Der Schmerz ist echt

von Willibald Spatz

München, 28. Januar 2017. Je kaputter die Lage, desto mehr Aufwand muss man treiben, um sich selbst zu belügen und sich einzureden, alles sei in Ordnung. Als grandios gescheitert kann man die Schauspielerfamilie Tyrone bezeichnen. Die beiden Söhne haben nicht ansatzweise eine Perspektive und eigentlich schon abgeschlossen mit ihrer verkorksten Zukunft. Den Generationenkonflikt befeuert, dass auch die Eltern ihre Existenzen als komplett verhunzt betrachten, sich aber weigern, das vor den Söhnen einzugestehen.

Aus dem verkorksten Leben geschöpft

In Wirklichkeit hat Eugene O'Neill in dieser Bühnenfamilie aber seine eigene porträtiert  schonungslos bis in die Details, wie das Programmheft ausführlich informiert: Der Autor hatte wie seine Figur Edmund Tuberkulose und musste diese in einem Sanatorium auskurieren. Sein Vater war einst ein junges Schauspieltalent. Er trat dann erfolgreich in einer Rolle auf, die ihn erst berühmt und vermögend machte und die er dann Zeit seines Lebens nicht mehr loswurde. Seine Mutter war wie Mary Tyrone morphiumsüchtig. Und die Familie hatte nie ein echtes Zuhause, sondern nur ein Landhaus, in das sie sich in der Pause zwischen den Spielzeiten zurückzog. "Eines langes Tages Reise in die Nacht" ist also ein Stück, das aus echtem Kummer geboren ist, in dem der Autor nach Jahrzehnten versucht hat, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Er hat sogar verfügt, dass es erst 25 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werde. Hier wird kein Zuschauer manipuliert, hier gibt es keine reißerischen Effekte, der Schmerz ist echt.

EineslangenTagesReise3 560 Matthias Horn uAuf nervenblanker Spielfläche: Franz Pätzold und Oliver Nägele im Raum von Johannes Schütz
© Matthias Horn

Diesen Schmerz auch posthum noch erfahrbar zu machen, ist die Herausforderung für jede neue Inszenierung des Stücks. Thomas Dannemann wollte offenbar einen völlig unverstellten Blick auf die Geschehnisse. Das Bühnenbild, das Johannes Schütz ihm gebaut hat, besteht aus einer von der Decke hängenden Platte als Spielfläche. An der kahlen Rückwand des Bühnenraums stehen vier Tische mit Stühlen und Spiegeln, an denen sich die Schauspieler, die nicht vorne in Aktion sind, für den nächsten Einsatz bereit machen. Sibylle Canonica als Mutter Mary trägt den Schmerz ins Spiel, sie rotiert in ihrem Unglück, schmettert einen Teller zu Boden. Am Premierenabend muss Canonica in Krücken auftreten, was auf dem wackligen Untergrund ihre Verzweiflung nur noch stärker zur Geltung bringt.

"Wenn hier einer einen Grund hat, sich zu besaufen, dann ich."

Ihr Gegenpol ist Oliver Nägele als Vater Tyrone. Er steht aufrecht in seiner Hilflosigkeit, man möchte ihm fast eine gemütliche Gutmütigkeit unterstellen mit seinem Jeanshemd. "Wenn hier einer einen Grund hat, sich zu besaufen, dann ich." Wenn er dann aber allein mit seinen Söhnen ist, wird er zum Ekel, wirft ihnen ihr Versagen und ihre Nutzlosigkeit vor, die ja seine eigene ist, die er auf die nächste Generation projiziert.

In einem echten Dilemma steckt Edmund, der jüngere Sohn, den Franz Pätzold mit phänotypisch deutlichen Kurt Cobain-Anleihen in einem Trance-Zustand schweben lässt. Nachdem ihn ja eine schicksalhafte Diagnose erwartet an diesem Tag, an dem das Stück spielt, weiß er nun nicht, ob er sich auf den Tod einstellen soll oder doch lieber anfangen müsste mit dem Leben. Daher drückt er sich immer wieder am Rand des Treibens herum und versucht, mit tiefer Stimme seine Familie zu beruhigen, weil er durchschaut, wohin das alles führen wird.

Entladungen, Versöhnungen und viel Whisky

Dramaturgisch führt das alles zu nicht viel. Es wechseln sich Spannungen, Entladungen und Versöhnungen ab. Gegen Ende, als nun wirklich alles gesagt ist, fasert das Stück aus. Es stirbt ja nicht mal jemand. Damit wenigstens noch irgendwas passiert, wird ordentlich gebrüllt und Whisky verschüttet. Aurel Manthei, der den älteren Sohn spielt, darf sich noch mal nackt machen und groß vor dem Publikum tun. Fast dankbar ist man Sibylle Canonica, dass sie die Veranstaltung mit einem leisen Monolog beendet, woraufhin alle zusammen ihre Taschen packen und still die Bühne verlassen.

EineslangenTagesReise1 560 Matthias Horn uSchauspielerfamilie Tyrone bei der Selbstbespiegelung: Oliver Nägele, Franz Pätzold und Sibylle Canonica © Matthias Horn

Eugene O'Neill hatte durchaus eine Abrechnung mit dem amerikanischen Traum im Sinne, dessen Scheitern er exemplarisch an seiner Familie vorführte. Keine kommende Generation kann damit rechnen, dass sie es besser hat als die vorherige. Wer verzweifelt versucht, den Zustand zu konservieren, verpasst den Anschluss. Darin steckt eine Menge Aktualität. Thomas Dannemann hält sich aber bewusst zurück mit Verweisen auf die Gegenwart, er vertraut seinen Schauspielern und dem Verstand seiner Zuschauer, auf dass die ihre eigenen Schlüsse ziehen mögen.

 

Eines langen Tages Reise in die Nacht
von Eugene O'Neill
Deutsch von Michael Walter
Regie: Thomas Dannemann, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Regine Standfuss, Musik: Konrad Hempel, Licht: Tobias Löffler, Dramaturgie: Götz Leineweber.
Mit: Oliver Nägele, Sibylle Canonica, Aurel Manthei, Franz Pätzold, Sinead Kennedy.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

Diese Junkie-WG hause im goldenen Theaterprunk des Cuvilliés-Theaters natürlich komplett im falschen Ambiente, "weswegen Johannes Schütz als Radikalkontrast zur barocken Opulenz  die Bühne stilistisch völlig verarmt hat", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (30.1.2017). Und: "Dannemann kämpft sich vergeblich an der Grundaufgabe dieses Stückes ab: Wie hält man die Spannung in einem Drama, dessen Thema die Wiederholung von Beziehungsfallen ist?" Ähnlich wie vor Kurzem Karin Henkel am Hamburger Schauspielhaus. "Dannemanns Bekenntnis zur erzählenden Monotonie scheitert daran genauso wie Henkels poetische Überverausgabung." Leider mangele es Dannemanns monochromer Erzählweise auch etwas an Aktualität. In Zeiten serieller Monogamie und loser Bindungskräfte sei die Darstellung der Familie als alles bestimmende Sphäre der sozialen Kontrolle ein bisschen Soziologie von gestern, "so wirkt diese Inszenierung als Placebo für eine Krankheit, die es in dieser Form nicht mehr gibt".

"Oliver Nägele gibt einen besorgten, sanften und deshalb furchtbaren Tyrannen", schreibt Patrick Bahners in der FAZ (1.2.2017). "Um Nöte als eingebildet zu identifizieren, fehlt es an objektiven Kriterien, die nur ein externer Beobachter ins Spiel bringen könnte." Das sei das Unglück der Familie. Der Abend komme ohne verwässernde Beigaben aus.

Dannemann lasse "das angestaubte Sucht-Kammerspiel" altbacken vom Blatt spielen, schreibt Alexander Altmann vom Merkur (1.2.2017). "Angesichts der Überdosis an psychologischem Realismus, mit dem uns hier ranzige Familienabgründe kredenzt werden, sehnt man sich fast nach ein bisschen emotionsfreierem, unvernebeltem 'Performance'-Theater."

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