifft, doch der Zugriff überzeugt. Sehr elegisch."

"(W)o bleibt das Positive in dieser konzeptlos verkopften Inszenierung?", fragt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (9.5.2016). Statt sich um Psychologie zu kümmern, hangele sich Borgmann von Einfall zu Einfall. Der Abend leide unter einem "Heer voller Anspielungen, zu der auch der personifizierte amerikanische Traum gehört". Borgmanns Inszenierung sei trotz der großen Wandlungsfähigkeit Peter Kurths "verkopft".

"(W)ie Kurth die Tragödie seines Scheiterns in seinem Kopf nachspielt, das ist schon großes Theater", staunt Martin Halter von der FAZ (10.5.2016). Leider wolle sein Regisseur Borgmann ständig zeigen, was er könne. Vor lauter Bildern, Action und Theater-im-Theater-Effekten verliere er das Vater-und-Sohn-Drama mehr und mehr aus den Augen. "Als der Vorhang dann fällt, steht auch die Theatermagie entzaubert und nackt da: Bühnenarbeiter bedienen Wind- und Schneemaschinen, zünden Kracher und schieben Pappmaché-Pferde herein." Der Spuk sei zwar rasch wieder vorbei, Kurth laufe noch einmal zu großer Form auf, am "doch recht länglichen Ende" sitzte er aber einsam auf der Bühne und fühle sich "verloren wie ein vaterloses Kind".

"Borgmann habe mutig zugegriffen und ziemlich viel richtig gemacht", schreibt Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (10.5.2016). Bewusst spiele er mit stilisierten Figurenbildern und lasse sich ernsthaft auf den fantastisch überzeichneten psychologischen Realismus der Vorlage ein. Zentrale Szene inszeniere er auf einer blanken Bühne kraftvoll naturalistisch und ohne Scheu vor Pathos. Peter Kurth spiele eine untergründige Aggressivität mit und lasse die Stimme entgleisen, "als wolle er die ganze Familie mit Lautstärke erschlagen". "Er temperiert das aber so, dass der Schmerz hinter der Wut spürbar ist – bevor er wieder ganz weich wird wie ein schutzbedürftiger Junge."

 

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