Lenin stirbt langsam

von Esther Slevogt

Berlin, 19. Oktober 2017. Ein Landhaus bei Moskau, fünf Jahre nach der Oktoberrevolution, die sich in diesen Tagen zum hundertsten Mal jährt. Ihr großer Anführer Lenin liegt von Schlaganfällen gezeichnet als sabberndes Wrack im Bett und versucht, seiner Sekretärin etwas zu diktieren. Dabei reckt er mit aufgerissenen Augen den dürren Hals aus den Kissen und stammelt Unzusammenhängendes. Die junge Frau bemüht sich in ergriffener Beflissenheit, ihn zu verstehen.

Quälend langsam dreht sich die Drehbühne mit dem akribischen Nachbau des Leninschen Totenhauses und gibt immer neue Blicke in seine verwinkelt angeordneten Zimmer frei. In einem Raum kocht eine Köchin. An einem Tisch sitzen andere aus dem Stab des Sterbenden: Bedienstete und hohe Funktionäre wie Anatoli Lunatscharski. Echte Kinder, die echtes Russisch sprechen, gibt es auch. Auf dem Balkon blickt ein Soldat der Leibwache melancholisch in die Nacht, der uns an anderer Stelle mit Splatter-Stories genüsslich aus seinem fröhlichen Folteralltag während der Revolution berichtete. Mit zwei Live-Kameras werden immer neue Szenen des simultanen Geschehens vergrößert und erst noch in Farbe später schwarzweiß auf eine Fläche über der Szene projiziert. Anderes erleben wir live. Alvis Hermanis meets Katie Mitchell.

Stanislawski reloaded

Doch spätestens als Lenin sich stammelnd in seinem Bett wie ein verzweifelter Vogel windet und von draußen Trotzki erschüttert zu den dramatischen Klängen eines Streichquartetts durch die Butzenscheiben schaut, stellt sich die Frage: Was ist hier los? Ist das Kitsch oder soll das Ironie sein? Will uns Milo Rau mit den Bauerntricks des Illusionstheaters emotional in Geiselhaft nehmen? Oder ist er am Ende seinen eigenen Theatermitteln auf den Leim gegangen, wie er hier nun mit realistischer, ja stanislawskischer Akribie in der Berliner Schaubühne ein Reenactment von Lenins letzter Lebenszeit versucht: als eines langen Tages Reise in die Nacht der Unsterblichkeit.

Lenin 560a ThomasAurin uEin düsteres Szenario, Bühnenbild: Anton Lukas und Silvie Naunheim © Thomas Aurin

Denn der Mann, den wir hier als Wrack seinem Ende entgegen vegetieren sehen, liegt seit seinem Tod 1923 als mystisch ausgeleuchteter, lebender Leichnam in einem Mausoleum an der Kremlmauer. Ein Zombie der Weltrevolution, die ja auch längst gestorben ist und als Utopie-Zombie doch noch immer durch unsere neoliberale Gegenwart geistert. In Milo Raus Rocky-Horror-History-Show sind wir zuvor auch Stalin begegnet: wie er Lenins Frau Nadescha alias Nina Kunzendorf mit brutaler Zärtlichkeit fast die Augen aus ihren Höhlen drückt, um ihr die Erlaubnis abzupressen, Lenin nach seinem Tod derart für die Ewigkeit zuzurichten.

Neidisch auf den Westen

Aber fangen wir von vorne an. Vor einem Spiegel sitzen Felix Römer, Ursina Lardi und Kay Bartholomäus Schulze links neben der Szene und werden für die Vorstellung geschminkt. Überlebensgroß projiziert eine Live-Kamera ihre Gesichter auf die Leinwand. "Irgendwie beneide ich euch Leute aus dem Westen", sagt Kay Bartholomäus Schulze, "dass Lenin und Trotzki für euch immer noch Ikonen sein können. Da denke ich dann immer: Ja, schön, aber ich hab’s 23 Jahre lang erlebt, den real existierenden Sozialismus."

Schulze und Römer tragen schon ihre Kostüme, später werden sie Trotzki (Römer) und Lenins Leibarzt (Schulze) sein. Dann wechseln sie das Bühnenbild, gehen ins Haus und tun so, als begänne das Stück erst jetzt. Ursina Lardi soll Lenin verkörpern, aber sie sieht immer noch aus, wie Ursina Lardi und wirkt in ihrer Heutigkeit wie ein Fremdkörper im historischen Mimikry um sie herum. Lenin bleibt die Leerstelle, weil man eben immer Ursina Lardi und nicht Lenin sieht. Am Garderobenspiegel wird von der Maskenbildnerin inzwischen der Schauspieler Damir Avidic in Stalin verwandelt, der, wie wir wissen, die Leerstelle Lenin in seinem Sinne füllte. Das ist erst mal ein interessantes Mittel.

Lenin 560 ThomasAurin uEin letztes Abendmahl: Nina Kunzendorf, Veronika Bachfischer, Ursina Lardi, Felix Römer, Lukas
Turtur © Thomas Aurin

Doch nun müsste sich die Sache entwickeln. Und das tut sie auch. Aber in eine unklare Richtung: auch Lardi wird nun dem historischen Lenin zum Verwechseln ähnlich geschminkt. Immer tiefer schraubt sich die Inszenierung in ihr morbides wie triefendes Szenario, in Lenins letzte Wallungen hinein. In einen letzten Revolutionsaufruf zum Beispiel, der von einem finalen Schlaganfall abgebrochen wird: "Die Revolution muss ...", stammelt er und endet kotzend über einer Kloschüssel. Ja.

Einen Tod musst du sterben

Zu dem zweistündigen Abend gibt es Musik von Bach, dem estnischen Komponisten Arvo Pärt und am Ende Leonard Cohen. Und hier beginnt vielleicht noch einmal eine andere Geschichte. Denn die Musik funktioniert auch als Kommentarspur, die dem Abend unterlegt ist. Es sind alles religiös inspirierte Musiken: Bachs protestantischer Rationalismus (dessen Musik Lenin liebte, die er aber nur in wohltemperierten Dosen hören wollte, um nicht zu menschlich zu werden), Pärts katholische Spiritualität, die auf die atonalen Disruptionen der Moderne trifft. Und am Ende Leonard Cohens berühmtes Lied "Who by Fire", das verschiedene Todesarten durchdekliniert.

Währenddessen läuft auf der Leinwand schon fast der Abspann und man erfährt, welche Todesarten die fiktiven und realen Figuren des Stücks während der Sowjetischen Ära erlitten, ob sie eines natürlichen Todes starben oder Opfer des stalinistischen Terrors wurden. "Who by Fire" ist Cohens Variation eines der wichtigsten jüdischen Gebete während der Tage zwischen dem Jüdischen Neujahr und Jom Kipur. In diesen zehn Tagen wird, dem jüdischen Glauben zufolge an höherer Stelle festgelegt, ob und wie man im kommenden Jahr leben oder sterben wird. Diese Entscheidung haben die Bolschewisten einst an sich gerissen und ihr utopisches Projekt damit ruiniert. Ist es das, was uns der Abend sagen will?

 

Lenin
von Milo Rau & Ensemble
Regie: Milo Rau, Bühne und Kostüme: Anton Lukas und Silvie Naunheim, Video: Kevin Garber, Dramaturgie: Stefan Bläske, Florian Borchmeyer, Nils Haarmann, Recherche: Gleb J. Albert, Licht: Erich Schneider, Live-Kamera: Florian Baumgarten, Moritz van Dungern / Omri Alon, Matthias Schoebe.
Mit: Ursina Lardi, Nina Kunzendorf, Felix Römer, Damir Avidic, Ulrich Hoppe, Kay Bartholomäus Schulze, Lukas Turtur, Iris Becher, Konrad Singer, Veronika Bachfischer.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

Kritikenrundschau

"Artistisch auf höchstem Niveau, aber tatsächlich nichts erzählend", urteilt Peter Claus auf Deutschlandfunk Kultur (19.10.2017). Zuzusehen, wie Ursina Lardi zum Mann, zum gebrechlichen und schließlich zum sterbenden Mann verwandelt werde, sei "großes Kino",  aber erzählt werde dadurch nichts. So bleibe "nicht als l'art pour l'art schlimmster Art". Claus sei froh gewesen, "dass Lenin endlich tot war und diese Langeweile auf der Bühne zu Ende".

"An Zähigkeit lässt dieser Abend nichts zu wünschen übrig", findet auch Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (20.10.2017). In der Schaubühne werde der Wendepunkt der russischen Revolution mit Lenins Tod und Stalins Aufstieg in einem "zugleich konstruierten, ikonographischen und hypernaturalistischen Reenactment herausgezögert, als gelte es, in einem hypnotischen Exerzitium irgendwelche längst vergessenen Ideale auszutreiben oder ihren Verlust zu sühnen". Seidler fragt sich: "Womit hat das wohlanständige bürgerliche von der Geschichte weitgehend verschonte Theaterpublikum solche Strafmaßnahmen verdient?"

"Rau präsentiert nette, wohlerzogene Massenmörder – denn das waren die Stalins und Lenins im richtigen Leben", so Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (20.10.2017). Und er warnt: "Vorsicht, Kitsch! Ein Sowjetfilm hätte diesen Personenkult nicht besser hinbekommen."

An den kalkulierten Bruchstellen zwischen 1917 und 2017, zwischen Schauspieler und Rolle, zwischen dem historischen Personal und den Stereotypen, zu denen es im öffentlichen Bewusstsein über die Jahrzehnte geronnen ist, habe Milo Rau offenkundig Denkräume über Geschichtsverläufe und revolutionäre Umbrüche öffnen wollen, mutmaßt Christine Wahl auf Spiegel Online (20.102017): "eine plausible Idee. Nur gewinnt der Kitschfilm de facto eine derartige Übermacht, dass man das irritierende Gefühl nicht los wird, Regisseur und/oder Ensemble erlägen ihm im Lauf des Abends gelegentlich selbst."

Mark Siemons schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.10.2017): Alles, was Milo Rau an der Berliner Schaubühne anstelle, "um Lenin oder auch nur etwas von ihm wieder zum Leben zu erwecken", helfe nichts. Der Schminktisch und andere "übliche Brechungsstrategien" wie der Videoeinsatz signalisierten, dass "hier Zeichen, Mythen, Ideen miteinander spielen sollen", nicht "nachrekonstruierte Menschen". Doch unversehens verwandelten sich etwa die "weit überlebensgroßen Nahaufnahmen" zu etwas "platt Naturalistisch-Theatralischem". Das "Kammerspiel der Ideen und Ideologien" gerate zu "bloßem Schauspielertheater", das "seinen Stoff zu einem abgeschlossenen tragischen Kapitel der Geschichte macht".

Eberhard Spreng schreibt auf der Website des Deutschlandfunks 20.10.2017: Das Geschehen sei sehr stark filmisch dargestellt, "wieder einmal ein Making-Of", diesmal "sehr nah an der Ästhetik einer Katie Mitchell". Als wolle Rau dem "selbstgeschaffenen, bittersüßen Schmelz seiner Untergangselegie entkommen", lasse er Ursina Lardi den Lenin "verkörpern" und somit "einen mutwilligen Verfremdungseffekt exekutieren". Das funktioniere aber kaum, obwohl Lardi große "spielerische Momente" und "ergreifende Zeugnisse des Verfalls" zeige. Momente, in denen Lenins Argumentation "bis ins Heute hineinstrahlt", seien viel zu selten. Das Politische wolle sich "nicht so recht aus dem Privaten lösen", der "private Körper nicht zum Schauplatz der Weltgeschichte" werden.

"So schwergewichtig das inhaltlich ist – die Ästhetik des Abends irritiert doch sehr", schreibt Barbara Behrendt in der taz (23.10.2017). Für heutige Zuschauergewohnheiten sei es eine Herausforderung, das naturalistische Spiel durchweg ernst zu nehmen. Die plausiblen Brechungen per Leinwand und Schminktisch bewirken immer wieder eine unfreiwillige Komik. Milo Rau versuche zumindest, Historie bühnentauglich zu veranschaulichen, "er lässt sich auf die großen Fragen der Weltgeschichte ein. Das jedenfalls kann man heute nicht von vielen Theatermachern sagen".

"Leider ist die Grundannahme des Abends, mit Lenin sei so etwas wie das utopische Potenzial der Revolution gestorben, eher der Kitschdramaturgie als historischen Fakten geschuldet", findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (24.10.2017). Rau zeige Lenin als Hegel-Leser und bescheidenen Diener der Weltrevolution, als einen Massenmörder mit Heiligenschein. "Dass ausgerechnet ein so kluger, manisch recherchierender Dokumentar-Regisseur wie der Schweizer Milo Rau die simple Schwarzweiß-Zeichnung des edlen Revolutionärs" bediene, sei eine der Peinlichkeiten der Inszenierung. "Man weiß man nicht, ob es sich bei der plakativen Effektorientierung um blanke Ironie oder um den Versuch handelt, auch einmal im Gefühl zu baden."

 

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