Abgang auf blutigen Knien

von Shirin Sojitrawalla

Koblenz, 9. September 2017. "König Lear" ist ein Stück über das Alter, den Wahnsinn, den Undank und die Gemeinheit in Reinnatur. Ein Stück über vieles und über das Nichts. Daneben ist diese Familientragödie von jeher ein Stück über die Täuschung, das Schau-Spielen, die Ent-Täuschung. Der Schriftsteller und Dramaturg John von Düffel betont diesen Aspekt, indem er in seiner Bearbeitung einige wichtige Figuren zwar streicht, aber doch spielen lässt, nur eben von anderen Figuren. Gloster und seine zwei ungleichen Söhne Edmund und Edgar sind so eigentlich gestrichen und doch präsent, weil Tochter Cordelia auch Edgar spielt und der Narr auch Edmund und Kent auch Gloster.

Das klingt so verwirrend, wie es ist, weil einem beim Zuschauen nicht gleich klar ist, wie der Hase läuft. Beginnt bei Shakespeare alles flugs mit der berühmten Lear-Frage nach der Liebe seiner drei Töchter, schaltet von Düffel ein etwas längliches Vorspiel vor, das die Ausgangslage klärt.

Blaues vom Himmel lügen

Der Koblenzer Lear sitzt denn zu Beginn wie ein gelangweilter Regisseur auf der Probe auf seinem Thron und scheucht seine Schauspieler bzw. Untertanen über die Bühne. Der Schauspieler Georg Marin sieht dabei so aus, wie sich Kinder einen Schokoladenfabrikanten vorstellen und Erwachsene einen windigen Geschäftsmann im Ruhestand: Mit wallenden grauen Haaren, weißer Hose und weißem Hemd samt Hosenträgern und Seidenschal und darüber einem Kamelhaarmantel schlenzt er über die Bühne, als sei der eigene Abgang nur eine Frage des Stils. Dass so einer das eigene Ende und die eigene Nachfolge selbst regelt, scheint Ehrensache. Sein Sprechen ist dabei eher ein Röhren, er knarzt, brüllt gern und erst ganz am Ende, als er die Lieblingstochter totsagen muss, bekommt seine Stimme etwas Weiches, Zartes, Berührendes.

KoenigLear2 560 MatthiasBaus TheaterKoblenz uLear (Georg Marin) als knarziges Familien- und Staatsoberhauot, das seine Untertanen scheucht
© Matthias Baus / Theater Koblenz

Doch zu Beginn verweigert eben jene Lieblingstochter Cordelia, nach dem Ausmaß ihrer Liebe zu ihrem Vater gefragt, klipp und klar die Aussage, während ihre hundsgemeinen Schwestern das Blaue vom Himmel lügen. Goneril (Lisa Heinrici) und Regan (Isabel Mascarenhas) bekommen dann alles, Cordelia nichts.

Töchter fernsehtauglicher Bösartigkeit

Zudem räumt ihnen auch von Düffel mehr Gewicht ein als Shakespeare, allein schon, weil sie bei ihm bis zum Schluss überleben dürfen. Sie ziehen hier die politischen Fäden, spinnen die Intrigen. Selbst 1a-Fieslinge wie Oswald müssen sich ihnen beugen. Die Gemeinheiten kommen auf der Bühne oft mit so einer fernsehartigen Bösartigkeit à la Dallas, Denver, Guldenburgs daher, was den Stoff niedriger hängt, als er hängen müsste.

KoenigLear1 560 MatthiasBaus TheaterKoblenz uZeitloses Heute: Bühne von "König Lear" © Matthias Baus / Theater Koblenz

Dabei erzählt von Düffel beinahe die gleiche Geschichte, bis in den tragischen Schluss hinein, doch er erzählt sie schlackenfreier und gegenwärtiger, ohne Shakespeares Vorliebe für den Schabernack und seine existenziellen Wahrheiten aus dem Blick zu verlieren. Der Koblenzer Intendant und Regisseur Markus Dietze inszeniert das Stück auch ziemlich schlackenfrei. Die Bühne sieht aus wie ein Verlies, bis oben hin reichen die Mauern, gespielt wird die meiste Zeit im Rund der Drehbühne, wo sich das Gemäuer auf einem wie ein Burgrest wirkendem Bühnenteil fortsetzt.

Im Sturm- und Windgeheul

Auf der anderen Seite dient das Ding und sein kleiner Rundhorizont als Projektionsfläche für vorbeiziehende Wolken, die stimmungsvoll vom aufkommenden Sturm und dem Lauf der Zeit künden. Später erscheinen Glosters ausgestochene Augen und der die Zustände wechselnde Lear darauf. Alles, wenn schon nicht sehr aufregend, zumindest sehr einsichtig. Die Bühne und auch die Kostüme verlagern den Stoff dabei schön ins zeitlose Heute.

Dabei fährt Dietze zuweilen die Temperatur unnötig hoch, wo doch das Stück schon genug Hitze erzeugte. Da muss dann Lear das gerahmte riesige Porträtfoto seiner Lieblingstochter zerstören, um zu demonstrieren, wie groß die Enttäuschung in ihm wütet. Liebling und gute Seele des Abends scheint Raphaela Crossey als frecher, rustikal agiler Narr zu werden, der immer wieder niedliche Akzente setzt. Georg Marins Lear wirkt daneben polternd und cholerisch aufbegehrend, sein knatterndes Geschrei erhält viel Platz an diesem Abend. In der Sturmszene allerdings nutzt ihm das nichts, mühelos schluckt das inszenierte Wind- und Gewittergeheul dann die meisten seiner Worte.

Gespaltene Figuren

Die einzig wirklich dem Wahnsinn Anheimfallende ist in Koblenz ohnehin Cordelia, die nicht nur auch noch Edgar spielt, sondern obendrein auch noch seine Fake-Identität namens Tom in Szene setzt. Magdalena Pircher verkörpert diese Gestalt des Jammers als sich aufschürfendes Menschenwrack, das mit blutigen Knien am ganzen Körper schlackert und schlottert. Doch so richtiggehend rührend erweist sie sich erst nach Cordelias Ableben, als Lear sie, seine tote Tochter, in den Armen wiegt: Ein würdiger Pater Dolorosa und ein ikonisches Bild, bei dem diese Inszenierung ihre volle Kraft entfaltet.

König Lear
von John von Düffel nach William Shakespeare
Inszenierung: Markus Dietze, Bühne: Bodo Demelius, Kostüme: Astrid Noventa, Musik: Ralf Schurbohm, Video: Thomas Wolter, Kampfberatung: Eduard Burza, Dramaturgie: Juliane Wulfgramm.
Mit: Georg Marin, Lisa Heinrici, Isabel Mascarenhas,Magdalena Pircher, Raphaela Crossey, David Prosenc, Christof Maria Kaiser und Jona Mues
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.theater-koblenz.de

Kritikenrundschau

"Ja, 'King Lear' ist in Düffels Variation bis in die Dialoge hinein kürzer, kompakter, vielleicht gefälliger. Allerdings hat der Stoff durch die Fixierung auf eine einzügige Haupthandlung sowie die rigide Verknappung der sprachlichen Ausführungen zugleich beträchtlich an Tiefe verloren", schreibt Andreas Pecht von der Rhein-Zeitung (10.9.2017). Doch nicht nur das: Das Ensemble wirke weithin steif, agiere lehrbuchmäßig sprachlich und gestisch an der Oberfläche  "ausgenommen jene Viertelstunde, in der Georg Martin seinen Lear vollends dem Wahnsinn überantwortet".

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