Vor der Post-Apokalypse

von Esther Boldt

Frankfurt, 1. Dezember 2016. Wenn Kritiken schreiben hieße, sich selbst – und damit seinen Leser*innen – eine Geschichte über einen Theaterabend zu erzählen, dann handelte diese Geschichte von einem Zicklein und einer Ziege, die sich zu Tode fickten. Sie handelte von einem Geflüchteten, der auf einer Barke im offenen Meer dahintreibt. Von Wanderern zwischen den Welten. Von einem Posaunisten auf Rollschuhen. Von der Rede des Meerschweinchens. Und von der Vorzukunft der Post-Apokalypse.

Wenn Kritiken schreiben hieße, eine Geschichte über einen Theaterabend zu erzählen, dann handelte diese Geschichte von "Nkenguégi", einer Erstaufführung im deutschsprachigen Raum des furiosen Autors, Regisseurs und Schauspielers Dieudonné Niangouna, der selbst so ein Wanderer zwischen den Welten ist, zwischen Brazzaville und Paris. Von Niangouna, der im Bürgerkriegs-Kongo groß wurde, und der der Gewalterfahrung sein Theater entgegensetzte – laut und schnell, bilderstark und von archaischer Wucht. Der nun seine "Trilogie des Taumels" vollendete, die mit "Le Socle de Vertige" begann, und der seit 2014 assoziierter Künstler des Frankfurter Künstlerhauses Mousonturms ist.

Zwischen den Welten in ungewisse Zukunft

Wenn Kritiken schreiben hieße, eine Geschichte über einen Theaterabend zu erzählen, dann handelte diese Geschichte von seiner Gruppe "Les Bruits de la Rue", die hier, in "Nkenguégi", diesem nach einer Stachelpflanze benannten Theaterabend, virtuos zwischen Zeiten und Räumen springt: Von der Flüchtlingsbarke und ihrem hageren Überlebenden (Mathieu Montanier), der über die trügerische Freiheit des Meeres sinniert, geht es zu einer Party in Paris mit dem schönen Motto "Verkleidung und Reflexion", wo Menschen mit Tiermasken zwischen Langeweile und mildem Amüsement herumlungern, verlorenen Träumen und ihrem Selbst von gestern nachhängend, bis zwei Ankömmlinge aus dem Kongo das Fest aufmischen.

Nkenguegi1 560 Christophe Raynaud de Lage uAssoziationen ans Floß der Medusa in "Nkenguegi" © Christophe Raynaud de Lage

Und schließlich zum Theater im Theater, wo ein Regisseur (Dieudonné Niangouna) mit einer Gruppe Schauspieler*innen die Geschichte vom "Floß der Medusa" in die Gegenwart heben möchte, jenes berühmten Gemäldes von1819, das an den Schiffbruch der französischen "Méduse" erinnerte, die losgezogen war, den temporär an die Briten gefallenen Senegal wieder zu übernehmen. Die Geschichte handelte davon, wie dieses Streifen zwischen Welten, Wirklichkeiten und Repräsentationen selbst ein gewisses Schweben provozierte, ein Zwischenreich zwischen Abreise und Ankunft eröffnete, in dem die oder der Reisende stets zu früh ankommt oder zu spät, wie es in Niangounas mitreißendem, unbändig fabulierenden Text heißt – in jenem Text, der so gekonnt das Hohe mit dem Profanen zu verbinden weiß, das Ozonloch mit Sisyphos, Überlebensschmerz mit Witz, und der den sinnleeren Grausamkeiten der Existenz mit Wortgewalt zu Leibe rückt.

Taumel globaler Verwerfungen

Wenn Kritiken schreiben hieße, eine Geschichte über einen Theaterabend zu erzählen, dann handelte diese Geschichte vom gegenwärtigen Taumel globaler Verwerfungen. Sie handelte vom Zustand der Reise in eine ungewisse Zukunft, vor einer unabgeschlossenen Vergangenheit – die Gegenwart nicht mehr als ein Wimpernschlag. Sie handelte von fortlaufenden gesellschaftlichen Transformationen, sie handelte von der Ungewissheit, die all die herrlich absurden Figuren auf der Bühne einholte darüber, wer sie seien, wo und warum – und ob dieses Land, was vor ihnen liege, tatsächlich ein gelobtes sei. Und nicht zuletzt handelte sie von jenen Momenten, in denen der Schwebezustand den Blick in eine unheimliche, utopische Zukunft eines lässigen Beieinander eröffnete, der "Ära der Post-Apokalypse", wie es im Stück heißt.

Nkenguegi2 560 Christophe Raynaud de Lage u© Christophe Raynaud de Lage

Wenn Kritiken schreiben hieße, eine Geschichte über einen Theaterabend zu erzählen, dann fasste diese Geschichte sich kurz, wo der Abend lang war. Sie übte sich in Bescheidenheit, wo Pathos herrschte, und in Einsilbigkeit angesichts von Redundanz. Sie verknappte das Gesehene, die Lieder von Sehnsucht und Gewalt, von Träumen und von Ödnis, da die Unverschämtheit und Schönheit des Ausbreitens, des Atmens und Tönens, Lungerns und Lauerns ohnehin nicht sichtbar würde hier, im schwarz-weißen Raum der Schrift. Und sie schwiege, endlich.

Nkenguégi
Dieudonné Niangouna/Compagnie Les Bruits de la Rue Nkenguégi
Text und Regie: Dieudonné Niangouna, Künstlerische Mitarbeit: Laetitia Ajanohun, Musik: Pierre Lambia, Armel Malonga.
Mit: Laetitia Ajanohun, Marie-Charlotte Biais, Clara Chabalier, Pierre-Jean Etienne, Kader Lassina Touré, Harvey Massamba, Daddy Kamono Moanda, Mathieu Maontanier, Criss Niangouna, Dieudonné Niangouna.
Dauer: 3 Stunden

www.mousonturm.de

 

Kritikenrundschau

Für Sylvia Staude stellt sich in der Frankfurter Rundschau (2.12.2016) "schon bald eine gewisse Erschöpfung ein, die auch mit Ratlosigkeit zu tun hat". Gleichzeitigbezeichnet sie den Abend als "die wohl spektakulärste Aufführung des kleinen Afropean-Festivals im Frankfurter Mousonturm". Doch der Text mäandere, "nicht einmal eine Art Handlung ist weit und breit in Sicht. Elf Akteure treiben in "Nkenguégi" ankerlos auf dem Meer, feiern eine Party oder knabbern sich gegenseitig an, setzen Tiermasken auf, singen und machen Musik, lassen sich vom Regisseur zusammenstauchen". "Immer wieder fühlt man sich von den Sprach-Wasserfällen, die auf einen niederstürzen, durchaus überfordert."

"Man versteht das bei Weitem nicht alles", gesteht Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (9.12.2016). Niangounas Stück sei ausufernd, ungeheuer textreich, in jeder Hinsicht erschlagend. "Der Abend ist erschöpfend lang und schippert oft im Trüben. Was man aber versteht, ist: Da hat jemand eine unbändige Wut auf die Zustände in seinem Land. Und er reagiert darauf mit Wortgewalt, mit Sprach-Salven wie aus einem Maschinengewehr."

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