Der Eintritt kostet den Verstand

von Geneva Moser

Zürich, 6. Oktober 2016. Ann Liv Youngs "Cinderella" im Jahr 2013 in der Gessnerallee Zürich: Achtung Pathos, dieser Abend hat mein Leben verändert. Die Performerin hat alle (meine) Grenzen auf rätselhafte Weise überschritten, das Publikum innerhalb von einer Stunde nervlich fertig gemacht, es zur Verletzbarkeit und Ekstase gezwungen, um es dann neu, verschoben und verrückt, wieder zusammen zu setzen. ("Push the boundries!"). Genau so.

Die Kritikerin ist also voreingenommen

Ann Liv Young, "Peter Pan", Gessnerallee Zürich, 2016. Achtung Kitsch: Peter Pan wird nicht erwachsen, zelebriert den Eskapismus im magisch-zeitlosen Neverland, ist Heldenfigur zahlreicher Abenteuer und Kämpfe, gegen seinen eigenen Schatten oder den Piraten Captain Hook. Gemeinsam mit Peter Pan entflieht die furchtlose und fantasievolle Wendy ihrer Londoner Alltagswelt, wo sie gesellschaftskonform erwachsen werden soll. Diese Geschichte, einst erzählt als kindgerechte Erklärung von Tod und Endlichkeit, ist inzwischen Hollywood- und Disneyverfilmt. Nun bringt Provokations-Performerin Ann Liv Young den Stoff nach Zürich ("Go!").

Wer ein stringentes Narrativ, eine gefällige Märchenadaption, gespickt mit zwei, drei halbwegs kritischen Fragestellungen, eine logisch aufschlüsselbare Zeichensetzung, oder Konzeptperformance erwartet, ist hier falsch ("Switch!"). Auch Kindertheater ist dieser Abend, trotz entsprechender Ankündigung (ab 6 Jahren), kaum. Vielleich eher: Abenteuerfahrt mit Pop, Stroboskop und Kindern. Diese sind zwar nicht im Publikum, dafür aber auf der Bühne: Wendy, Lost Boy und Tigerlily. Auch die übrigen Figuren sind dem Original entnommen und einigermassen überraschend besetzt. Gesprochen und gesungen wird viel und Englisch und Schweizerdeutsch. Die Bühne ist leer, die Kostüme bester Shabby-Chic vom Secondhandladen, nichts passt, alles stimmt so.

PeterPan 560 MiriamWaltherKohn uSie leisten ihren Dienst an der Fantasie © Ann Liv Young Company

"Try again!": Die Kritikerin unternimmt Deutungsversuche

Ann Liv Young als Peter Pan führt mit Megafon und scharfen Regieanweisungen durch den Abend, unterbricht, setzt Schnitte und Übergänge, nervt bisweilen mit Kontrolle, Dominanz und Imperativ und persifliert Regietheater und Publikumserwartungen grandios ("Emotions! More Intensity!"). Sie schickt Captain Hook (Annina Machaz), hier eher wunderbar schielende Gruselhexe denn klassischer Pirat, zur Geisterfahrt ins Publikum, wo diese_r schreit und tobt, durch Menschen klettert und ihnen zu nah, viel zu nah, kommt. Sie befiehlt Lost Boy (Antonio Mattioli) in das gefühlsduselige Besingen der unendlichen Freiheiten seines Geschlechts. Sie choreographiert Captain Hook und Shadow (Tom Curitore) in die Intensität eines orgiastischen Tanzes. Sie dirigiert die alljährliche Familien-Inszenierung zu Weihnachten. Und bricht all das mehrfach, überführt es ins Absurde. ("Be sad!")

PeterPan TigerLily 560 MiriamWaltherKohn uDie Rationalität in die Flucht schlagen © Ann Liv Young Company

Die Kritikerin sucht den roten Faden, konkrete und greifbare Anhaltspunkte

Wenn dieses Popmärchen nun nicht gerade eine durchschaubare Konzeption aufweist, dann ist Ann Liv Youngs live-Regieführung doch alles andere als zufällig oder beliebig. Einzig der angekündigte Bezug zur antirassistischen "Black Lives Matter"-Bewegung bleibt leider uneingelöst. Doch bricht beispielsweise Wendy als Riot Grrrl im rosa Prinzessinnenkleid headbangend und Luftgitarre spielend souverän so manches noch immer vorherrschendes Klischee.

Das Wiederkehren von rhythmisch gerufenen Sprachfetzen zu kindlichen Klatschspielen, geknüpft an die Regieanweisungen, entfaltet eine rätselhafte Kraft. Das Spiel mit Selbstreferenzen und Selbstironie ist gesetzt. Und die Umkehrung von Beyoncés "If I were a boy" zu "Cause I am a boy" zeigt die absurden Blüten geschlechtsspezifischer Sozialisation auf, ohne dabei unangenehm didaktisch zu sein. Natürlich, an Konzept und Kontrolle mangelte es Ann Liv Young noch nie. Verstehen muss man das auch gar nicht ("Be as creative as you can!").

Die Kritikerin verabschiedet die Ratio für einen Moment

Ann Liv Young, "Peter Pan", Neverland, 2016. Intuitives, spielerisches Im-Moment-sein, gebannt und leicht hypnotisiert. Emotionsgeleitet mit allen Logiken und ihren Mächten brechen und dabei etwas Eigenes, vielleicht sogar irgendwie Neues finden. Und dadurch letztlich wirklich Peter Pan: Nicht erwachsen werden.

Gut. Die Kritikerin gibt auf

Der Versuch, das Gesehene in Beschreibung, Analyse und Kritik, ja schlicht: Sprache, zu pressen, widerspricht der bestechenden Irrationalität von Ann Liv Youngs Peter Pan. "Go!“

 

 

Peter Pan
von Ann Liv Young nach J. M. Barie
Regie: Ann Liv Young, Produktionsleitung: Miriam Walther Kohn, Musik: Ann Liv Young, Michael A. Guerrero, Ton: Stephen Thomas, Licht: Benny Hauser.
Mit: Tom Curitore, Lovey Ailish Guerrero, Michael A Guerrero, Hana Herot, Annina Machaz, Antonio Mattioli, Marissa Mickelberg, Ann Liv Young.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.annlivyoung.com
inkonst.com
www.colchesterartscentre.com
www.gessnerallee.ch

mehr nachtkritiken