Der mysteriöse Ozean im Kopf

von Martin Pesl

Wien, 10. Juni 2016. Wäre es nicht schön, wenn Alfred Hitchcock und Stanley Kubrick gemeinsam einen Sci-Fi-/Psychothriller mit Orson Welles gedreht hätten? Andriy Zholdaks Inszenierung "Solaris" für die Wiener Festwochen und das Mazedonische Nationaltheater sieht in einzelnen Momenten so aus: Wenn das leere und doch abgebrühte Heldenhaftigkeit ausstrahlende Gesicht des Schauspielers Dejan Lilić halb im Licht, halb im Schatten und auch noch vergrößert auf die Leinwand oberhalb projiziert ist. Oder wenn er im weißen Raumanzug einen Meteoriten anstarrt, der über einem sterilen weißen Raum und einem weiß gekleideten kleinen Mädchen schwebt.

Der Roman als Bildgenerator

Aber da ist nicht Kubrick, nicht Welles, nicht Hitchcock. Auch nicht Andrei Tarkowski, der den Roman des polnischen Autors Stanisław Lem schon mal verfilmt hat und den Zholdak als Vorbild nennt. Das ist nur die Oberfläche, das sind nur Bilder. Der ukrainische Regisseur macht ausgewiesenermaßen Bildertheater. Die Absurdität des Weltalls einerseits, andererseits die Traumwelt von einem, der den Verstand verliert: das öffnet Tür und Tor für bodenlose Assoziationsfreiheit. Alles kehrt symbolträchtig wieder: Der Vogel, den Kris als Kind von seinem Vater gezwungen wurde zu schießen, liegt Stunden später überlebensgroß und tot da. Die Walnüsse, die er auf den Sarg seiner toten Braut fallen lässt, hat er als Kind in der elterlichen Holzhütte schon geknackt.

Solaris 1 560 c Daniel Zholdak uSchneewittchen im Raumanzug? © Daniel Zholdak

Überraschenderweise sind es auf dreieinhalb Stunden gerechnet erstaunlich wenige surreale Bilder, denen Zholdak das Publikum bei dieser Premiere in der riesigen Halle E im Museumsquartier aussetzt – besagte Holzhütte etwa genügt als Setting für den gesamten zweiten Teil nach der Pause. Wie man es von den Arbeiten der Bühnenbildnerin Monika Pormale für Alvis Hermanis kennt, ist die Hütte detailreich ausgestattet, heimelig und überhaupt nicht spacig.

Seltsame Kräfte

Aber dieser Abend ist nicht nur BIlder- sondern auch Tönetheater. Zusätzlich zu Vladimir Klykovs filmisch dräuendem Score hört man fast jeden Schritt, jedes Blättern in Büchern, jedes Waschen von Händen in Schuld oder Unschuld künstlich auf ein Vielfaches verstärkt. Das nervt bald, hält den Abend aber immerhin ästhetisch zusammen. Rein oberflächlich betrachtet ist er eine runde Sache, nur inhaltlich nimmt er einen nicht auf die Reise mit.

Obwohl den Regisseur die Romanhandlung augenscheinlich nur als Inspirationsquelle für eigene Fantasien interessiert, blendet er eingangs brav eine Texttafel mit der Ausgangssituation ein: Der Wissenschaftler Kris Kelvin wird auf den Planeten Solaris entsandt, um die seltsamen Kräfte des dortigen Ozeans zu erforschen. Alibihalber gewährt Zholdak dann noch den mitstationierten Kollegen Snaut (Aleksandar Mihajlovski) und Sartorius (Aleksandar Gjorgjieski) genau je einen Kurzauftritt. In weiterer Folge kehren nur Kris und seine Jugendliebe Rheya (Darja Rizova) regelmäßig wieder, und zwar je einmal in älter und einmal als Kinder: Dario Eftimovski und Kalina Tripkova sorgen in entsprechender Kostümierung abwechselnd und gemeinsam für adäquates The Shining-Schaudern.

Solaris 2 560 c Daniel Zholdak uDas Summen der Synapsen: psychedelisches Maschinengewitter  © Daniel Zholdak

Langsame Hypnose

Die philosophische, auch wissenschaftskritische Komponente des Romans von Stanisław Lem lässt Zholdak weg, er konzentriert sich ganz aufs Psychologische. Wie der mysteriöse Ozean auf Solaris Kris Kelvins Kopf durcheinanderbringt und seine Erinnerungen heraufbeschwört, das regt die Fantasie des ukrainischen Regisseurs an. Auf freudianisch Verdrängtes, auf Schuld- und Gewissensfragen läuft es hinaus, und, wie ein eingeblendetes Gemälde des vom Kreuz abgenommenen Christus und dem Verzweiflungsschrei "Where are you?" am Ende unmissverständlich erklärt: auf eine Gottsuche natürlich auch. "Ich weiß, dass der Teufel allgegenwärtig ist und man ihn nicht loswerden kann, indem man sich in etwas Reines versenkt – auch dort ist er präsent", zitiert das kleine Mädchen kurz vor Schluss den Komponisten Alfred Schnittke.

Das Thema Glauben (versus Wissen) führt die Inszenierung gewissermaßen wieder zu Lems Roman zurück, aber zu dessen Komplexität fehlen ihr ein paar Lichtjahre. Hier wirkt es, als hätte ein Therapeut Kris Kelvin einfach in Hypnose versetzt, um ihn mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren. Tatsächlich könnte man die weiße Liege, an der er sich für die sechzehnmonatige Reise nach Solaris anfangs festschnallt, folgendermaßen interpretieren: eine lange und vor allem langsame Hypnose mit dem Tempo der Schwerelosigkeit – keine sechzehn Monate, aber auch dreieinhalb Stunden sind dafür lang genug.

 

Solaris
nach Motiven von Stanisław Lem
Regie: Andriy Zholdak, Bühne: Andriy Zholdak, Monika Pormale, Kostüme, Bühnenbildassistenz und Videokonzept: Daniel Zholdak, Musikalische Komposition und Sound: Vladimir Klykov, Licht: Monika Pormale, Andriy Zholdak
Mit: Dejan Lilić, Darja Rizova, Dario Eftimovski, Kalina Tripkova, Aleksandar Mihajlovski, Aleksandar Gjorgjieski, Slaviša Kajevski, Arna Šijak/Sofia Nasevska-Trifunovska, Dragana Levenska.
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.festwochen.at
www.mnt.mk

 


Kritikenrundschau

"Die monumentale Demonstration dieses (männlichen) Schuldmahlstroms erlahmt an symbolischer Überfrachtung und Schwülstigkeit." So schreibt Margarete Affenzeller vom Standard (11.6.2016) von einer "insgesamt viel zu trägen Inszenierung".

Viele "Schleifen" hat Norbert Mayer von der Presse (12.6.2016) an diesem Abend erhebt, und zwar "bis es schmerzt, schließlich langweilt". Die "Botschaft" der Inszenierung "lautet wohl: Schaut her, wie tief und avantgardistisch wir sind! Zwar gelingen punktuell fantastische Bilder, aber meist kratzt die Aufführung nur an der Haut."

Barbara Villiger Heilig von der Neuen Zürcher Zeitung (13.6.2016) schreibt: "Trotz bombastischer Symbolbilderwucht sieht man der Produktion an, dass sie unfertig ist." Quäle der erste Teil wenigstens aus inhaltlichen Gründen, bestehe die Quälerei des zweiten Teils in kitschtriefenden Banalitäten.

 

 

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