Zu Gast bei Fremden

von Elisabeth Nehring

Minsk, 7. Oktober 2016. "Diese Vorstellung wurde Ihnen präsentiert von Ihrer  ****prombank." Kaum ist das Klatschen abgeebbt und die Zuschauer stehen auf, ertönt schon wieder der aufdringliche Werbejingle eines bekannten weißrussischen Geldinstituts. Bereits kurz vor der Vorstellung hat er bei einigen westeuropäischen Theaterbesuchern kulturell gepflegten Unwillen erregt. Doch wie so vieles muss auch diese spontane Abwehrreaktion nach fünf Tagen Intensivaufenthalts in Minsk samt Besuch des Theaterforums "Belarus Open" etwas revidiert werden. Denn in der weißrussischen Theaterszene ist dieser Tage einiges anders, subtiler, komplizierter als es die hierzulande medial nur rudimentär vermittelte gesellschaftspolitische und kulturelle Situation erwarten lässt.

Prominenter Besuch

Zu Belarus Open hatte eine Email mit unbekanntem Absender eingeladen. Das Forum ist Teil des Theaterfestivals "Teart", das seit sechs Jahren das Minsker Publikum mit großen internationalen Theaterproduktionen versorgt. Ostermeier und Castellucci waren schon hier; in diesem Jahr Kornél Mundruczó und sein Proton Theatre sowie das Schauspiel Hannover mit Heiner Müllers Stück Der Auftrag. Anspruchsvolles Theater aus Westeuropa ist in Weißrussland also keineswegs unbekannt – im Gegenteil.

second hand time 560 nehring uSvetlana  Alexievichs "Second Hand Time" in der Inszenierung des Mogilev Regional Theatre
© Elisabeth Nehring

Belarus Open dagegen versammelt zum zweiten Mal ausschließlich weißrussische Bühnenproduktionen: Sprech- und Puppentheater, Tanz, Multimediaproduktionen und Live-Art.
Modern, sparsam, ganz auf Inhalt und Sprache konzentriert sind jene Inszenierungen, die auf der Textgrundlage renommierter oder noch wenig bekannter russischer und weißrussischer Autoren entstanden sind.

Eine unbequeme Nobelpreisträgerin

Das Mogilev Regional Theatre hat Auszüge aus Svetlana Alexievichs "Second Hand Time" in Szene gesetzt. Auf fast dunkler Bühne sprechen drei Schauspieler die Texte der weißrussischen Literaturnobelpreisträgerin mit großer Kraft und Präsenz direkt ins Publikum und machen das Innere jenes "Sowjetmenschen" sichtbar, den Alexievich in ihrem Buch untersucht hat – wofür sie zwar von ihren Landsleuten sehr verehrt, von der Regierung aber nicht besonders geschätzt wird. Die im belarussischen Theater weit verbreitete Konzentration auf den Text, die Priorität des Wortes vor anderen inszenatorischen Mitteln ist hier deutlich erkennbar.

Für das kleine, feine Musiktheaterstück "From Life of Insects" hat Komponist Valery Voronov aus Gedichten des russischen Avantgardepoeten Nikolay Oleynikov einen Vokalzyklus kreiert, der von der Sängerin, Schauspielerin und Regisseurin Svetlana Ben zauberhaft gesungen und von surrealen Kinderzeichnungsanimationen begleitet wird.

Die "Sonnenstadt der Träume"

Während sich die jungen, professionellen Tänzer des Staatlichen Jugendtheaters auf sehr aktuelle Weise nach dem befragen, was Tanz, ja Kunst überhaupt für sie bedeutet, verschenkt die Multimedia-Inszenierung "A Sun City of Dreams Point Zero" die Möglichkeit, dem bekanntesten Text über die weißrussische Hauptstadt inszenatorische Überzeugungskraft zu verleihen: Mit dem sehr persönlichen, metaphorischen Buch "Minsk. Sonnenstadt der Träume" hat der Architekt Artur Klinau ganzen Generationen von Besuchern die Besonderheiten der weißrussischen Hauptstadt erklärt. Das Multimediaprojekt hingegen reiht Textauszüge, Musik und Videoaufnahmen von Berlin und Minsk relativ uninspiriert nebeneinander.

Auch das Puppentheater, das in Weißrussland eine ebenso lange Tradition hat wie im großen östlichen Nachbarland, vermag den westeuropäischen Betrachter nicht zu überzeugen: Zwar erkennt man die formalen Aktualisierungen und die visuell ansprechende Gestaltung, kann aber kaum über die schauderhaft altmodischen Geschichten und stereotypen Geschlechterrollen hinwegsehen, womit sich auch jede noch so zeitgenössische Variante automatisch ins letzte Jahrhundert zurückkatapultiert.

Puppentheater 560 nehring uPuppenspiele aus einem anderen Jahrhundert © Elisabeth Nehring

Alles wird kontrolliert

Inhaltlich und formal-ästhetisch liegen zwischen den insgesamt dreizehn präsentierten Inszenierungen Welten und auch ihr Produktionsrahmen ist ganz verschieden: Während die meisten im abgesicherten Schoß der Repertoiretheater entstanden sind, können die anderen als "unabhängig" gelten – das heißt im weißrussischen Kontext: als Low- oder No-Budget-Produktionen. Wobei man sich von diesem "unabhängig" auch auf anderer Ebene nicht täuschen lassen darf: Von den staatlichen Autoritäten kontrolliert wird immer noch alles, was überhaupt auf den Bühnen des Landes erscheint.

Zum ersten Mal nehmen am Belarus Open Theaterforum auch eine Handvoll professioneller Gäste aus der EU Teil und alle kommen mit denselben Wikipedia-Artikeln und Fragen im Gepäck: Wie frei ist das Theater in einem Land, in dem einige kritische Geister noch immer Theater in Wohnungen machen müssen, deren Adresse man erst nach kompliziertem Email-Prozedere erfährt? Und was für ein Programm kann ein vom weißrussischen Kulturministerium kofinanziertes Theaterfestival zeigen?

So viel Freiheit war nie

Direktorin Angelika Krasheuskaya hilft bei der letzten Frage mit einem denkwürdigen Satz weiter: "So viel Freiheit wie gerade gab es lange nicht im weißrussischen Theater." Obwohl die zurückhaltende Theaterenthusiastin mit großer Offenheit erzählt, dass sie noch immer für jede Performance bei den städtischen Autoritäten Inhaltsangaben, Fotos und Videos einreichen und sich damit alle Aufführungen offiziell absegnen lassen muss, sieht sie eine gute Zeit für künstlerische Experimente und kritische Inhalte gekommen. Tatsächlich zeigt das Festival zwei Stücke, die ganz aktuell die Auswirkungen des Russland-Ukraine-Krieges thematisieren. Trotz dieser neuen Freiheiten, die laut Krasheuskaya vor zwei Jahren noch nicht möglich gewesen wären, wundert sich die Festivaldirektorin zugleich jeden Tag, dass bestimmte Produktionen sowohl dem lokalen als auch internationalem Publikum präsentiert werden dürfen. Wie zum Beispiel die Theaterproduktion "Opium".

OPIUM 560 nehring uWitalij Korolews "Opium" in einer Inszenierung von Alexander Marchenko © Elisabeth Nehring

Der junge weißrussische Autor Witalij Korolew hat OPIUM im Rahmen einer Werkstatt für junge Dramatiker geschrieben, die vom Zentrum für weißrussische Dramatik organisiert und von dem Schauspieler und Regisseur Alexander Marchenko geleitet wird. In den letzten Jahren sind durch diese Art der Förderung zahlreiche aktuelle und brisante gesellschaftliche Texte junger Autoren entstanden.

Der Kulturminister sieht ein brisantes Stück

"Opium" verhandelt die Situation des Mitzwanzigers Kolja, der seine Arbeit verliert und deswegen Mutter und Bruder nicht mehr ernähren kann. Angesichts der drohenden Verarmung entscheidet Kolja, sich als Söldner im Russland-Ukraine-Krieg zu verdingen, während sein jüngere Brüder, der kluge Andrej, zwar die Aufnahmeprüfung an der Universität in Minsk besteht, aber schließlich erst von seiner ambitionierten, auf absichernde Eheschließung hoffende Freundin verlassen und schließlich bei einem rauen Wortwechsel über politische Ideologien von seinem Kumpel Stas erschlagen wird.

Armut, Verzweiflung, Gewalttätigkeit, die Priorität von Nutz- statt Liebesbeziehungen – in Korolews kurzem Stück stecken neben einer für das weißrussische Theater ungewöhnlichen Alltags- und Vulgärsprache eine Menge gesellschaftlich brisanter Themen. Das alleine reicht schon, um die von Alexander Marchenko konzentriert inszenierte und ganz auf die Schauspieler fokussierte Theaterproduktion zu einer verdächtigen Veranstaltung werden zu lassen – immerhin erschien der Kulturminister von den meisten zwar unerkannt, aber höchstpersönlich beim Theaterforum, um sich von dem vieldiskutierten Werk ein Bild zu machen.

2000 Euro müssen reichen

Mit dem schlichten Bühnenbild aus Tisch, Stühlen und zwei Kästen mit Erde ist Opium leicht als Low-Budget-Stück zu identifizieren. In Abwesenheit auch nur der allerkleinsten Förderung für nichtinstitutionelles Theaterschaffen hat Marchenko eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, bei der rund 2000 Euro zusammengekommen sind, mit denen er schließlich seine Produktion realisiert hat. Sogar eine Großveranstaltung wie das Theaterfestival erhält nur zu einem kleinen Teil öffentliche Förderung und wird überwiegend von jener weißrussischen Bank finanziert, über dessen lautstarke Werbung im Theater man sich erst einmal so wundert.

korpus 560 nehring uDer Aufführungsort "Korpus8" in Minsk © Elisabeth Nehring

Eine dynamische Generation

Nicht ganz leicht, als Belarus-unerfahrener Besucher hinter diese höchst bewegliche Mischung aus vom Regime tolerierten und vom Kapital geförderten neuen künstlerischen Freiheiten und – angesichts politischer Fragen – immer noch spontan gesenkten Stimmen (sowie all den Varianten dazwischen) zu kommen. Also gilt es, allen zur Verfügung stehenden Gesprächspartnern Löcher in den Bauch zu Fragen – und genau an dieser Stelle offenbart Belarus Open seine wahren Qualitäten.

Selten lebte ein Festival so sehr von seinen jungen Mitarbeitern und Volontären wie das weißrussische Theaterforum. Im Gegensatz zu den meisten Theaterleuten der mittleren und älteren Generation sprechen die Anfang Zwanzigjährigen alle hervorragendes Englisch, übersetzen, was das Zeug hält und ordnen hinterher noch ein, worüber gerade diskutiert wurde. Sie führen die Gäste durch die Stadt, zeigen die wichtigsten Galerien, Buchläden und Spielorte, erzählen von weißrussischen Studenten-, Kurzfilm- und Queerfestivals und lieben Minsk mindestens genauso wie Berlin oder Vilnius – Städte, die den meisten durch zahlreiche Reisen bestens vertraut sind. Diese junge, gut ausgebildete und höchst kommunikative Generation gibt der kulturellen Entwicklung, die Minsk in den letzten fünf Jahren erlebt hat, eine quirlige und sehr selbstbewusste Dynamik – und macht neugierig, ob, wie und wann sich ihre freundliche, aber entschiedene Weltoffenheit auch politisch niederschlägt.

 

Opium
von Vitaly Korolev
Regie: Alexander Marchenko, Design: Andrey Zhigur, Licht Nikolay Surkov, Ton: Ksenia Korolchuk, Video: Katya Kriuk, Sasha Shaporova, Lisa Kashevskaya.
Mit: Julianna Mihnevich, Maxim Braginets, Artem Kuren, Anton Zhukov, Anna Semenyako.

Second Hand Time
nach Svetlana Alexievich
Regie, Ausstattung, Musik: Vladimir Petrovich, Set Design: Ivars Noviks.
Mit: Vladimir Petrovich, Elena Dudich, Irina Dunchenko.

A Sun City of Dreams Point Zero
nach Minsk. A Sun City of Dreams by Artur Klinau
Textfassung: Artur Klinau, Tanya Arcimovich, Elena Karmagnani, Sound: Anton Sarokin, Video: Tanya Arcimovich, Dzianis Dziuba, Paval Haradnicki, Arciom Lobach, Schnitt: Tanya Arcimovich, Anton Sarokin, Dzianis Volkau.
Mit: Alexandr Marchenko.

From Life of insects
nach Nikolay Oleynikov
Regie: Svetlana Ben, Dmitry Bogoslavsky, Musik: Composer Valery Voronov, Multimedia: Maria Puchko, Video, Licht: Sergey Novitsky.
Mit: Svetlana Ben, Dasha Moroz, Maria Vasilyevskaya.

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