Spielarten der Depression

von Tim Schomacker

Wilhelmshaven, 7. April 2018. Es gibt auch blöde Bilder, mit denen man so etwas wie das Leistungsprinzip illustrieren kann. Zum Beispiel joggenden Menschen überviele Firmenlogos auf ihre Leibchen zu drucken. Diese Menschen laufen da dann auf der Stelle in Fünferformation und man schaut die ganze Zeit auf diese Logos und denkt: Da stimmt doch was nicht. Logos sind doch nicht deren Problem.

Wenn plötzlich nichts mehr geht

Zum Glück bleibt's in Sascha Bunges Inszenierung bei diesem kurzen Hänger. Bald löst sich die Fünferformation der Läufer auf in den Ausschnitt einer Zweibeziehung. Das Joggen in Autofahren. Und das Na-Ja-Bild in ein stimmiges: Weil hier nämlich SIE dringend raus muss, kotzen am Straßenrand. Und sich mit ihrem grundlegenden Unwohlsein über das ignorante Ich-kann-hier nicht-anhalten ihres fahrenden Partners hinwegsetzt. Während der Text weiterläuft, morphen die Bewegungen weg vom Autofahren und hin zu einer rührenden, dabei unzweifelhaft verzweifelten Zärtlichkeit: Hände streicheln Wangen, streichen Strähnen aus Gesichtern.

Schließlich, will sie, die sich übergeben hat, nicht mehr rein ins Auto. Kann nicht mehr rein. Es geht nicht mehr. Das holt eine viel frühere Szene des Abends wieder hervor, in der ein Mann eine ganz andere Türschwelle, die seines Büros, nicht mehr überschreiten konnte. Es ging auch nicht mehr. Ganz plötzlich. "Ich konnte da nicht reingehen, ich konnte den Fuß nicht über die Schwelle. Das ist kein Witz, ich habe es probiert, mehrmals, mit den Händen habe ich meinen rechten Oberschenkel umfasst…"

Birkenwald 3 560 VolkerBeinhorn uSubjektverschrieben: Amélie Miloy, Anna Gesewsky und Claudia Kraus © Volker Beinhorn

Der Abend sammelt solche Sequenzen, versammelt sie, breitet sie aus, fährt zärtlich mit dem Finger durch, lässt sie an sich selbst abprallen. Henriette Dushes äußerst musikalisch angelegtes, angenehm nicht auf Eindeutigkeit gezieltes Stück "In einem dichten Birkenwald, Nebel" widmet sich Spielarten der Depression. Also unserer Gegenwart. Drei Männer, drei Frauen. Erzählen von sich. Mehr oder weniger klar konturierte Leidensgeschichten. Sägen Holz, bauen aus Birkenholzblöcken Birken, verlangen nach Wodka. Scheitern sogar noch im Scheitern.

Zauberberg revisited

Ein Mann erkennt seine eigenen Kinder nicht mehr: "Da stehen sie, ja, und ich, ich / Er erkannte sie nicht. / Ich erkannte die Kinder nicht, nein". Eine Frau rückt Rückschau haltend immer weiter ab vom eigenen Selbst, rattert vergangenes Engagement herunter: "Habe für eine gute Sache Steine über Land im Rucksack geschleppt, (…) kenne alle Lieder, die man für so ein Feuer dann braucht, ich habe / Altpapier, Altmetalle und Unterschriften für die Freilassung von Angela Davis gesammelt, ich habe an den ABC-Olympiaden teilgenommen". Einen Mann lässt ein Auffahrunfall ultimativ ratlos zurück, was er hier im Chor, dort in einzelner Louis de Funes-Paraphrase orchestriert. Als frei flottierende Bedrücktheiten und konkret-abstahierte Sprechakte geistert Dushes Personal durch eine Art Sanatorium, den Titel gebenden Birkenwald eben, dem Constanze Fischbeck mit einem frei stehenden, halbbühnenhohen Vielfensterhalbkreis vor der Horizont-Wand ein bedrückend luftiges Antlitz verpasst hat. Gegenwärtige Typen eben, Zauberberg revisited.

Birkenwald 1 560 VolkerBeinhorn uSchmerzen im Herzen: Amélie Miloy @ Volker Beinhorn

Sascha Bunge lässt sein Schauspieler/inne-Sextett singen ("Gegen Schmerzen im Herzen hilft allein die Zeit"), hier sehr physisch wüten, dort unisono in leichtweiße Kleider gewandet chorieren, dann wieder vereinzelnd – mal beiläufig, mal prononciert nervös – Holzstücke und andere Gegenstände herumräumen. Und findet so (fast) ausnahmslos passendes Bild um Bild, Allgemeines im angetippten Konkreten zu verdeutlichen. Die taktische Marschrichtung von Dushes Text, stets einen Haken zu schlagen, bevor es zu privatpersönlich wird, setzt er so ziemlich sicher um.

Dabei gelingt es ihm, auch der möglichen Ermüdung durch diverse überpersonelle Sprech-Loops entgegen zu wirken. In kurzweiligen gut 90 Minuten verweigert "In einem dichten Birkenwald, Nebel" mehrheitlich allzu simple Ableitungen und konzentriert sich visuell wie schauspielerisch und textlich auf relevante Symptome. Wenn etwa die Männer im Chor einen bemerkenswert subjektverschiebenden Satz wie "Ich hatte das Gefühl, dass meine Angelegenheiten nicht mehr von mir durchlebt werden wollten" über das von das drei Frauen sanft decrescendierend gesungene FDJ-Lied Du hast ja ein Ziel vor Augen sprechen, ragen da auch gleich zwei Deutschlandgeschichten in die bedrückende Bühnengegenwart.

 

In einem dichten Birkenwald, Nebel
von Henriette Dushe
Regie: Sascha Bunge, Bühne, Kostüme: Constanze Fischbeck, Dramaturgie: Saskia Zinsser-Krys.
Mit: Anna Gesewsky, Claudia Kraus, Jeffrey von Laun, Amélie Miloy, Julius Ohlemann, Christian Wincierz.
Dauer: 1 Stunden 35 Minuten, keine Pause

www.landesbuehne-nord.de

 

Kritikenrundschau

"Was passiert, wenn man nicht mehr reinpasst? Intensiv und anspruchsvoll beschäftigt sich das neue Stück der Landesbühne mit dieser gesellschaftskritischen Fragestellung", schreibt Laura Steinke in der Nordwest Zeitung (9.4.2018). "Nicht nur wird das Thema Stress angesprochen, es wird in der Inszenierung von Sascha Bunge auch fühlbar gemacht." Das Stück von Henriette Dushe halte den Zuschauern einen extremen Spiegel vor und rufe dazu auf, beweglicher zu werden – "im Herzen und im Verstand".

Bunges Umsetzung von Dushes feingewobenem Sprachnetz fasziniere "mit reichen Bildern, origineller sprachlicher Gestaltung und sich fast nahtlos aneinanderreihenden choreografischen Abläufen", so Désirée Warntjen im Jeverschen Wochenblatt (9.4.2018). Der Zuschauer müsse nicht alles deuten oder verstehen, "kann dem Geschehen dennoch bestens folgen und sogar lachen oder sich auch innerlich berühren lassen."

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