Längst nötige Konsequenz

von Esther Slevogt

Berlin, 13. April 2018. Jetzt wurde also die Notbremse gezogen. Spät, aber hoffentlich nicht zu spät, sowohl für die Berliner Volksbühne als auch für Chris Dercon. In Folge einer beispiellosen kulturpolitischen Fehlentscheidung hatte Dercon erst zu Beginn dieser Spielzeit die Nachfolge von Frank Castorf als Intendant am Rosa-Luxemburg-Platz angetreten.

Entscheidung par Ordre de Mufti

Diese 2015 im SPD-Hinterzimmer par Ordre de Mufti getroffene Entscheidung war von Anfang an umstritten. Chris Dercon und sein Team haben es seitdem nicht vermocht, aus dem Schatten der intransparenten Hinterzimmerpolitik zu treten, der sie die Leitung von Berlins berühmtestem Theater verdankten. Ihr nach zwei Jahren auskömmlich finanzierter Vorbereitungszeit vorgelegtes Programm schien auf einen gravierenden Strukturumbau des stilprägenden Ensembletheaters hinauszulaufen: die Schrumpfung des Ensembles gegen Null und der weitgehende Verzicht auf Eigenproduktionen und Repertoirebetrieb zugunsten von en suite programmierten Gastspielen wurden früh moniert. Die Fragen, wie ein großzügiger Vorbereitungsetat und zusätzliche Lotto-Mittel für die temporäre Spielstätte in Tempelhof in ein derart dünnes Programm münden konnten, sind ungeklärt.

VB 1 u 2 Freitagvormittag an der Volksbühne: Pressevertreter*innen warten auf eine Erklärung nach der Mitarbeiter*innenversammlung © sd

Als dann endlich die Spielzeit begonnen hatte, entpuppte sich die hochtrabend angekündigte Kunstrevolution bald als Avantgarde von gestern. Die Kritiken waren verheerend. Die Zuschauer blieben weg. Das Wort vom "Geisterhaus" macht seither die Runde. Derweil aktivistische Gruppen – von den Volksbühnen-Besetzer*innen vb6112 bis zu regelmäßigen Hate-Kommentator*innen auf Facebook – ihren Protest online wie offline nicht abebben ließen (zahlreiche Premieren wurden von Flugblattaktionen und Widerstands-Szenarien begleitet).

Theater gegen die Stadt

In den Kreisen der Dercon-Sympathisant*innen wird schon länger an der Legende gestrickt, die innovationsfeindlichen verbiesterten Berliner*innen seien Schuld an der Misere. Dabei trägt Dercon selbst ein großes Maß an Mitschuld, woraus er nun die längst nötigen Konsequenzen zog. Oder zu diesen Konsequenzen gedrängt wurde, weil auf die Dauer niemand Theater gegen eine Stadt, Theater gegen das Publikum machen kann.

Lange, zu lange haben die Derconians auf dem Schoß der Stadtpolitik gesessen. Als diese Politik sich nach den Wahlen zum Abgeordnetenhaus änderte, hatten Dercon und sein Team der Stadt gegenüber keine eigene Haltung entwickelt. Kein Gespräch mit der Stadt aufgenommen. Es nicht vermocht, die enormen Affekte, die die Volksbühne in der Stadt zu entfesseln im Stande war, als Startkapital für sich produktiv zu machen.

Das Schweigen des Regierenden Bürgermeisters

Demnächst sitzt Chris Dercon in London als Experte auf einem Podium, um über die Krise des europäischen Theaters zu reden. Aber ist das Theater, wenn es ein Haus wie die Volksbühne schafft, in der Spielzeitpause binnen weniger Wochen über 40.000 Unterschriften zu sammeln, wirklich in der Krise? Ist diese Krise nicht vielmehr von der Politik (sprich, dem damals als Bürgermeister und Kultursenator zuständigen Michael Müller) verursacht oder doch herbeigeredet, die dafür bis heute nicht die Verantwortung übernommen hat.

Im Gegenteil: Müller sah schweigend zu, wie sich die Berliner Kulturszene in Folge seiner Entscheidung zerfleischte. Müller stellte sich nicht schützend vor Chris Dercon, den seine eigene kulturpolitische Inkompetenz in eine so fatale Lage gebracht hatte. Als habe er nichts mehr mit dieser Personalentscheidung zu tun, ließ er Dercons galoppierende Demontage zu. Und die Beschädigung der Künstler*innen, die es überhaupt noch wagten, im immer aggressiver werdenden Klima des Kulturkampfes an der Volksbühne zu arbeiten. Zwischendurch konnte man sogar den Eindruck gewinnen, Müller versuche klammheimlich, auch Linken-Politiker Klaus Lederer, der nach den Wahlen sein Nachfolger als Kultursenator geworden war, über die Affäre stolpern zu lassen. Klaus Lederer hatte lange vor Amtsantritt die Entscheidung seines Vorgängers kritisiert, konnte sie dann aber nicht mehr rückgängig machen.

Unwürdige Schmähungen

Jetzt, wo das Desaster immer unübersehbarer wurde, Dercon und die Volksbühne ebenso unübersehbar beschädigt sind, konnte Lederer den Schlussstrich ziehen. Ihm sei es wichtig zu betonen, "dass die persönlichen Angriffe und Schmähungen aus Teilen der Stadt gegen Chris Dercon in der Vergangenheit inakzeptabel waren", wird Lederer in der Erklärung der Senatsverwaltung zitiert, mit der heute morgen das Ende der Intendanz Dercon amtlich verkündet wurde. "Solche Formen der Auseinandersetzung sind unwürdig und entbehren jeder Kultur." Diese Eskalation der Debatte hätte eine moderierende Kulturpolitik möglicherweise verhindern können.

Am Vormittag hat in der Volksbühne eine Mitarbeiterversammlung stattgefunden, in deren Verlauf die Belegschaft über die Zukunft des Theaters informiert worden ist. Die Leitung des Hauses wurde interimistisch dem designierten Geschäftsführer Klaus Dörr übertragen. Man kann nur hoffen, dass nicht sofort ein neuer Kandidat für die Intendanz aus dem Hut gezogen wird.

 

esther slevogtEsther Slevogt ist Redakteurin, Mitgründerin und Geschäftsführerin von nachtkritik.de. Sie gehört zum Organisations- und Kuratorenteam der Konferenz Theater & Netz von nachtkritik.de und der Heinrich-Böll-Stiftung.

 

Mehr zur Debatte um Chris Dercon: nachtkritik.de-Redakteur Christian Rakow fasst den Stand der Dinge in einem einordnenden Text zusammen (September 2017).

Ein Kommentar von Christian Rakow und Anne Peter zur Rolle der Berliner Kulturpolitik, die sich ihrer Verantwortung in der Causa entzog. (Dezember 2017).

 

Berlins Kultursenator Klaus Lederer zum Rücktritt von Volksbühnen-Intendant Chris Dercon © sd

 

Presseschau

So großzügig Dercon mit fiktiven Einnahmen kalkuliert habe, so üppig habe er Geld ausgegeben, schreiben John Goetz und Peter Laudenbach in einer aufwändigen wie detailreichen Recherche für die Süddeutsche Zeitung (13.4.2018) zum Hintergrund des Desasters. Allein für ein einmaliges Event auf dem Freigelände des Flughafens Tempelhof im September 2017 sei ein Budget von 455 000 Euro eingeplant gewesen, "eine Dimension, die alles an großen Stadt- und Staatstheatern Übliche sprengt". Doch selbst wenn Dercon maßvoller gewesen wäre, wäre er aus Sicht von Goetz und Laudenbach in Schwierigkeiten geraten. "Der Versuch, in der Struktur eines Stadttheaters mit personalintensiven Gewerken im Wesentlichen einen teuren Gastspielbetrieb zu errichten, musste das Budget des Hauses überfordern. Wer ein wenig von Theaterbetriebswirtschaft versteht, konnte sich nur wundern über die fröhliche Annahme, das werde schon irgendwie gut gehen."

"Chris Dercon und seine Programmchefin Marietta Piekenbrock sind nicht unschuldig an dem katastrophalen Zustand der Volksbühne", so Susanne Burkhardt im Deutschlandfunk Kultur (13.4.2018) "Sie haben oft nicht den richtigen Ton getroffen und sie waren – das muss man leider so sagen und das belegen fast alle dort bislang zu sehenden Abende - von der Größe und Dimension des Hauses überfordert. Sie sind nicht Opfer einer bornierten Berliner Kulturszene und von Castorf-Bewunderern, selbst wenn viele Gefechte – auch das ist kritisch anzumerken – unter der Gürtellinie ausgetragen wurden – bis hin zu nicht zu rechtfertigenden persönlichen Angriffen."

"Gescheitert aber ist der Theaterchef Dercon natürlich nicht bloß an den zahlreichen Gehässigkeiten, mit denen man ihm in Berlin begegnete, sondern auch mit dem Programm, das er auf der Bühne bot", schreibt Wolfgang Höbel auf Spiegel Online (13.4.2018). Vor allem aber sei er an der Berliner Politik gescheitert: "Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), der für Dercons Berufung an oberster Stelle verantwortlich war und ihn 2015 stolz gemeinsam mit seinem damaligen Kulturstaatssekretär Tim Renner präsentierte, hat dem Belgier dann in der praktischen Arbeit so gut wie keine Unterstützung mehr zukommen lassen."

"Berlin und Chris Dercon – das war doch eigentlich die perfekte Kombination", resümiert Rainer Traube bei der Deutschen Welle (13.4.2018) den Fall. "Hier die Hauptstadt, die sich gerne als Kreativ-Labor feiert. Dort der gut vernetzte Kulturmanager, der am New Yorker MoMA genauso zu Hause war wie am Pariser Centre Georges Pompidou oder zuletzt erfolgreich als Chef der Tate Modern in London. Und doch wurde Dercons Berufung an die Spitze der Berliner Volksbühne zu einem Debakel. Es ist hinterher immer einfach zu rufen: Das war absehbar! Doch der Fall Dercon liest sich wie eine Folge fataler Irrtümer."

"Nun sieht es aus, als sei alles bloß ein großes Missverständnis gewesen. Viel Lärm, aber eben nicht: um nichts", kommentiert Dirk Peitz auf Zeit-Online (13.4.2018). "Das Theater, gerade auch das deutsche Sprechtheater, kann neue Impulse, neue Ideen, neue Ästhetiken ja immer gebrauchen. Chris Dercon geht, ohne das Versprechen, das man in ihm durchaus sehen konnte, auch nur ansatzweise erfüllt zu haben. Dass das Experiment mit ihm gescheitert ist, mag die Leute freuen, die ohnehin von Anfang an wussten, dass Dercon der falsche Mann am falschen Platz sein würde. Doch geholfen ist damit niemandem."

Die "Anarchie von Castorfs Regiekunst" war in Berlin "ein Suchtmittel geworden", Castorfs "Absetzung glich einem Affront", blickt Ronald Pohl im Standard (13.4.2018) zurück. "Demgegenüber wurden Dercons primäre Eigenschaften und sekundäre Tugenden allesamt zu Fehlern und Schwächen erklärt", etwa seine "Weltbürgerlichkeit" und sein "dringender Impuls, Gattungsgrenzen zu missachten und in ein Haus wie die Volksbühne auch Tanz, Kunst und Performance hineinzupacken". Dercon wurde zum "Gottseibeiuns der Globalisierungsgegner".

Mit Dercons Rücktritt "fällt erneut der eiserne Vorhang zwischen Kunst und Theater", kommentiert Elke Buhr für das Kunstmagazin Monopol (13.4.2018). Dercon habe "Fehler gemacht. Er hat es unterschätzt, was es bedeutet, Castorfs Erbe anzutreten. Er hat sich nicht die richtigen Leute ins Haus geholt, die als Dramaturgen den Bereich des Sprechtheaters im Hause innovativ und qualitativ hochwertig organisieren können. Er hat auch im Umgang mit seinen Kritikern nicht immer geschickt agiert". Aber vor allem sei Dercon "Opfer einer beispiellosen Hasskampagne geworden", so Buhr. "Gegen eine Theaterszene, die ihn boykottiert, gegen eine Bande von Trollen, die ihn fertig machen will, konnte keine kreative Arbeit gelingen und auch kein Programm."

"Die Behauptung, Chris Dercon sei in Berlin feindselig empfangen worden, ist eine achtlose Untertreibung", kommentiert Dominique Eigenmann im Tages-Anzeiger (13.4.2018). Im Zuge der Debatte sei die Volksbühne "zum Hort des Widerstands des alten, rebellischen, linken Ostberlins stilisiert" worden, "das sich gegen die neue, hippe, hyperkapitalistische Hauptstadt rabiat und mit Erfolg zur Wehr setzt. Dercon, der kosmopolitische Geist, der das Theater zu den anderen Künsten hin öffnen wollte, wurde entsprechend vor allem als angeblicher Kommerzialisierer und Eventisierer geschmäht – als Klassenfeind also, nicht als Künstler (der er nie war)".

Positiv an Dercons "Projekt Volksbühne konnte man sehen, oder sehe ich, dass er mehr Frauen an das bis dahin von Männern dominierte Haus holte", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (13.4.2018). Positiv sei auch gewesen, dass "eine Art Tanz, die nach sinnlichen Reflektionsformen für gesellschaftliche Veränderungen sucht, eine große Bühne in der Stadt erhielt. Positiv war, dass sich mehrere Projekte für eine Beteiligung anderer Kunstszenen der Stadt öffneten". Negativ sieht die Kritikerin, dass die Dercon-Verantwortlichen dafür kein "Ensemble brauchten, kein attraktives Rollenangebot für SchauspielerInnen hatten." Dass sich der politisch vorgegebene Ensembletheater-Auftrag "nicht mit den Konzepten vertrug, wurde nicht offen zugegeben. Das war ein großer Fehler, der auch renommierte Theaterleute gegen Dercon aufbrachte".

Die In­ten­danz Dercon er­scheint Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.4.2018) im Rück­blick wie die Chro­nik ei­nes ein­zig­ar­ti­gen Miss­er­folgs. Die dafür eigentlich Schul­di­gen sind aus Sicht dieses Kritikers "ah­nungs­lo­se Kul­tur­po­li­ti­ker, die, ge­trie­ben von ei­ner un­spe­zi­fi­schen Gier nach Pro­gres­si­vi­tät, mei­nen, dass 'Cross­over' an sich mitt­ler­wei­le ein so ho­her kul­tu­rel­ler Wert wä­re, dass man da­mit auch die un­wahr­schein­lichs­ten Per­so­nal­ent­schei­dun­gen recht­fer­ti­gen könn­te. Die De­bat­te, die Zü­ge ei­nes Kul­tur­kamp­fes an­nahm und Cas­torf un­ver­hofft als thea­ter­be­wah­ren­den Tra­di­tio­na­lis­ten adel­te, zeig­te je­den­falls, dass das von selbst­er­nann­ten Avant­gar­dis­ten oft­mals tot­ge­sag­te Sprech- und En­sem­ble­thea­ter durch­aus noch ge­nug Le­bens­kräf­te be­sitzt, um sich ge­gen Fremd­be­stim­mung zu weh­ren."

"Was immer der frühere Kulturstaatssekretär Tim Renner (SPD) bei der Berufung Chris Dercons im Sinn gehabt haben mag, erwies sich als schwerer Kulturbruch, der weder im Umfeld der Volksbühne noch beim interessierten Publikum zu vermitteln war", kommentiert Harry Nutt, Feuilletonchef der Berliner Zeitung (14.4.2018) die Causa. Auch die Liste der kulturpolitischen Fehler und Stillosigkeiten ist aus Nutts Sicht lang. Zur Bilanz des Fiaskos gehört für Nutt auch die Erkenntnis, "dass der vergleichsweise einfache Vorgang eines Personalwechsels nicht möglich war. Es ist ein administratives Scheitern, das einmal mehr belegt, dass es zur Durchsetzung politischer Entscheidungen nicht nur eines erklärten Gestaltungswillens bedarf, sondern auch kluger Vorbereitung und der Gunst des Augenblicks." Wer sich jedoch nun in seiner Annahme bestätigt sehe, Dercon sei nicht der Richtige gewesen, dem hält Nutt entgegen, "dass die trotzige Verteidigung der alten Volksbühne auch ein Verharren im Provinziellen bedeutete".

"Die Lady Macbeth/Estragon wäre mit Marietta Piekenbrock besetzt, der Programmdirektorin, die noch vor wenigen Tagen im Interview mit dem Deutschlandfunk von ausverkauften Vorstellungen fantasierte, während das Haus meistens höchstens halbvoll ist", so Jan Küveler in der Welt (14.4.2018) über das dramatische Abgangsszenario (14.4.2018), dass er zwischen Macbeth und Beckett ansiedelt. "In der Rolle der Hexen beziehungsweise Luckys und Pozzos: Tim Renner, Ex-Kultursenator, der Dercon den Mord an König Castorf erst einflüsterte, assistiert vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller. 'Wann kommen wir drei uns wieder entgegen?', fragen die Hexen einander im berühmtesten Vers des Dramas. "Im Blitz und Donner, oder im Regen?“ In diesem Fall lautet die Antwort: in der Traufe."

"Das Theater ist ein weiterer Ort der allgemein ausgeweiteten Kulturkampfzone geworden," findet Georg Diez auf Spiegel-Online (14.4.2018). "Während also Chris Dercon eine mehr oder weniger schlaue Öffnung und Besichtigung des Archivs der Gesten und Gedanken vorschlug, als ästhetische Haltung, um die Engpässe der Dekonstruktion zu verlassen, findet eine sehr viel aggressivere und regressivere Historisierung statt, in Berlin und anderswo, allerdings eben ohne den rabiaten Widerstand, der Dercon entgegenschlug. Das Stadtschloss etwa, als Höhe- und Tiefpunkt dieser restaurativen Kulturpolitik, wird irgendwie abgenickt oder wenigstens hingenommen, verbunden mit der intellektuellen Riesenpleite, die sich am Humboldt-Forum abzeichnet: Die Geschichte der Nation mit sanften Brüchen, als Geschichte, gerettet, nicht gerichtet. Gegen all das stand Frank Castorf, gegen all das stand Chris Dercon. Seine Niederlage ist damit die Niederlage von allen, die im Theater mehr sehen als nur ein Spiel."

"Chris Dercon hatte in den letzten drei Jahren zahllose Anlässe, in Würde hinzuschmeißen", schreibt Susanne Messmer in der taz (14.5.2018). "So gesehen ist es fast erstaunlich, dass es erst jetzt, in der ersten Spielzeit, passiert ist. Er ist das Opfer einer Schnapsidee. Diese Episode der Berliner Theaterlandschaft ist jetzt zu Ende und schafft Platz für einen Neuanfang. Den darf nun Klaus Lederer gestalten und er wird zeigen müssen, dass Berliner Kulturpolitik auch anders geht."

"Wie kriegt man diese Riesenbude bespielt?" fragt Ulrich Seidler, der Theaterredakteur der Berliner Zeitung (14.4.2018). "Wer hat den nötigen Schwung, die Idee, die Leidensbereitschaft? Wer vermag die Tradition des Hauses als Antrieb und als Reibungsfläche zu nutzen? Wer hat Verwendung für diese wie aus der Zeit gefallenen Werkstätten und ihre Mitarbeiter?" Dieses irgendwie zu große Haus mit dieser stolzen und sperrigen Tradition in dieser irgendwie noch nicht ganz glattgelutschten Stadt nur als ein Niedergangsymbol des Neoliberalismus oder als Castorf-Mausoleum zu sehen, findet Seidler nicht angebracht. "Es ist ein herrliches, sonderbares, auf den ersten Blick verwendungsunfähiges Spielzeug in den Händen einer streitfreudigen und chaosresistenten Stadt."

"Die Berliner Kulturpolitik steuerte sehenden Auges in die Misere, die man erst selber angezettelt hatte und später sogar dem Betroffenen, Dercon, in die Schuhe zu schieben wagte", kommentiert Daniele Muscionico für die Neuen Zürcher Zeitung (14.4.2018). "Die Verantwortung für den fehlenden Rückhalt in der Bevölkerung sowie das Scheitern des künstlerischen Spielplans, der bei der Wahl immerhin als Ankündigung bekannt war, will man bis heute nicht übernehmen."

Einerseits habe Chris Dercon im Feld der mannigfaltigen und auch ideologischen Kritik, die sich nach Frank Castorfs Abschied auf ihn richtete, "keine Chance" gehabt, "andererseits hat auch er Fehler gemacht: Er ist bestimmt zu spät auf die Berliner Szene zugegangen. Er hat sich arrogant verhalten und konnte dann, als seine erste Spielzeit letzten September losging, nicht mit einem Programm auftrumpfen, dass (sic!) Kritiker und Publikum von seiner Vision überzeugt hätte", sagt Dagmar Walser im Schweizer Rundfunk SRF (14.4.2018). Kritik gibt's an Berlins Kulturpolitik: "Bei allen Fehlern und allem Unvermögen von Chris Dercon, ohne kulturpolitischen Rückhalt ist es nicht möglich ein Haus wie die Volksbühne, die so emotionsbeladen und so legendenanfällig ist, ein neues Profil zu geben."

"Als der Regierende Bürgermeister Michael Müller und sein Staatssekretär Tim Renner 2015 Dercon holten, beflügelt von einer Hybris der Internationalität, unterschätzten sie freilich total, welch Symbol die Volksbühne für das unangepasste, und widerständige Berlin ist", kommentiert Gerd Nowakowski im Tagesspiegel (15.4.2018). "Wer aber traut sich nun noch hierher nach so viel verbrannter Erde?", befragt der Journalist die Kulturmetropole Berlin und seufzt: "Nur gut, dass die Nachfolge des Berlinale-Chefs und die Besetzung der Intendanz des Humboldt-Forums nicht vom Senat entschieden werden, sondern von Monika Grütters (CDU), der heimlichen Kultursenatorin im Kanzleramt."

Für die Berliner Zeitung (15.4.2018) kommentiert Ulrich Seidler das Medien-Echo auf den Dercon-Rücktritt. Die SZ-Recherchen von Goetz/Laudenbach (siehe oben) ließen erkennen, dass Dercons "Umstrukturierung" der Volksbühne mit Einverständnis der SPD-Regierung 2015 passierte. "Auch wenn so eine Umstrukturierung ein immenses Risiko ist und einen bis dahin funktionierenden Theaterbetrieb mit Ensemble, Gewerken und Werkstätten zur Disposition gestellt hätte, es war nicht die Idee selbst, die dem Projekt das Genick gebrochen hat, auch nicht der Mangel an Expertise und Erfahrung, die mit richtiger Beratung zu kompensieren gewesen wäre, und auch nicht der berechtigte Widerstand der konkurrierenden Kulturanbieter in der Stadt. Der Grundfehler war, dieses Vorhaben ohne Debatte und ohne die Öffentlichkeit abwickeln zu wollen." Die "viel kritisierten Schwurbeleien Dercons" ließen "sich nicht vermeiden, wenn man seine wirklichen Pläne nicht benennen will. Die schlechte Stimmung und die als ungerecht empfundene Kritik, die jetzt immer wieder als Grund für Dercons Scheitern mitverantwortlich gemacht werden, haben ihre Ursache in dieser Verschleierung."

"Die Fakten hinter dem Fiasko" rekapituliert ein*e Mitarbeiter*in mit dem Namenskürzel "wurm" im Standard (16.4.2018). Besonders auffällig: "Der (seit letzter Woche Ex-)Intendant des traditionsreichen Berliner Theaterhauses schweigt. Dafür melden sich Investigativteams und Beteiligte zu Wort. - derstandard.at/2000078038016/Volksbuehne-es-geht-jetzt-darum-dieses-Theater-zu-retteDer (seit letzter Woche Ex-)Intendant des traditionsreichen Berliner Theaterhauses schweigt. Dafür melden sich Investigativteams und Beteiligte zu Wort.

Am Montag nach Dercons Ausscheidung tagte der Kulturausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses – und Thema der Sitzung sei, nach einer Änderung der Tagesordnung, die Volksbühne gewesen, berichtet Udo Badelt im Tagesspiegel (16.4.2018). Kultursenator Klaus Lederer habe weit ausgeholt und erzählte "von Indizien, die sich seit November gehäuft hätten, Indizien dafür, dass Dercons Konzept einer Mischung der Sparten mit teuren Koproduktionen und Gastspielen nicht aufgehe, dass sich bei mangelndem Publikumszuspruch ein strukturelles Problem zuspitzt". Badelt zitiert Lederer: "Von Dercon kamen keinerlei Ansätze oder Ideen, wo es hingehen könnte". Das sei ausschlaggebend gewesen für die Beendigung der Intendanz, "nicht allein die Finanzlage". Dem Vorwurf, das Scheitern der Intendanz Dercons aktiv mitbetrieben zu haben, habe Lederer mit den Worten widersprochen: "Das weise ich zurück. Alle Zusagen, die ich von meinem Vorgänger übergeben bekommen habe, habe ich erfüllt." Vor inhaltlicher Kritik am Konzept habe er Dercon jedoch nicht schützen können und wollen, derartige Kritik müsse in einer Demokratie möglich sein. Was die Nachfolge betreffe, laute die Formel im Kulturausschuss weitgehend einvernehmlich: "sich Zeit nehmen, um ein tragfähiges Konzept zu entwickeln", so Badelt. "Damit nicht wieder in einer Hauruckaktion wie unter Kulturstaatssekretär Tim Renner und Kultursenator Michael Müller – der sich seit Tagen über die Causa ausschweigt – ohne echte fachliche Expertise der letztlich falsche Mann geholt wird."

Auch das rbb Inforadio berichtet über die Ausschussitzung (16.4.2018). Kultursenator Klaus Lederer zufolge gehe es vor allem darum, die Volksbühne wieder arbeitsfähig zu machen, so Kirsten Buchmann: "Die Mitarbeiter sind jetzt das Pfund, die Basis dafür, dass die Volksbühne wieder anfangen kann", so Lederer laut rbb. Berichte, die Bühne stehe kurz vor dem Ruin, habe Lederer zurückgewiesen, aber zugleich nicht ausgeschlossen, dass zusätzliche öffentliche Mittel für eine Konsolidierung nötig sein könnten. Bekannt habe sich der Kultursenator zu einem Repertoire- und Ensembletheater. Über Dercons Auflösungsvertrag werde Lederer zufolge noch verhandelt.

In der ARD-Kultursendung ttt – titel, thesen, temperamente (15.4.2018) vom Sonntagabend äußert sich nun endlich der ehemalige Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner, der die Entscheidung für Chris Dercon mitverantwortete. In ttt, die über die zwei-monatigen Recherchen von NDR, rrb und Süddeutsche Zeitung berichten, sagt Renner: "Es ist schon Vieles am Anfang schief gegangen. Das, was ich mir vorwerfen muss, ist, dass wir nicht in dem Moment, wo wir wussten, ein René Pollesch wird nicht mitmachen, das Konzept hinterfragt haben. Was ich dem Kultursenator vorwerfe ist, dass man nicht dafür gekämpft hat, Mittel für Tempelhof im Haushalt zu etatisieren." Heißt, die Berliner Politik bestellte bei Dercon ein Konzept, das sie nicht bezahlen konnte. "Dercon will einen Millionenbetrag bei Sponsoren auftreiben", rekapituliert die Sendung. Der bekanntermaßen nie kam. Herbert Fritsch, der sich in dem Beitrag klar äußert, mutmaßt, dass die Politiker dachten, "Dercon habe das dicke Adressbuch, da stehen die Miliardäre drin, die alle nach Berlin kommen". Ob die verantwortlichen Politiker überhaupt die Dimension ihres Scheiterns erfassen, wird rhetorisch gefragt. In der Sendung wird auch von einer Email aus Jahr 2015 berichtet, in der steht, dass das Theater in eine "Projektgesellschaft" verwandelt werden soll, Beleg dafür, dass die Abschaffung eines Ensembletheaters doch früh feststand.

"Sein Reich blüht, die Stadt hat all ihre Zusagen eingehalten, sie hat ihn nicht öffentlich demontiert, die Sponsoren sind nicht abgesprungen … Überall herrscht eine entspannte Stimmung", imaginiert Robin Detje auf Zeit Online (16.4.2018) einen Champagnertraum vom "kleine(n) Sonnenkönigreich" des Intendanten Dercon. Aufgewacht, scheint Detje die im "Berliner Kampfgetümmel" allfällig geäußerte "atavistische Vorstellung, Kultur sei eine Art Krieg" als "schwachsinnig". Erschaffen würde diese Vorstellung lediglich "Kriegerdenkmäler, und das mag es auch sein, was Castorf in der Volksbühne sieht: sein privates Reiterstandbild auf dem Feldherrenhügel". "Nervenzerfetzend" sei "der Druck durch die Dauerbelagerung der Hater" gewesen, kolportiert Detje aus "dem Innersten" der Volksbühne: Dercon als Chef sei "sehr toll gewesen. … Ein Denkmal der Gelassenheit, des Friedens und der Höflichkeit." Da er das Repertoiretheater hinterfragt habe, sei er zum "Systemfeind" geworden, "also war er auch Volksfeind, denn das System dient dem Volk und schützt es vor einer Kuratorenkunst" behauptet Detje seine These vom "neuen Hang zur Ehrerbietung gegenüber verdienten alten Männern und 'gewachsenen Strukturen'".

"Dercon kam, und es gelang ihm nichts", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (19.4.2018), wo er durchaus Sympathien für Dercon durchblitzen lässt und seine freundliche Art, ein Haus zu leiten. Die Volksbühne habe sich in der Dercon-Zeit immer im Zustand der Abwicklung befunden. Das größte Problem sei das fehlende Interesse am Aufbau eines Ensembles gewesen. "Wäre Dercon in der Lage gewesen, mit ästhetischen Mitteln Contra zu geben, hätte er versucht, ein Ensemble aufzubauen, dann wäre die Stimmung möglicherweise gekippt – in seine Richtung. Denn der Zorn der Dercon-Gegner ging vielen in der Stadt allmählich auf die Nerven, er setzte sich wie Schmutz in den Poren ab." Und jetzt? "Die Volksbühne ist, wie man so sagt, bis in die Grundfesten erschüttert. Wer weiß, vielleicht ist das eine Chance."

"Auch wenn es theaterfernen Beobachtern übertrieben erscheinen mag, dass die Süddeutsche Zeitung letzten Freitag in einer doppelseitigen "Dercon-Chronik" geradezu minuziös und teilweise anhand internen Mail-Verkehrs nachzeichnete, wie es zur Besetzung von Chris Dercon als Nachfolger von Frank Castorf gekommen war und wer wann welche programmatischen Erwartungen geäußert oder zurückgewiesen hat," schreibt Petra Kohse in der Berliner Zeitung (23.4.2018), stecke in diesem Fall kulturpolitisches Dynamit, "das dem damals verantwortlichen Politiker schlaflose Nächte bereiten müsste, um es vorsichtig auszudrücken". Aber bislang habe sich Michael Müller, der als Regierender Bürgermeister von Berlin von 2014-2016 auch Kultursenator war, dazu nicht positioniert. "Will man auf diese Weise regiert werden?" fragt Kohse auch. "Mit der Zukunft der Volksbühne entscheidet sich auch die kulturpolitische Satisfaktionsfähigkeit Berlins."

(sle / chr / sik / eph)

 

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